E-Book, Deutsch, 432 Seiten
Rubanov Chlorofilija
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-641-14442-5
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 432 Seiten
ISBN: 978-3-641-14442-5
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Russland im 22. Jahrhundert: Weite Teile des Landes wurden von China aufgekauft, und Moskau ist zu einer gigantischen Megalopolis angeschwollen, in der fast alle Russen leben. Hedonismus ist das oberste Gebot, und am besten erreicht man den absoluten Glückszustand durch das nahrhafte und berauschende Fruchtfleisch bestimmter Halme, die jeden Zentimeter der Stadt überwuchern. Hier lebt auch der Journalist Saweli Herz, der eines Tages im Zusammenhang mit den Halmen auf ein Geheimnis stößt, das die Menschheit für immer verändern könnte ...
Andrej Rubanov wurde 1969 geboren. Nach dem Journalismus-Studium in Moskau arbeitete er Taxifahrer, Bodyguard und freiberuflicher Redakteur für verschiedene Moskauer Zeitungen, bevor er sich mit einem eigenen Unternehmen selbstständig machte. 1996 wurde er zu einer Haftstrafe wegen Betrugs verurteilt, drei Jahre später jedoch wieder freigesprochen. Seine Erfahrungen im Gefängnis verarbeitete er in dem semi-autobiographischen Roman Do Time, Get Time, der ihm in Russland den Durchbruch als Schriftsteller bescherte. Chlorofilija wurde 2011 für den Internationalen Arkadi-und-Boris-Strugatzki-Literaturpreis nominiert und erregte auch außerhalb Russlands Aufsehen. Andrej Rubanov lebt mit seiner Frau und seinem Sohn in Moskau.
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1
»Ich brauche dringend was zu trinken«, sagte Saweli.
»Hier, nimm.« Warwara reichte ihm eine Flasche Wasser, das mit Vitamin A angereichert war. »Lösch deinen Lebensdurst. Wie gefalle ich dir heute?«
»Toll«, antwortete Saweli ohne Begeisterung. Er konnte interaktives Make-up nicht leiden.
»Findest du mich nicht sexy?«
»Doch. Reg dich nicht auf.«
Er beschleunigte und wechselte die Spur.
Bei Kilometer dreißig wuchs ein Halm direkt neben der Fahrbahn aus dem Boden – mächtig und dunkelgrün verschwand er hoch über ihnen im Himmel. Warwara legte den Kopf in den Nacken und zog anmutig die Schultern hoch.
»Aus der Nähe sehen sie einfach scheußlich aus. All diese Schuppen. Als ob der Schwanz einer Riesenschlange aus der Erde ragt.«
»Sieh besser nicht hin«, sagte Saweli. »Und vor allem geh niemals nahe ran. Sonst hält man dich für eine Grasfresserin.«
Warwara war beleidigt, stolz drückte sie die Brust heraus.
»Soll das heißen, ich sehe aus wie eine Grasfresserin?«
»Nein. Trotzdem.«
»Angeblich wird es jedes Jahr höher, das Gras.«
»Ja«, entgegnete Saweli. »Das Gras wird höher, der Schatten dichter, die Blassen werden immer mehr. Und bald geht die Welt unter. Dann wird es noch die Halme geben und Menschen, die ab der hundertsten Etage aufwärts wohnen. Die Chinesen und ihre Handlanger.«
Warwara, Sawelis Verlobte, hatte kein bisschen Ähnlichkeit mit einer Grasfresserin. Alle Grasfresser – Männer wie Frauen – sahen immer unnatürlich munter aus, insbesondere wenn sie der blassen Bevölkerungsschicht angehörten. Sie machten Witze und tänzelten die ganze Zeit herum, sie kleideten sich nachlässig und konnten an keinem billigen Straßen-Solarium vorbeigehen, ohne sich in die Schlange zu stellen. Warwara dagegen war, wie es sich für eine Frau aus dem fünfundsiebzigsten Stock gehörte, lasziv und dabei fast ein wenig lethargisch. Diese spezielle Mattheit, die gekünstelten Bewegungen, diese Art, leise und nachlässig zu sprechen, galt bei der Jugend der oberen Etagen als besonders schick. Vervollständigt wurde das Ideal durch schöne, kräftige Schultern und ungewöhnlich hohe Brüste, fest wie Tennisbälle.
