E-Book, Deutsch, 216 Seiten
Rudolf / Hölscher Flucht und Vertreibung in den Alsfelder Raum
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-8192-1859-0
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Erinnerungen bewegen noch immer
E-Book, Deutsch, 216 Seiten
ISBN: 978-3-8192-1859-0
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
"Flucht und Vertreibung" lautete der Titel des Schulprojekts des Albert-Schweitzer-Gymnasiums in Alsfeld unter Leitung des Oberstudienrats Michael Rudolf, das im Zeitraum von 2021 bis 2025 stattfand. Zahlreiche Zeitzeuginnen und Zeitzeugen aus Alsfeld und Umgebung wurden von den Schülerinnen und Schülern interviewt. Mit den Hintergrundberichten ist so ein Buch entstanden, das die traumatischen Erlebnisse der geflüchteten und vertriebenen Menschen gegen Ende und nach dem Zweiten Weltkrieg schildert, so dass ihre Geschichten nicht in Vergessenheit geraten und an nachfolgende Generationen weitergegeben werden können. Mit diesem Buch wird ein "weißer Fleck" in der Geschichte Alsfelds gefüllt.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Flucht und Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg – ein Projekt
Impulsvortrag von Markus Harzer in Alsfeld am 26.04.2023
Das Thema „Flucht und Vertreibung“ ist ein schwieriges. Bis heute noch kann es heftigst polarisieren. Dabei ist mittlerweile das eigentliche Problem ein ganz anderes geworden. In den 50ern und 60ern des vorigen Jahrhunderts musste man sich um das Thema nicht kümmern: Es war allgegenwärtig. In den 70ern und 80ern wollte man sich darum nicht kümmern: Es war lästig. Und seit den 90ern und der leidigen Debatte um die Spätaussiedler aus Russland wird es zumindest in Ansätzen aufgegriffen, zum Beispiel wie hier in Alsfeld im Rahmen eines größeren Projektes. Rein theoretisch wird es sogar im Geschichtsunterricht behandelt – rein theoretisch. Ob es wirklich behandelt wird, hängt davon ab, ob es Lehrerinnen und Lehrer gibt, die überhaupt erst einmal Ahnung von der Thematik haben. Da hilft auch nicht, dass das Kultusministerium gebetsmühlenartig verkündet, das Thema sei sogar relevant für das Abitur. Das ist es nicht. Es handelt sich um ein fakultatives Thema. Aber viel wichtiger ist es, „Flucht und Vertreibung“, was durch Deportation ergänzt werden muss, überhaupt wieder flächendeckend in die Erinnerungskultur aufzunehmen, handelt es sich doch dabei um ein traumatisches Erlebnis, das mittlerweile sogar in der Epigenetik angekommen ist. In der Schule gehört es also primär in die neunte oder zehnte Klasse. Und zu diesem Zweck können immer noch Zeitzeugen eingeladen werden. Die Arbeit mit Zeitzeugen – das ist ohnehin das Gebot der Stunde. Denn sie drohen uns auszugehen. Aber genau darum sind wir heute hier: ein Portal zu öffnen, zu dem Michael Rudolf und Dr. Monika Hölscher einen Schlüssel gefunden haben. Lassen Sie uns diese Tür weit aufschlagen. Dabei möchte ich mich auf einige übergeordnete Aspekte konzentrieren. Denn was ich aus zweiter Hand berichten kann, das könnte ich nie so schildern wie die Herrschaften hier. Ihnen soll deshalb auch sehr schnell das Wort erteilt werden.
Wir wollen jetzt 80 Jahre Geschichte ganz einfach mal zurückdrehen, auf Anfang setzen. Das ist es, was vereinfacht nach dem Zweiten Weltkrieg in Ostmitteleuropa geschehen ist. Über die Vorgeschichte zu reden, bleibt heute Abend allerdings keine Zeit. Gerne ein andermal.
