Rudiš / Rudis Der Himmel unter Berlin
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-641-16616-8
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 176 Seiten
ISBN: 978-3-641-16616-8
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jaroslav Rudi?, geboren 1972, ist Schriftsteller, Drehbuchautor und Dramatiker. Er studierte Deutsch und Geschichte in Liberec, Zürich und Berlin und arbeitete u.a. als Lehrer und Journalist. Im Luchterhand Literaturverlag erschienen seine aus dem Tschechischen übersetzten Romane »Grand Hotel«, »Die Stille in Prag«, »Vom Ende des Punks in Helsinki« und »Nationalstraße«, bei btb außerdem »Der Himmel unter Berlin«. »Winterbergs letzte Reise«, der erste Roman, den Jaroslav Rudi? auf Deutsch geschrieben hat, wurde 2019 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Für sein Werk wurde er außerdem mit dem Usedomer Literaturpreis, dem Preis der Literaturhäuser sowie dem Chamisso-Preis/Hellerau ausgezeichnet.
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PÜNKTLICH FÜR DEN SOZIALISMUS
«Papa will mir was übergeben, von meiner Oma. Magst du mitkommen?», fragte Katrin am nächsten Morgen, als sie aus den Federn gekrochen kam und die SMS auf ihrem Handy gecheckt hatte.
Katrin liebt ihre Großmutter sehr. Sie wohnt in einem Plattenbau in Eisenhüttenstadt, einer Stadt direkt an der polnischen Grenze, die sie in den fünfziger Jahren mit hochgezogen hatte. Viele Jahre später wurde Eisenhüttenstadt dann die Partnerstadt des Ortes, wo meine Eltern mich hochgezogen hatten, bevor wir nach Prag gezogen sind.
Doch früher hieß Eisenhüttenstadt Stalinstadt, es war die erste sozialistische Stadt der DDR, so, wie Oma Blume früher Scholz hieß und keine Oma war, sondern junge Kantinenfrau in den neuen Stahlwerken, wo über dem Tor in großen Lettern prangte:
Sowjetisches Erz und polnischer Koks zu deutschem
Friedensstahl.
Das ist lange her. Die Parolen sind verhallt, geblieben ist nicht einmal der Name, höchstens ein Spiel mit dem Echo. Eine Zeit lang rufen wir die Parolen, eine Zeit lang schallt eine Antwort zurück. Danach wird es still. Es sei denn, ein neues trendy Wort kommt durch die Luft angesaust, das wir für einen Augenblick auf unserer Festplatte speichern. Katrin weiß, wo sie ihren Vater todsicher finden kann. Reinhard Blume arbeitet in der U-Bahn, als Zugführer. Heute Nachmittag wird er nach Schichtwechsel in einer Imbissbude auf dem unteren Bahnsteig im S-Bahnhof Friedrichstraße stehen. Dort, an den runden, mit blauem Plastik bezogenen Tischchen, treffen sich Zugführer aller Couleur.
Für Zugführer von U- und S-Bahn gilt dasselbe wie für Fußballspieler: Der Ball und das Spielfeld sind gleich, die Halbzeit bis zur Jause ist gleich lang, alle spielen sie gleich gut, bloß die Trikots unterscheiden sich. Und doch behaupten Kenner, wer die gelben und langsameren U-Bahn-Züge fährt, spiele für eine rangniedrigere und schmuddeligere Mannschaft, als wer die auf Hochglanz polierten schlangenartigen S-Bahn-Schläuche chauffiere.
Hin und wieder ließ sich der eine oder andere scheiden oder verliebte sich neu, gewann im Lotto oder büßte Prämien ein, weil er eine Station durchfahren hatte, manch einer hatte sogar ein menschliches Leben gekappt. All das wurde hier hinuntergespült ... an den runden Tischchen waren nämlich wirklich alle Zugführer gleich.
