E-Book, Deutsch, 155 Seiten
Reihe: Systemische Horizonte
Rotthaus Beziehungsgeschöpf Mensch
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-8497-8521-5
Verlag: Carl-Auer Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Übergänge zu einem neuen Selbstbild
E-Book, Deutsch, 155 Seiten
Reihe: Systemische Horizonte
ISBN: 978-3-8497-8521-5
Verlag: Carl-Auer Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Erfolgsgeheimnis Kooperation
Wie kann es gelingen, all die klugen Maßnahmen, die zur Rettung der Erde als Lebensraum erarbeitet werden, auch tatsächlich umzusetzen? Wilhelm Rotthaus geht davon aus, dass die notwendigen Schritte am ehesten erfolgen werden, wenn wir als Bewohner:innen ein neues Selbstbild entwickeln.
Solange die Vorstellung besteht, der Mensch sei von Natur aus auf den eigenen Vorteil bedacht, werden wir versuchen, uns und unsere Interessen durchzusetzen. Nehmen wir uns dagegen als Wesen wahr, die erst aus Beziehungen entstehen, werden wir unser Wohlergehen als eng verbunden mit anderen erleben und ein Interesse daran haben, dass es ihnen ebenfalls gut geht.
Kooperation und Zusammenhalt in größeren Gruppen bildeten die Grundlage fu¨r die Verbreitung des Menschen. Menschen mit einem Selbstbild als Beziehungsgeschöpf ist also zuzutrauen, dass sie weltweit gemeinsame Anstrengungen zur Eindämmung der Klimakrise und zum Erhalt der Biodiversität unternehmen werden.
Wilhelm Rotthaus schließt mit diesem Buch unmittelbar an das Plädoyer des Vorgängers "Wir können und mu¨ssen uns neu erfinden" an. Hier zeigt er, wie das gehen könnte.
Der Autor:
Wilhelm Rotthaus, Dr. med.; Studium der Medizin und der Musik; Ausbildungen in klientenzentrierter Gesprächstherapie, klientenzentrierter Spieltherapie und Systemtherapie. 1981–2004 Ärztlicher Leiter des Fachbereichs Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Rheinischen Kliniken Viersen. Buchveröffentlichungen u. a.: "Wozu erziehen" (8. Aufl. 2017), "Systemische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie" (5. Aufl. 2021), "Ängste von Kindern und Jugendlichen" (2. Aufl. 2021), "Suizidhandlungen von Kindern und Jugendlichen" (2. Aufl. 2023) "Schulprobleme und Schulabsentismus" (2. Aufl. 2022), "Ängste von Kindern und Jugendlichen. Erkennen, verstehen, lösen" (2. Aufl. 2021), "Suizidhandlungen von Kindern und Jugendlichen. Erkennen, verstehen, vorbeugen" (2020), "Fallbuch der Systemischen Therapie mit Kindern und Jugendlichen" (2020), "Wir können und müssen uns neu erfinden. Am Ende des Zeitalters des Individuums – Aufbruch in die Zukunft" (2021).
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1 Einleitung
Mit der Erfindung des Individuums im 11. und 12. Jahrhundert wurden die wesentlichen Ideen und Vorstellungen entwickelt, die bis heute das Selbstbild des Menschen der europäisch geprägten, sog. westlichen Welt ausmachen.1 Eine dynamische Entwicklung in nahezu allen Lebensbereichen, insbesondere in Technik und Wirtschaft, wurde dadurch ausgelöst. Allerdings hat das damals entstandene Bild des Menschen als ein souveränes, unabhängiges Individuum, das sich außerhalb der Natur verortet und diese zu seinem Nutzen beherrscht und ausbeutet, auch problematische Auswirkungen gezeitigt. Alexander von Humboldt hat dies bereits in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts klar erkannt und beschrieben.2 Seitdem hat sich die Lage in bedrohlicher Weise zugespitzt – seit den 1970er-Jahren in besonderem Ausmaß. Viele Merkmale des Individuums werden heutzutage in einer fast grenzenlosen Übersteigerung nahezu karikierend gelebt. In einer egomanischen Art und Weise orientiert auf Selbstdurchsetzung und die Befriedigung seiner eigenen Bedürfnisse, ist die Suche nach dem eigenen Vorteil und persönlichem Wohlstand ganz in den Vordergrund gerückt. Durch den selbst auferlegten Zwang nach ständigem Wirtschaftswachstum vernichten die Menschen der sog. westlichen Welt ihre Lebensgrundlagen, wirtschaften auf Substanz, verwüsten den globalen Süden, ruinieren die Demokratie, leben in dauernder Hektik und Anspannung, viele in großer Einsamkeit, vermissen Freude und einen Lebenssinn. Dabei spielt nicht nur der menschengemachte Klimawandel eine große Rolle. Mindestens ebenso bedrohlich ist der Verlust der Biodiversität. Die meisten Menschen übersehen, dass wir von der Artenvielfalt der Erde abhängig sind. »Nehmen wir den Kakao, aus dem Schokolade gemacht wird: Der wird nur von zwei in den Tropen vorkommenden Mückenarten bestäubt … und wenn die aussterben, dann gibt es entweder keine Schokolade mehr oder wir müssen, wie in einigen Regionen Chinas, menschliche Bestäuber mit Pinseln losschicken, was ineffizient und megateuer ist und überdies nicht besonders viel bringt, weil der Ertrag nicht so hoch ist wie bei natürlicher Bestäubung.