E-Book, Deutsch, 236 Seiten
Rowohlt / Sotscheck In Schlucken-zwei-Spechte
4. erweiterte und überarbeitete Auflage mit einem nagelneuen Kapitel "Acht Jahre danach". 2013
ISBN: 978-3-86287-077-6
Verlag: FUEGO
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Harry Rowohlt erzählt Ralf Sotscheck sein Leben von der Wiege bis zur Biege
E-Book, Deutsch, 236 Seiten
ISBN: 978-3-86287-077-6
Verlag: FUEGO
Format: EPUB
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Harry Rowohlt erzählt aus seinem krummen Leben inmitten einer bemerkenswerten Familie. Er erzählt voller Hochachtung und honigsüß, manchmal spöttisch und sarkastisch, aber immer hinreißend von seinem Großvater Fränzchen Pierenkämper, der 1917 einer der führenden Köpfe im Arbeiter-und Soldatenrat von Wilna war, von seiner Mutter, der extravaganten Schauspielerin, die ohne Ariernachweis einmal Tischdame von Goebbels gewesen war; von seinem Vater, der mit dem Rowohlt-Verlag fünfmal pleite ging, weshalb Harry Rowohlt immer noch froh ist, nicht in den Verlag eingetreten zu sein, weil er diese Tradition als erstes wiederbelebt hätte; von der Kindergartentante Renate, in die er so verknallt war, daß er einen Türpfosten ableckte. Natürlich geht es auch um die Leiden eines preisgekrönten Übersetzers, seine Schauspielerei in der 'Lindenstraße' und um seine mittlerweile legendären Lesungen. Dieses Buch beantwortet aber auch dringende Fragen wie: Warum ist Freddy Quinn nicht schwul? Oder: Wie ist es um das Nachtleben von Eutin bestellt? Harry Rowohlt schweift dabei gerne ab, aber sein 'In Schlucken-zwei-Spechte' kompetenter Gesprächspartner Ralf Sotscheck hält ihn auf Kurs, sortiert Harrys mäanderndes Leben nach biographischen Schwerpunkten und steuert selbst jede Menge Anekdoten, absurde Begebenheiten und die reinste Wahrheit bei, die die Handlung aufs entschiedenste voranbringen und vor allem zeigen, daß sich Ralf Sotscheck in Hochform befindet. 4. überarbeitete Auflage mit nagelneuem Kapitel: 'Acht Jahre danach'
Harry Rowohlt, geb. am 27. März 1945 in Hamburg, lebt als Autor, Übersetzer und begnadeter Vortragskünstler in Hamburg Eppendorf. Nebenbei brilliert er unregelmäßig als Penner Harry in der Fernsehserie 'Lindenstrasse'. 1999 erhielt er den Johann-Heinrich-Voß-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Im Januar 2001 erhielt er den Satirepreis 'Göttinger Elch'. Ralf Sotscheck, 1954 in Berlin geboren, lebt mit seiner Familie im Dubliner Stadtteil Glasnevin. Seit 1985 England- und Irland-Korrespondent der taz. Zahlreiche Buchveröffentlichungen. F. W. Bernstein zeichnet, macht Gedichte und schreibt Texte auf Papier, oft über Zeichnungen und Zeichnende. Seine Lyrik, Grafik und Satire wird zur sogenannten 'Neuen Frankfurter Schule' gezählt. F. W. Bernstein lebt als Pseudonym des Zeichenlehrers Fritz Weigle in Berlin. Dieser, Jg. 1938, studierte Kunst in Stuttgart und Berlin und unterrichtete von 1984-99 als Professor für 'Karikatur und Bildgeschichte' an der HDK Berlin. 2003 wurde er mit dem 'Göttinger Elch' ausgezeichnet.