«Ich sag dir, Reinhard, das Schlimmste sind die Augen. Die Zugspitze steht längst vorne am Bahnsteig, kaum ein Ruck, bloß die Augen, dieser letzte Augenblick, der bleibt an der Tunnelwand wie ’n Fragezeichen hängen, wie ’n Messer, das dich stechen will, und du weißt nicht mal, wer es in der Hand hält. Diese Augen, die verschwinden nicht so ohne weiteres. Warum werfen die mir was vor, wofür ich nichts kann? Mein Doktor sagt, du hast frei, geh mal zum Hockey, trink ’n Bierchen, fahr in Skiurlaub oder nach Rügen, Hauptsache, du hörst auf, dran zu denken, für diese Menschen trägst du keine Verantwortung! Das weiß ich schon, aber wie ich diese Augen loswerden soll, direkt vor meinen Augen, das kann mir der Gute auch nicht sagen. Nicht hinkucken soll ich. Aber das geht doch gar nicht! Auf keinen Fall die Augen von der Strecke abwenden, bloß nicht woanders hinkucken.
Sonst sagt der Doktor, ich muss mit dem Fahren aufhören. Aber das geht gar nicht. Man kann doch nicht von jetzt auf nun Weichen stellen oder Haltestellen ausrufen. Einmal Zugführer, immer Zugführer. Nimm mal den Kanzler. Kann der Kanzler denn was anderes machen?», fragt Günter Fürst, ein kleiner, ältlicher Kumpel von Herrn Blume, der einen ziemlichen Bierbauch hat.
«Ach Quatsch, Mann, klar nicht, von wegen Weichen … und der Kanzler, was soll der mit’m Zug fahren. Kanzler bleibt ’n Kanzler, ist doch klar, ist halt Schicksal, so was», stimmt Herr Blume zu.
Als Günter aufs Klo verschwindet, neigt sich Herr Blume, der auch einen Bierbauch hat und dazu eine Glatze, zu mir. Eine Bierfahne weht mich an. Sein Blick ist dienstmüde. Er will wissen, ob ich jemals mit eigenen Augen einen echten Rekordhalter gesehen oder vielleicht selbst einen Rekord errungen habe.
Ich sage ja, einmal sei ich in Rekordverdacht geraten. Achtundachtzig oder neunundachtzig muss das gewesen sein, irgendwann auf dem Gymnasium. Da hatten wir vierundzwanzig Stunden lang Basketball gespielt. Einen ganzen Tag lang ohne Pause! Aus irgendeinem Grund ging dabei sogar das Licht aus, eine ganze Stunde lang, und wir mussten im Schein von Kerzen und Petroleumlampen spielen. Die Beine taten uns schon weh, aber wir wollten nicht aufhören, wegen der vielen Frauen, die uns zukuckten. Selbst nach einer Woche dröhnten mir noch die Ohren. Dribbling ist gefährlich. Gefährlicher als Phosgen. Dribbling ist Psychokiller.
Katrin lächelt zärtlich. Sie fährt sich mit dem Finger über die Nase, und ich kriege Panik. Was, wenn sie ihrem Vater verrät, in welcher ganz anderen Disziplin wir den Rekord brechen wollten? Aber Katrin schweigt.
Herr Blume winkt ab.
«So ’n Rekord zählt nicht. Nur solche wie seine zählen was, weil sie sich ins Leben einschreiben.» Er deutet auf Günters Rücken. Die kurzen Beine tragen seinen mächtigen Körper ganz langsam in die Halle hinauf. Irgendwo oben hinter der Treppe ist das Klo.
«Der Günter, das ist unser Rekordhalter. In zwanzig Jahren hat der fünf überfahren. Ganze fünf!»
«Ist ja irre … Ähm … Und Sie, wie viele haben Sie?»
Herr Blume zuckt mit den Schultern und sagt, nur einen Einzigen, und der hätte das auch noch überlebt. Bloß dessen Arme nicht.
Aber der Günter, der musste eine Art Magnet in sich haben.
«Wir sagen schon Kurfürst zu ihm», lacht Herr Blume. Sein Lachen ist scharf und trocken, es torpediert die Angst wieder unter die Erde zurück. Jeder Zugführer, dem einer unter den Rädern bleibt, bekommt vom Betrieb eine Erholungszeit zugewiesen. Günter war der Erste, der das als Kur bezeichnete. So häufig wie er war hier kein anderer zur Kur. Sein Arzt machte sich allmählich lustig über ihn, sagte,
Günter würde wohl auf Bestellung arbeiten, die Springer über Anzeige suchen. «Aber das sagt er nur, um Günter auf andere Gedanken zu bringen. Da hat er so psychologische Kniffe für. Die meisten Jungs, denen so ’n Unglück passiert is’, die hören sowieso auf. Besonders, wenn’s das zweite Mal passiert. Das kann keiner aushalten. Nur der Günter.» Günter kommt zum Tisch zurück, winkt dem Frollein an der Theke zu, noch drei Korn und eine Cola hier für Katrin. Und eine Salamischrippe. Er steckt sich eine an, sein Kopf versinkt im Schal aus Rauch.