Im Zuge des Vormarsches der Roten Armee flohen seit Ende 1944 Hunderttausende vor den befürchteten Repressalien. Die Rote Armee hatte Ende Oktober 1944 im ostpreußischen Nemmersdorf ein grausames Beispiel geliefert. Das Bild prägte sich ein, das die Wehrmacht bei der kurzzeitigen Rückeroberung vorgefunden hatte. In der Sowjetunion hatte sich eine Stimmung voller Hass entwickelt – Ergebnis der Tatsache, dass der Krieg, den das sogenannte Dritte Reich, die Nazis, seit dem 22.06.1941 gegen die Sowjetunion führte, kein normaler Krieg mehr war, sondern ein Weltanschauungskrieg, der sowohl gegen die Kommunisten geführt wurde als auch für die von Hitler propagierte Gewinnung von Lebensraum im Osten. Besonders die SS, aber auch sadistische Einsatzgruppen wie die Division Brandenburg sorgten in der Etappe für Angst und Schrecken.
Dieser Krieg schlug jetzt zurück. Und wie immer traf es vor allem die Unschuldigen.
Die Flucht nach Westen wurde zu einem Ereignis, das sich in das kollektive Gedächtnis der Deutschen einbrannte – es sind die Bilder der Trecks auf dem zugefrorenen Frischen Haff bei Danzig, der bei der Einschiffung zurückgelassenen Hunderten, ja Tausenden von Karren und Kinderwagen und die wohl größte Schiffskatastrophe aller Zeiten, die Versenkung der Wilhelm Gustloff in der Ostsee.
Als im Mai 1945 die Wehrmacht kapituliert hatte und die Stunde Null begann, da glaubten die Flüchtlinge, nun sei wirklich Frieden und sie könnten in die Heimat zurück. Ein Irrtum, wie sich herausstellte. Denn schon längst war es von den Siegermächten beschlossene Sache: Der Osten des Deutschen Reiches würde bis zur Oder-Neiße-Linie von Polen und der Sowjetunion annektiert und die Deutschen von dort nach Westen vertrieben. Die russische Enklave Kaliningrad, vormals das nördliche Ostpreußen, ist Ergebnis dieser Entscheidung. Selbst Überlebenden aus den KZs verweigerte man die Rückkehr.
Diese Beschlüsse waren schon 1944 im Wesentlichen von der Sowjetunion, den USA und dem Vereinigten Königreich getroffen worden. In Jalta kamen die drei Staatschefs Stalin, Roosevelt und Churchill zusammen und legten die Details fest, die in Potsdam Anfang August bestätigt wurden, darunter neben der Einteilung des Deutschen Reiches und Österreichs in Besatzungszonen eben auch die „humane und geordnete Aussiedlung“ der Deutschen aus den Ostgebieten.
Direkt nach Kriegsende aber wurden bereits Entscheidungen getroffen, die zu grausamen Exzessen führten: In Polen, aber noch schlimmer in der heutigen Tschechischen Republik hatten die neuen, von der Roten Armee geduldeten Regierungen damit begonnen, die Deutschen zu verjagen.
Beispiel Tschechoslowakei: Staatliche Stellen, die narodny vybor organisierten auf ausdrücklichen Befehl des aus dem englischen Exil zurückgekehrten Präsidenten Eduard Benesch die „Übernahme der Grenzgebiete“, wie sie es sagten. Praktisch wurden in der Regel von Prag und vom inneren Tschechien aus Interessierte in diese Gebiete geschickt, und diese übernahmen gezielt Häuser und Fabriken. Wer von Raub sprechen will, hat recht. Die Grundlage dafür bilden einige Dekrete, die als die Benesch-Dekrete bekannt geworden sind. Kurz gesagt, Deutsche und Ungarn wurden rechtliches Freiwild. Abertausende Deutsche und Ungarn wurden gewaltsam vertrieben oder ermordet. Das Massaker bei Postelberg und der Todesmarsch von Brünn sind unrühmliche Höhepunkte. Volkszorn wurde das genannt. Allerdings wissen wir, dass es im Wesentlichen Abenteurer aus Innertschechien waren, und nicht selten solche, die zuvor eng mit den Nazis zusammengearbeitet hatten, die sich durch ihre besondere Deutschenfeindlichkeit gefühlt reinwaschen wollten. Die tschechische Nachkriegsliteratur und die Wissenschaft versuchten das bis in die achtziger Jahre hinein zu beschönigen. Die Krönung dieses völkerrechtswidrigen Vorgehens war das Straffreiheitsgesetz von 1946, das selbst Mord in dieser Zeit straffrei stellte. Die Dekrete und das Gesetz sind juristisch heute noch gültig.
