E-Book, Deutsch, Band 20, 202 Seiten
E-Book, Deutsch, Band 20, 202 Seiten
Reihe: Störungen systemisch behandeln
ISBN: 978-3-8497-8456-0
Verlag: Carl-Auer Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ziel des Buches ist es, Menschen, die sich selbst verletzen, mit einer Haltung von Gelassenheit und Akzeptanz, Wertschätzung und Respekt begegnen zu können. Wilhelm Rotthaus vermittelt dazu therapeutische Konzepte fu¨r Gespräche mit den Betroffenen und ihren Angehörigen und stellt unterschiedliche Vorgehensweisen mit konkreten Anregungen fu¨r die Praxis vor. Nicht zuletzt stellt das Buch Kriterien zur Verfu¨gung, die einen möglichen Übergang von der Selbstverletzung zu einem suizidalen Verhalten anzeigen.
Autoren/Hrsg.
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2 Klinisches Erscheinungsbild
2.1Beschreibung
Selbstverletzendes Verhalten wird in der derzeit noch gültigen Version der multiaxialen Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation (ICD-10) lediglich als Symptom einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ (F60-31) oder auf der vierten Achse als »vorsätzliche Selbstbeschädigung mit einem scharfen Gegenstand« (X78) aufgeführt. Aufgrund der erheblichen Zunahme selbstverletzenden Verhaltens insbesondere im Kindes- und Jugendalter und einer stetig wachsenden internationalen Literatur wurde jedoch im DSM-5 (American Psychiatric Association 2013) eine eigenständige diagnostische Entität »nichtsuizidales selbstverletzendes Verhalten – NSSV« (engl. nonsuicidal self-injury – NSSI) definiert und in die Sektion der Störungsbilder mit weiterem Forschungsbedarf, also nicht als formal anerkannte Diagnose, aufgenommen. Es wurden folgende Diagnosekriterien formuliert (angelehnt an die Übersetzung von Plener 2015, S. 7 f.): Die Selbstverletzung erfolgt mindestens an fünf oder mehr Tagen innerhalb eines Jahres. Die Selbstverletzung geschieht durch eine Schädigung der Körperoberfläche beispielsweise durch Schneiden, Verbrennen, Stechen, Schlagen, Hautaufreiben. Blutungen, Quetschungen und Schmerzen sind wahrscheinlich. Die Handlung erfolgt in Erwartung eines lediglich kleinen bis moderaten körperlichen Schadens. Es besteht keine Suizidabsicht. Erwartet wird durch die Selbstverletzung die Verbesserung eines negativen Gefühls oder gedanklichen Erlebens, die Lösung einer interpersonellen Schwierigkeit oder ein positiver Gefühlszustand. Durch häufige Wiederholung dieses Verhaltens kann der Eindruck eines Suchtcharakters entstehen. Es besteht ein Zusammenhang mit interpersonellen Schwierigkeiten oder negativen Gefühlen und Gedanken unmittelbar vor der Selbstverletzung, gedanklicher Beschäftigung mit der Möglichkeit der Selbstverletzung vorab und häufigem Nachdenken über Selbstverletzung (mindestens eine Nennung). Durch die Selbstverletzung und die resultierenden Konsequenzen entsteht ein klinisch signifikanter Stress oder eine Beeinträchtigung in interpersonellen, ausbildungsrelevanten oder sonstigen wichtigen Funktionsbereichen. Nicht als NSSV gewertet werden schwach ausgeprägte Formen selbstverletzenden Verhaltens wie Knibbeln an Wunden oder Nägelbeißen, sozial akzeptierte Formen des selbstverletzenden Verhaltens wie Piercings, Tattooing oder Selbstverletzung im Rahmen von Kulthandlungen, Selbstverletzungen, die ausschließlich während psychotischer Zustände, im Delirium, während Intoxikationen oder Substanzentzug auftreten, Selbstverletzungen, die bei Menschen mit einer Entwicklungsstörung im Sinne von wiederholten Stereotypien vorkommen, und selbstverletzendes Verhalten, das durch andere psychische oder medizinische Erkrankungen erklärbar ist. Auch die International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems 11 (ICD-11) greift die Diagnose »Nichtsuizidale Selbstverletzung (MB23.E)« auf und beschreibt sie als eine absichtliche Schädigung des Körpers vorwiegend durch Schneiden, Kratzen, Verbrennen, Beißen oder Schlagen, wobei das Individuum davon ausgeht, dass kein massiver körperlicher Schaden entsteht. Dadurch, dass die in das DSM-5 (American Psychiatric Association 2013) aufgenommene Definition von NSSV sich im Laufe der letzten Jahrzehnte erst allmählich herausgebildet hat, finden sich in der Fachliteratur unterschiedliche Begriffe, die teils auch unterschiedliche Phänomene zusammenfassen. So wurde im nordamerikanischen Raum der Begriff »Deliberate Self-Harm« (DSH) für selbstschädigende Verhaltensweisen gebraucht, die nicht als suizidal intendiert waren. Dem gegenüber bezeichneten Studien aus England oder Ländern des ehemaligen Commonwealth damit alle selbstschädigenden Verhaltensweisen und unterschieden das mit dem Begriff erfasste Verhalten nicht nach der Frage des Vorliegens einer suizidalen Intention. Teilweise wurde in der Literatur auch der Begriff »Parasuizid« verwendet, dessen Definition ebenfalls nicht einheitlich war. Während in einigen Publikationen die Beschreibung dem Konzept des NSSV weitgehend entsprach, formulierte Linehan 1986 (nach Plener 2015) drei Kategorien des Parasuizids, nämlich: Suizidversuche, ambivalente Suizidversuche und nichtsuizidale Selbstverletzungen. Wie schon in der Definition des DSM-5 aufgeführt, handelt es sich bei den häufigsten Selbstverletzungen um ein Ritzen und Schneiden der Haut vorwiegend an den Armen, vor allem den Unterarmen, und den Beinen, vor allem den Unterschenkeln, am Bauch, am Kopf und im Gesicht, an der Brust und im Genitalbereich. Benutzt werden dafür Rasierklingen, Messer, Scherben, Scheren und andere scharfe Gegenstände. Zuweilen werden Nadeln in die Haut eingebracht und bestehende Wunden offen gehalten oder verschmutzt. Selbstverletzungen erfolgen auch durch Verbrennungen, häufig mit Zigaretten oder Bügeleisen, und durch Verätzungen der Haut durch Säuren oder Laugen. Auch extremes Nägelkauen und Abbeißen von Fingerkuppen, ein Schlagen oder Quetschen der Haut sowie ein Beißen in Hände oder Lippen kommen vor. Gar nicht so selten werden zerbrochene Rasierklingen und andere scharfe Gegenstände verschluckt. Charakteristisch für den selbstverletzenden Akt ist ein Spannungsbogen, auf dessen Gipfel die selbstverletzende Handlung durchgeführt wird. Zumeist gehen als belastend erlebte zwischenmenschliche Erfahrungen, aber auch Überforderungserlebnisse und ein sehr geringes Selbstwertgefühl voraus. Wutgefühle, Verzweiflung, dysphorische Verstimmungen, Angst, Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit dominieren das Selbsterleben. Eine Bewältigung dieser hochgradig negativ getönten Affekte misslingt. Im Zuge eskalierender Selbstvorwürfe kommt es zur Wendung von Hass in Selbsthass. Unter affektivem Druck können Wahrnehmung und Denken dissoziieren.2 Ein immer unabhängiger werdender Wunsch beherrscht das Bewusstsein: sich zu schneiden oder sich zu verbrennen, um dies alles zu beenden. Es kann zur Selbstentfremdung im Sinne von Depersonalisation3 und von Derealisation4 kommen. Die entscheidende Phase der tatsächlichen Umsetzung der Gewebeschädigung wird häufig von Amnesie (Gedächtnisverlust) und Analgesie (Schmerzunempfindlichkeit) begleitet. Während die Haut verletzt wird und gegebenenfalls das Blut rinnt, empfindet die Betroffene ein Gefühl der Erleichterung und des Wohlbefindens. Sie erlebt ein personales Erwachen. Das Spannungsgefühl erscheint momentan wie gelöscht. Schon bald aber bauen sich in zunehmendem Umfang negative Gefühle des Ekels, der Scham und der Schuld wieder auf sowie Angst vor den entstellenden Narben und vor dem negativen Echo der Umgebung. Der Circulus vitiosus wird somit erneut aufgeladen. Die erstmalige Beschreibung des selbstschädigenden Verhaltens als eigenständiges Syndrom (engl. Deliberate Self-Harm – DSH) geht auf Pattison und Kahan (1983) zurück. Im Verlauf des ersten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts setzte sich dann der Begriff des »Nichtsuizidalen selbstverletzenden Verhaltens« (engl. Non-suicidal selfinjury – NSSI) zunehmend durch. Lloyd-Richardson und Kolleg:innen formulierten 2007 als inzwischen übliche Beschreibung die Zerstörung oder Veränderung der Haut des Körpers ohne suizidale Absicht. Dieses Verhalten sei – im Gegensatz beispielsweise zum Piercing – sozial nicht akzeptiert, erfolge direkt (in Abgrenzung zur indirekten Selbstschädigung beispielsweise durch Alkoholmissbrauch) und wiederholt. Es führe zu einer kleinen oder mäßigen Schädigung. In der deutschsprachigen Literatur wurde dieses Konzept aufgegriffen: Plener (2015) beispielsweise definiert NSSV »als freiwillige, selbst zugefügte, repetitive Selbstverletzung der Körperoberfläche, die ohne suizidale Absicht unternommen wird und nicht sozial akzeptiert ist«. Nach Brunner et al. (2014) lassen sich zwei Gruppen von Jugendlichen unterscheiden, die selbstverletzendes Verhalten ausüben: zum einen Jugendliche, die dieses Verhalten über eine umschriebene Zeit gelegentlich zeigen, und eine zweite Gruppe von Jugendlichen, die dies als repetitives Verhaltensmuster zeigen und daneben auch erhebliche emotionale Probleme aufweisen. Dieser Zusammenhang zwischen der Häufigkeit selbstverletzenden Verhaltens und der Ausprägung des psychopathologischen Bildes wurde auch von anderen Autorinnen beschrieben. Die Häufigkeit der selbstverletzenden Handlungen ist somit als ein wichtiges Kriterium für den Schweregrad der Störung anzusehen. 2.2Nicht zum NSSV zählende selbstverletzende Verhaltensweisen
2.2.1Selbstverletzungen von Kindern im Säuglings- und Kleinkindalter
Nicht selten zeigen Kinder im Säuglings- und Kleinkindalter vorübergehend stereotype Verhaltensweisen, die sie in gleicher Form viele...