Warum halte ich nicht an und mach mit ihr, wozu die Natur sie vorgesehen hat?, überlegte Saweli. Ein hübsches Mädchen, alles dran, in der Redaktion beneiden sie mich …
Auf der Auffahrt zur südwestlichen Hochschnellstraße kam wie immer, wie gestern und vorgestern und wie schon vor zehn Jahren, ein riesiges Hologramm in Sicht. Es verdeckte den halben Himmel (unmöglich, den Blick abzuwenden) und war dabei mit seinen ruhigen Braun- und Grüntönen überraschend unaufdringlich; es zeigte eine gut gebaute Frau mit angenehmem Gesicht, die ununterbrochen die gleiche weiche Handbewegung machte; über ihr, unter ihr, durch sie hindurch, um sie herum zeichnete sich wie ein Destillat der allgegenwärtigen Lebensweise die grundlegende Losung ab, die Moskaus Bürger nun schon viele Jahre verband:
DU
BIST
NIEMANDEM
ETWAS
SCHULDIG
Und wie immer, wie gestern und vorgestern und wie vor zehn Jahren, musste Saweli lächeln und spürte eine Leichtigkeit: Alles ganz einfach – schreib mit smaragdfarbenen Buchstaben fünf Worte in den Himmel, und das Volk ist glücklich.
Hier lieben dich alle, und keiner erwartet etwas dafür. Hier bist du niemandem etwas schuldig.
Keiner ist irgendwem etwas schuldig. Keiner ist zu irgendwas verpflichtet. Keiner stöhnt unter der Last des Broterwerbs.
Auf der Kreuzung Petrosjan und Dubowizka blieben sie im Stau stecken. Ein halbnackter Dealer näherte sich im Laufschritt ihrem Autofenster, das an diesem warmen Septembertag offen stand. Der Mann war sehr blass und sehr fröhlich, ein typischer Grasfresser, seit mindestens fünf Jahren. Brust, Rücken und Schultern waren über und über bedeckt mit dreidimensionalen Tätowierungen, wie sie schon seit Längerem aus der Mode waren.
»Vierte Sublimation«, murmelte er und lächelte.
»Verschwinde«, sagte Saweli.
»Zum Sonderpreis.« Der blasse Freudenlieferant ließ nicht locker. »Gegen Cash oder von Freund zu Freund.«
Saweli schloss das Fenster. Wer braucht deine Freundschaft, du Penner? Ich bin Saweli Herz, Sonderkorrespondent des Magazins Ultimativ. Tausende von Menschen hoffen auf meine Gunst.
»Ich spreche überhaupt nie mit Blassen«, bemerkte Warwara.
»Meinst du, sie sind keine Menschen?«
Ungerührt von der Abfuhr lenkte der Dealer seine Schritte in seinem Clownsgang auf den nächsten Wagen zu. Dabei rückte er den Störsender zurecht, der an seinem Gürtel baumelte.
Vierte Sublimation, wie scheußlich, dachte Saweli. Die Moskauer Bohème nahm schon seit mindestens einem Jahr die siebte. Und demnächst sollte die achte kommen. In den Neunziger-Etagen, im Reich der Superreichen, war sogar schon die neunte im Umlauf. Diese neunte war angeblich ein absoluter Traum. Die Tabletten tarnten sich als Vitamin-A-Kapseln. Eine reichte aus für zwei Tage, und das Beste daran war: Man sah kein bisschen aus wie ein Grasfresser, hüpfte nicht hyperenergetisch durch die Gegend, riss keine scharfsinnigen Witze, lächelte nicht ständig, fuchtelte nicht mit den Händen und nahm wie jeder brave Bürger drei Mahlzeiten am Tag zu sich. Aber im Innersten – dort, wo die Seele wohnte, in der Tiefe des Ichs, im Kopf, im Herzen – ging es einem so gut wie nie zuvor im Leben.
Man erzählte sich, dass Sawelis und Warwaras Chef, der Herausgeber und Chefredakteur der Zeitschrift Ultimativ, der mächtige und widerwärtige Puschkow-Rylzew, der erbarmungslose Vernichter fremder Karrieren, der alteingesessene Bewohner der einundneunzigsten Etage, der von drei Schichten echter, schokobrauner Sonnenbräune überzogen war, dass dieser hundertjährige brillante Kopf schon seit einem halben Jahr die neunte Sublimation schluckte.
