Im literarischen Werk von Jaroslav Rudiš ist der Nebel ein durchgehendes Motiv: Durch die Nebel der Geschichte werden die Nebel des Krieges erahnbar, die Nebel der Melancholie führen vom Alltäglichen aus nahe an die Figuren des Autors heran. Für Rudiš steht der Nebel zugleich als Metapher für die verdrängten, verlorenen und vergessenen Seiten Mitteleuropas wie auch für die Geschichten, die man diesem Nebel abgewinnen und erzählen kann, ja sollte, sobald sich der Nebel kurz lichtet. Das lohnt sich. Denn wenn man das Wort Nebel rückwärts liest, taucht ein anderes deutsches Wort auf – das Leben.Der Schriftsteller Jaroslav Rudiš nimmt uns mit auf eine lange Fahrt durch diese Nebelschwaden. Entstanden ist eine sehr persönliche literarische Reise, in der es um Betrachtungen des Lebens, der Überfahrt und des Todes – und über das Schreiben darüber – geht. Anhand einer faktischen Reise, die in Lomnice nad Popelkou, Turnov und Jicín im Böhmischen Paradies anfängt, an den Orten also, wo Rudiš aufwuchs und wohin er in seinem Werk immer wieder zurückkehrt, obwohl er heute vorwiegend in Berlin lebt und lange schon nicht mehr nur auf Tschechisch, sondern auch auf Deutsch schreibt.Lesend folgen wir Rudiš auf ein Bier in eines seiner Lieblingslokale oder den Speisewagen, wo er sich oft Anregungen aus den Schwaden der Gespräche holt. Oder er nimmt uns mit ins Dampfbad, wo er im Dunst vielen seiner Figuren begegnet ist. Er bringt uns nach Liberec, nach Reichenberg, er zeigt uns die erste Feuerhalle der ehemaligen Monarchie, die hier 1917 gebaut wurde. Er bringt uns in ein altes Grandhotel und verliert sich mit uns im Nebel des Krieges auf dem Schlachtfeld bei Königgrätz von 1866, das eine zentrale Rolle in seinem Roman Winterbergs letzte Reise spielt. Mit dem alten Winterberg geht es in der Eisenbahn durch die ehemalige Monarchie und mit Alois Nebel in das vergessene nebelige Altvatergebirge. Und immer wieder verknüpfen sich die narrativen, historischen und persönlichen Fäden seiner Literatur im Unterwegssein mit dem Zug. Denn eines steht für Rudiš fest: Es sind die Eisenbahnschienen, die das Europa unserer Erzählungen zusammenhalten. Auch im dichtesten Nebel der Gegenwart.
Rudis / Rudiš
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Es ist schon spät am Abend und ich schaue aus dem Fenster. Es beruhigt mich, dass ich den Bahnhof und die Züge sehe. Ein großer Turm mit einer riesigen, ein wenig strengen Uhr ragt im leichten Nebel über der Bahnhofshalle empor, so groß und mächtig, wie man es nur von den größten Bahnstationen in Europa kennt, vom Bahnhof St. Pancras in London oder von der Gare de Lyon in Paris. Ich mag die Bahnhofsuhren, die unsere Zeit vermessen. Ich mag alte Bahnhöfe, egal ob klein oder groß. Und ich mag Kneipen und Cafés und Hotels, am liebsten mit Bahnblick. Und vor allem mag ich Züge. Züge erzählen mir Geschichten. Auch eine gemeinsame Geschichte, eine große europäische Erzählung. Überall wo ich Züge sehe, überall in Europa, wo es einen Bahnhof und einen Bahnanschluss gibt, fühle ich mich zu Hause. Diesen Gedanken lieh ich mir von einem anderen Schweizer Freund aus. Arthur stammt aus Lenzburg und lebt als pensionierter Journalist und leidenschaftlicher Eisenbahnmensch schon lange in Wien. Er wuchs am Bahnhof auf. Und überall, wo er Schienen sieht, erzählte er mir mal im Zug über den Semmering, sieht er auch den Bahnhof von Lenzburg.Es sind die Eisenbahnschienen, die alles und alle in Europa verbinden und zusammenhalten. Überall kann ich einsteigen, weiterfahren und durch Europa reisen. Oder auch tatsächlich nach Hause fahren. Nach Berlin, wo ich aktuell lebe. Nach Lomnice nad Popelkou, wo ich herkomme. Nach Prag. Oder auch nach Liberec in Böhmen, in das alte deutschsprachige Reichenberg, das erstaunlich viele Ähnlichkeiten mit St. Gallen hat und wohin ich auch immer wieder zurückkehre. Es sind aber auch Geschichten, in die man einsteigen kann und die uns verbinden. Die guten Geschichten wie die schlechten Geschichten. Das alles bildet eine einzige große europäische Erzählung, von der wir alle mit unseren Sorgen und Freuden ein Teil sind. Mit unserem Glück. Mit unserem Rausch. Mit unserem Unglück. Mit unserem Kater.
Jaroslav Rudiš, 1972 in Turnov in der Tschechoslowakei geboren. Er studierte Germanistik, Geschichte und Journalistik in Liberec, Prag, Zürich und Berlin. Er arbeitete als Hotelportier, Lehrer und Journalist. Rudiš ist Autor zahlreicher tschechischer und deutschsprachiger Romane, Hörspiele, Theaterstücke, Kinodrehbücher, Essays und Musikprojekte. 2014 erhielt er den Usedomer Literaturpreis, 2018 den Preis der Literaturhäuser, 2020 den Chamisso Preis/Hellerau und 2021 das Bundesverdienstkreuz am Bande als »einer der engagiertesten Brückenbauer zwischen Deutschland und Tschechien«. In besonderer Weise befasst sich Jaroslav Rudiš mit der Geschichte Mitteleuropas. Sein 2019 erschienener Roman »Winterbergs letzte Reise«, den er auf Deutsch verfasst hat und der bei Publikum und Kritik auf großes Echo stieß, »ist eine eindringliche Auseinandersetzung mit der Geschichte des Gebietes, in dem die beiden Weltkriege begannen«.