«Ich sag dir, Reinhard, am schlimmsten is’, dass ich sie auch danach immer wieder treffe. Ich fahr in den Bahnhof ein, und in der Menge aufm Bahnsteig seh ich ihre Augen aufblitzen. Die erkenn ich auf Anhieb. Sie schneiden Grimassen. Keine richtig bösen, das nicht, manche grinsen mich sogar zufrieden an. Von wegen endlich Ruhe gefunden haben. Ein anderes Mal verstecken sie sich im Tunnel, aus dem Dunkeln stechen nur ihre Augen hervor. Ich sag dir, Reinhard, die hier, die kommen nicht in den Himmel. Und falls, dann ist der Himmel hier unten. Manchmal überkommt mich so ’n Gefühl, sie sitzen neben mir und schalten die Signale: Frei. Halt. Langsam. Frei. Du sagst vielleicht, das is’ der totale Blödsinn, aber ich sag dir, da ist was dran. Hundertprozentig.»
Herr Blume legt den Kopf in den Nacken, eine Weile zählt er die Spinnennetze an der Decke und trinkt dann einen Schluck auf das Wohl der Band, die Pancho Dirk und ich gegründet haben, obwohl wir immer noch alleine spielen, die Band, die wir auf den Namen U-BAHN getauft haben, weil wir Krach, Schwärze und Punk-Rock lieben. Er findet diese junge Musik schon ganz gut, sagt Herr Blume, sie darf aber nicht zu laut sein, sonst kriegt er die Krise. Am liebsten mag er Country, Balsam für seine Nerven, vor allem die Hawaiigitarre, wenn sie sich durch langsame Lieder schlängelt.
«Da stell ich mir immer so ’n Morgen vor, irgendwo in der Prärie. ’nen Kaffee, gerade frisch gebrüht, offenes Feuer, keine Menschenseele weit und breit, nur irgendwo, ganz weit weg, fährt ein klitzekleiner Zug vorbei. Ein Leben so ganz ohne Gleise, das wäre ja kein Leben», sagt Herr Blume und erkundigt sich, ob wir die mit der Matte oder die mit der Glatze sind, und ich sage: Die mit der XXL-Matte. Das scheint ihn zu freuen, mit den Glatzen gibt es in der U-Bahn immer wieder Randale, neulich hatte da einer direkt vor seinen Augen einen jungen Afrikaner zusammengetreten.
«Ich hab ja den Führerstand nicht verlassen können, hab nur dem Dispatcher Bescheid gesagt und gedacht, die Leute auf dem Bahnsteig richten das schon von selbst, bis die Bullen kommen, aber die haben sich alle verzogen. Als ich klein war, da hat man gesagt, lange Haare – kurzer Verstand, aber ich sag dir eins: keine Haare – kein Verstand! Andererseits die vielen Afrikaner oder Türken hier, die sind doch auch ein bisschen schuld, die Schwarzen sind bestimmt nicht alle wegen ’nem Studium hier, nimm bloß die ganzen Terroranschläge.» Herr Blume klopft mit dem Zeigefinger auf die Tischplatte und nippt an seinem Korn.
Günter will wissen, ob ich schon mal von dem leeren Zug gehört habe, der durch den Berliner Untergrund rast.
Ja, gehört hab ich davon. Er geistert wohl schon lange durch die Adern der Stadt. Immer mal wieder will jemand gesehen haben, wie dieser Zug ganz leise den Bahnhof verlässt, und berichtet darüber in der Zeitung oder in irgendeiner Kneipe.
Einer, der angeblich über Kontakte ins Jenseits verfügt, behauptet, dieser Zug würde alle, die durch die U-Bahn ums Leben gebracht wurden, von nirgendwo nach nirgends...