Wir müssen jetzt zunächst einige Begrifflichkeiten klären: Was ist Flucht, was Vertreibung, was Deportation? Die Unterschiede sind groß! Wir reden bei unserem Thema grundsätzlich von der größten jemals staatlich organisierten Völkerwanderung, einer Vertreibung.
In der Menschheitsgeschichte gab es schon immer „Migration“. Dieser Modebegriff wird heutzutage für alles Mögliche verwendet, verschleiert allerdings die wirklichen Hintergründe und Zusammenhänge. Wir tun den Heimatvertriebenen keinen Gefallen, wenn wir sie in diesen großen Topf werfen.
Flucht und Deportation sind schon uralt. Vertreibung ist – zumindest in dieser Größenordnung – ein neues Phänomen.
Flucht kann ruhig oder dramatisch vor sich gehen. Immer ist Flucht eine Reaktion auf äußere Umstände. Das ist häufig Krieg. Aber auch gesellschaftliche oder natürliche Ursachen dürfen genannt werden. Es handelt sich aber in jedem Fall um eine aktive Entscheidung. Die Flüchtenden kommen letztlich selbst zu ebendiesem Entschluss: Flucht.
Der Wirtschaftsflüchtling aus dem Alsfeld des 19. Jahrhunderts beispielsweise floh vor Hunger nach Amerika. Der Demokrat aus der 48-Revolution floh vor der politischen Verfolgung, beispielsweise der spätere US-amerikanische Innenminister Carl Schurz. Heutzutage wäre er der perfekte Asylbewerber. Und schon vor 10000 Jahren flohen die ersten Siedler aus der nordafrikanischen Ténéré, weil die Sahara auszutrocknen begann und die ernährenden Seen verschwanden. Wenn möglich, werden die Geflohenen vielleicht zurückkehren. Das war auch 1944 auf der Flucht vor der Roten Armee zunächst der Fall. Auch viele politische Exilanten kehrten nach dem Krieg aus Amerika oder England nach Deutschland zurück. Andere hatten stattdessen seitdem den berühmten Onkel aus Amerika.
Für die Bundesrepublik Deutschland eine Lehre: Politisch Verfolgte genießen heute bei uns selbstverständlich Recht auf Asyl. Kriegsflüchtlinge heute genießen im Prinzip weltweit humanitären Schutz auf der Grundlage der Genfer Konvention.
Deportation bedeutet den Verlust der Heimat, allerdings bleiben diese Menschen in der Gewalt derer, die dieses Herausreißen aus der Heimat organisiert haben. Was so scheinbar kompliziert klingt, können Sie in der Bibel nachvollziehen. Die gnadenlosen Meister der Deportation waren vor fast 3000 Jahren die Assyrer. Indem sie einen großen Teil der Bevölkerung des 722 mit der Hauptstadt Samaria eroberten Reiches Israel in Richtung Assyrien deportierten und stattdessen andere Menschen ansiedelten, schufen sie die Samariter, von denen der „barmherzige“ bis heute bekannt ist. Die Babylonische Gefangenschaft der Juden, 150 Jahre später, betraf immerhin die Elite des zerstörten Staates Juda, die Jahrzehnte später zurückkehren konnten. Ein besonderer Fall...