Aber das waren Gerüchte, die seine Neider verbreiteten. Saweli wusste ganz sicher, dass der Alte sauber war.
Endlich ging es weiter. Im Rückspiegel konnte Saweli noch sehen, wie der Dealer mit einem Sprung auf den Bürgersteig zurückwich und in der Menge untertauchte.
Der Korrespondent der Zeitschrift Ultimativ, Saweli Herz, fuhr nun schon einige Jahre regelmäßig über diese Kreuzung. Morgens und abends verkaufte hier ein und derselbe Mann Fruchtfleisch vom Halm – erst in zweiter Sublimation, dann in dritter, jetzt hatte er die vierte im Angebot, und in einem Jahr würde er ziemlich sicher mit der fünften dealen.
Warum wurde der Mann nicht festgenommen? Warum, fragte sich Saweli, war er als professioneller Journalist und damit als besonders informierte Person nicht in der Lage, die geheimen Vertriebsmechanismen des wichtigsten Grünzeugs der letzten dreißig Jahre zu durchschauen? Lebten sie nicht in einem Zeitalter der totalen Kontrolle? Videokameras von fünfundzwanzig konkurrierenden Polizeidiensten scannten jeden Meter Raum in der Stadt, jeder Sterbliche trug von Geburt an Mikrochips unter der Haut, die Teilnehmer des Projekts Nachbarn stellten geradezu genüsslich das eigene Leben in allen Einzelheiten zur Schau. Wie war es möglich, dass in solchen Zeiten an jeder Ecke arme blasse Menschlein Halmfleisch in beliebiger Menge feilboten, ohne sich vor irgendwem zu fürchten? Obwohl laut Gesetz zehn Jahre Gefängnis auf den Besitz einer einzigen Dosis der Droge standen?
Näher zum Zentrum der Stadt hin wuchs das Gras dichter. Im Schatten empfand Saweli körperliches Unbehagen und beschleunigte.
Auf jedem freien Fleckchen Erde ragte ein Halm in den Himmel. Schwarz-grüne, geschuppte Monster, etwa fünfundzwanzig Meter dick und dreihundert Meter hoch.
Die Halme standen dicht an dicht. Schirmten alles Sonnenlicht ab, die Wipfel schaukelten triumphierend im Wind. Bewirkten, das die Leute sich wie Ameisen fühlten. Saweli beschloss, den Schalter umzulegen und an etwas Angenehmeres zu denken.
»Wie geht es deiner Mascha?«, fragte er.
»Grauenvoll«, antwortete Warwara, die den Vorabend mit einer guten Bekannten verbracht hatte. »Ich war erst nach Mitternacht wieder zu Hause. Und hab schrecklich gestunken, nach Martini und nach Shisha-Rauch mit Fruchtaroma.« (Saweli registrierte erfreut, dass sie ein schlechtes Gewissen hatte.) »Diese Hochstaplerin hat einen fünfstelligen Vorschuss kassiert, für ein Buch mit dem Titel: ›Wie heirate ich einen sibirischen Chinesen?‹ Ein Albtraum, oder?«
»Was ist daran ein Albtraum?«
Warwara lachte.
»Dass sie keinen Schimmer hat, wie man einen sibirischen Chinesen heiratet«, sagte sie. »Deshalb hat sie eine flüchtige Bekannte angerufen, die mit einem chinesischen Millionär verheiratet ist, dem Direktor einer waschechten chinesischen Kolchose. Der Mann hat eine Orangenplantage in Magadan. Mascha wollte sie ausfragen. Rat mal, was die gesagt hat: ›Dumme Gans, wer verrät denn so was?‹ Außerdem soll Mascha nicht mehr bei ihr anrufen. Sie sei jetzt nicht mehr Nataschka Gawrilowa, hat sie gesagt, sondern Jing Shu, was ›stille Birke‹ oder so ähnlich heißt …«
»Na, dann muss Mascha den Vorschuss eben zurückzahlen.«
»Von wegen, der ist doch längst ausgegeben. Und das Buch ist schon angekündigt.«
»Wenn das so ist, soll unsere tolle Schriftstellerin eben ein paar Reiseführer lesen, dazu die Biographie von Mao Zedong, außerdem noch...