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RALF SOTSCHECK: Wir haben gestern über deine Schulzeit gesprochen. Hast du danach gleich mit der Lehre angefangen? HARRY ROWOHLT: Nee. Erstmal mußte ich bei meiner Mutter noch ein bißchen Händchen halten. Die spielte in Baden-Baden in einem Fernsehspiel mit und hatte Schiß davor. Ich meine, als Schauspielerin soll sie schauspielern oder es lassen, aber nicht herumzicken. Dann durfte ich endlich, weil ich Abitur hatte, alleine nach Paris. Das war sehr angenehm. In Paris habe ich Edmond Lutrand kennengelernt, Rowohlt-Vertreter und literarischer Agent. Obwohl das Wort Agent nicht zu ihm paßt, da stellt man sich etwas anderes vor. Er und seine Frau Rita waren Ansprechpartner und Beichtiger von Autoren. Ich habe Paris erlebt und fand das wunderbar. In der Rue des Rosiers hatte ich eine Stammkneipe namens San Juan-les-Pins. Die wurde von arabischen Juden betrieben, und ein Ballon de rouge ordinaire kostete einen Franc. Dazu gab es vier Untertassen mit Essen, weshalb man für fünf Franc bestens ernährt war und auch ganz leicht einen im Tee hatte. Außerdem gab es tolle arabische Musik. Was hast du denn in Paris gemacht, außer die Kneipenszene zu studieren? Ich habe die Gegend erkundet, und Edmond Lutrand erzählte, er hätte mal in den Hallen gearbeitet. Weil er ziemlich klein war, habe ich ihn etwas ungläubig angesehen. Er sagte: »Stellen Sie sich mal gerade hin.« Das habe ich gemacht, und dann hat er mich mit einem Arm um die Hüfte gefaßt und hochgehoben. »Sagen Sie Bescheid, wenn ich Sie wieder runter lassen soll.« Eddie war nämlich Spanienkämpfer und danach in Paris in der Résistance. Und zwar im Untergrund, was insofern etwas paradox klingt, weil er für die Dächer im Quartier Latin verantwortlich war. Damals war ich noch schwindelfrei, und er hat mich auf eine Tour über sein altes Wirkungsfeld mitgenommen. Wir sind über die Dächer gekraxelt, haben uns hin und wieder an einem Schornstein festgehalten und eine Zigarette geraucht. Er erzählte mir, daß er heute noch durchschnittlich zweimal die Woche schweißgebadet aufwacht, weil er vom Dach mal eine Granate auf einen Waffen-SS-Trupp runtergeschmissen hat, daß ihm deren Zähne um die Ohren geflogen sind. Damit ist er nicht fertig geworden. Ich hab ihm gesagt: »Eddie«, denn inzwischen duzten wir uns, »du spinnst doch. Du als Jude und Linker und Spanienkämpfer wärst doch zu allererst dran gewesen.« Und Eddie sagte: »Ja, aber das nützt mir nichts, daß ich das weiß.« Es hat ihn mitgenommen, daß er keinen von denen persönlich kannte, so daß er auch auf keinen einzelnen eine persönliche Wut hätte entwickeln können. Deshalb kam er sich als Massenmörder vor, was ja sehr für ihn spricht. Daß er in der Résistance gekämpft hatte, hielt er so geheim, als wäre er in der Waffen-SS gewesen, weil er Angst hatte, er würde sonst diesen kleinen roten Knopf von der Ehrenlegion verpaßt bekommen. Und er kannte viele Honoratioren, die mit diesem kleinen roten Knopf herumliefen und die er alle nicht leiden konnte. Zu dieser Sorte wollte er nicht gehören. Eddie war wirklich ein großer Held. Weil wir immer nach Griechenland fuhren, hat er mal gefragt, ob es dort Esel gebe. Ich hab ihm gesagt: »Ja. Nicht viele, aber ein paar gibt es dort schon.« »Gut«, sagte er, »dann komme ich nicht.« Er hatte nämlich mit Hilfe von bis zu zehn Eseln immer Waffen und Munition über die Pyrenäen geschmuggelt. Und wenn dann unsere Landsleute von der Legion Condor ankamen, mußte er bis zu zehn Esel verstecken. Aber Esel machen ja bekanntlich, was sie wollen. Die sehen nicht ein, daß die Legion Condor kommt und man sich deshalb jetzt besser mal unter eine Platane begibt, wo man nicht gesehen werden kann, besonders wenn man mit Dynamit beladen ist. Wo war denn der Rest der Familie, während du in Paris warst? Meine Mutter war in Baden-Baden. Das war die Zeit, als sie von mir verlangte, daß ich ihr wegen des Fernsehspiels beistehe, was ich nun als Gipfel der Unprofessionalität empfand. Als ich gerade eine knappe Woche in Paris war, hat sie angerufen, ich solle sofort zurückkommen, was mir gar nicht paßte. Ich hatte mir nämlich kurz vor Ostern eine Eintrittskarte für ein Seder-Mahl gekauft, und zwar aus ethnologischem Interesse, ein sephardisches Seder-Mahl. Auf dem Plakat stand: »Orientalischer Ritus, für die Hausangestellten von Groß-Paris«, und da dachte ich, daß ich auf diese Weise an die ganzen schönen schwarzen Jemenitinnen und die äthiopischen Jüdinnen herankäme. Aber meine Mutter sagte: »In Baden-Baden gibt es doch auch eine Synagoge. Ich melde dich für das hiesige Seder-Mahl an.« Das war kein richtiger Ersatz, aber immerhin. In Baden-Baden habe ich kurz vor diesem Seder-Mahl noch Karl Marx besucht. Ich dachte, der liegt in London? Karl Marx war damals Herausgeber der Allgemeinen Wochenzeitung der Juden in Deutschland, die inzwischen umbenannt wurde. Sie heißt immer noch so ähnlich, bloß nicht mehr ganz so lang. Marx mußte aus gesundheitlichen Gründen ganz oben auf dem Berg wohnen und traute sich nur selten ins Tal nach Baden-Baden. Marx sagte: »Das mit dem Seder-Mahl interessiert mich sehr. Gleich danach müssen Sie mich mal anrufen. Der Wachsmann, der neue Gemeindeälteste, hat nämlich keine Ahnung.« Es wurde dann sehr schön. Alle fingen an zu essen, nur wir nicht. Wachsmann rief zu uns rüber: »Warum fangt ihr denn nicht an zu essen?« Sagt der Wieselmann zum Wachsmann: »Wir warten auf’s Gemiiese!« Sagt der Wachsmann zum Wieselmann: »Worauf wartet ihr? Auf’n Messias?« »Nein«, sagt der Wieselmann zum Wachsmann, »auf’s Gemüüüse!« Das fand ich sehr komisch, und als es vorbei war, habe ich den Marx angerufen und ihm alles erzählt. »Ja«, sagte Karl Marx, »der Wachsmann hat eben keine Ahnung.« Noch heute, wenn ich den Namen Wachsmann hör, denke ich: »Der Wachsmann hat eben keine Ahnung.« Was hat der Wachsmann? Keine Ahnung. Mit dem Namen Moskowitz ist das ähnlich, da gibt’s von Georg Kreisler ein Lied auf seiner LP »Nichtarische Arien«. Das Lied handelt von Onkel Joschi, der sich immer schlecht benimmt, und er kommt irgendwo herein und sagt: »Sind Sie nicht der Moskowitz, der Steuerschulden hat?« Und seitdem ist für mich klar, der Wachsmann hat keine Ahnung, und der Moskowitz hat Steuerschulden. Und nach dem Seder-Mahl in Baden-Baden? Danach bin ich in die Lehre gegangen, nach Frankfurt am Main. Suhrkamp und Insel hatten gerade fusioniert. Zunächst wohnte ich bei Frau Ruff in einem möblierten Zimmer zur Untermiete. Das war die Hölle. Sie wäre es zumindest gewesen, wenn ich es zuhause nicht immer so furchtbar gefunden hätte. Ich habe da morgens Nescafé getrunken und ungetoastetes Toastbrot mit Erdnußbutter gegessen, was zuhause undenkbar gewesen wäre. Das ist für mich heute noch der Geschmack der Freiheit: ungetoastetes Toastbrot mit Erdnußbutter und dazu Nescafé, durch den die Erdnußbutter am Gaumen schmilzt. Traumhaft. So war das bei der wahnsinnigen Frau Ruff. Bei uns gab es einmal im Monat Erdnußbutter, dazu frisches Weißbrot. Ich erinnere mich noch daran, wie man stundenlang versuchte, das Zeug mit der Zunge vom Gaumen abzukratzen. Aber wie war denn deine Lehre, mal abgesehen von Erdnußbutter und der wahnsinnigen Frau Ruff? Als Lehrling bin ich die logischen Stationen durchlaufen... oder habe ich sie durchlaufen? Es ist transitiv. Also habe ich sie durchlaufen. Praktisch wie ein Buch. Angefangen habe ich in der Herstellung, die schönste Abteilung, bei der man als Lehrling gleich zu Anfang am meisten zu lernen hat. Satzanweisungen schreiben, Druckanweisungen schreiben – dabei merkt man tatsächlich, daß man etwas lernt. Mein direkter Vorgesetzter, Gerd Stroucken, der sehr viel später mein Trauzeuge wurde, war vorher am Eigelstein hinter dem Kölner Hauptbahnhof Zuhälter und Schriftsetzer gewesen – mit der Begründung: »Eins wird immer gebraucht.« Der hat mich nach allen Regeln der Kunst ausgebildet. Unser Herstellungs- und Abteilungsleiter war glücklicherweise auch kein Frankfurter. Herr Bendixen kam aus Flensburg. Er war, wie alle Nordfriesen, nicht sehr überschwenglich. Wenn man etwas wirklich toll gemacht zu haben glaubte, sagte er: »Ja, das ist gar nicht mal so gut.« Er wurde später wegen Suffs gefeuert. Dabei hätten wir ihn in der Herstellung mit durchgefüttert, wenn er sich nicht so dämlich angestellt und immer gesagt hätte: »Ich habe Tabletten genommen.« Als er längst gefeuert war, ist er noch monatelang morgens von zuhause weggegangen, hat sich in eine Kneipe gegenüber vom Suhrkamp Verlag gesetzt und immer geguckt, wie wir morgens hinkamen und abends wieder weggingen. Das ist alles sehr traurig. Er lag zum Schluß nur noch vor dem Fernseher und ging seltsamerweise, was ich gar nicht verstehen kann, nur vom Bier kaputt. Er trank gar keinen Schnaps, er aß nicht, bewegtanderene sich nicht, trank nur ungeheuere Mengen Bier und rauchte. Die Abteilungen waren auch sehr angenehm. Weil Suhrkamp mit Insel fusioniert hatte, kamen wir in den Genuß der Insel-Kantine. Dort kochte Frau Schiller im Keller. Ihr Hund Senta, ein Schäferhund, bellte immer von oben durchs offene Fenster in die Erbsensuppe hinein. Dieser Frau Schiller habe ich einen sehr schmeichelhaften Vorfall mit Walter Boehlich zu verdanken. Frau Schiller fragte mich, wie groß ich sei? Und ich sagte: »Laut Personalausweis, ein Meter sechsundachtzig.« Und Frau Schiller, die aus dem Sudetenland stammte, sagte: »Do hätt der...