«3 Angesichts dieser Situation sind in den letzten Jahrzehnten in beeindruckendem Umfang Ideen und Konzepte darüber entwickelt worden, wie der Mensch sein Verhältnis zur Natur neu beschreiben kann, wie eine Wirtschaft aussehen kann, die die Ressourcen der Erde nicht weiter hemmungslos ausbeutet, wie eine Land- und Forstwirtschaft gestaltet werden kann, die von einem Respekt vor den Tieren, den Pflanzen und dem Erdboden getragen wird, wie Transport und Verkehr so organisiert werden können, dass die Umweltbelastung auf ein Mindestmaß reduziert wird, wie Bildung und Ausbildung neu gestaltet werden können und vieles andere mehr. Zwar gibt es Bereiche, in denen die ökologische Wende durchaus vorankommt. Entgegen allen skeptischen Vorannahmen steigt der Anteil der Erneuerbaren an der Stromproduktion in Deutschland jedes Jahr um rund 6 Prozent und liegt heute bereits bei erstaunlichen 60 Prozent. Der Zukunftsforscher Julian Horx4 hält das Ziel von 80 Prozent im Jahr 2030 für »plausibel erreichbar«. Der Absatz von Elektroautos steigt weltweit rapide – Ausnahmen sind Deutschland und die USA. Zwei Drittel aller Neubauten in Deutschland werden mit Wärmepumpen betrieben. Viele Industrieunternehmen und Konzerne Europas arbeiten an der Dekarbonisierung ihrer Energie- und Produktionsweisen. Doch in anderen Bereichen gelingt die Umsetzung vieler grundlegender Ideen und Vorschläge zur Minderung der Klimawende kaum. Werden seitens der Politik Maßnahmen beschlossen, die den Einzelnen betreffen, sind Empörung und Widerstand oft hoch. Das rührt nach meiner Überzeugung daher, dass der Mensch, der die ökologische Wende gestalten und die notwendigen Maßnahmen durchführen oder zumindest mittragen soll, kaum zum Thema gemacht wird. Die Auseinandersetzung darüber steht noch weitgehend aus, ist aber dringend erforderlich. Denn der Mensch der westlichen Einflusssphäre dürfte erst dann bereit sein, die erforderlichen Veränderungen zu vollziehen, wenn er ein neues Bild von sich selbst und seiner Beziehung zu seiner Umwelt entwickelt, – ganz im Sinne des Satzes, der Mahatma Gandhi zugeschrieben wird: »Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünschst für diese Welt.« Dabei kann sich der Mensch von seiner eigenen Geschichte anregen lassen. Er kann sich auf das besinnen, was ihn vor etwa 2 Millionen Jahren aus der Reihe der Primaten hat heraustreten lassen und was letztlich zu seiner großen Verbreitung auf dieser Erde geführt hat: die Fähigkeit, mit gemeinsamen Regeln und Normen in großen und weit vernetzten Gruppen zu leben, das heißt: sich sozial zu verhalten und bereitwillig von anderen zu lernen sowie eine gemeinsame Kultur bzw. ein gemeinsames kollektives Gehirn zu entwickeln. Daraus folgte damals die Entwicklung einer für alle Gruppenmitglieder verständlichen Sprache und mit ihr die nahezu unbegrenzte Fähigkeit zur Vorstellung und Reflexion über verschiedene Situationen sowie die Möglichkeit, sich über die von unserem Geist geschaffenen Szenarien mit anderen auszutauschen. Über etwa 2 Millionen Jahre war die Zugehörigkeit zur eigenen Gruppe, in der Kooperation und gemeinschaftliches Handeln dominierten, der entscheidende Faktor für die Ausbreitung des Menschen (was keineswegs ausschließt, dass es zwischen den Gruppen zu Streit und Auseinandersetzungen kam). Lediglich für die menschheitsgeschichtlich extrem kurze Zeit seit der Erfindung des Individuums ab dem 12. Jahrhundert bis heute entwickelte sich von Europa aus das Selbstbild eines vereinzelten Menschen, der sich selbst gottgleich als Mittelpunkt seiner Lebenswelt betrachtet, über die er zu herrschen bestrebt ist. Sein Denken und Handeln wird von der Überzeugung getragen, dass die gesamte lebende und unbelebte Umwelt lediglich zu seinem Gebrauch und Nutzen existiert. Sein Blick ist konsequent auf den eigenen Vorteil gerichtet, woraus ein beständiges Streben nach Dominanz, Konkurrenz und Kampf erwächst. Seine Selbstverwirklichung und Selbstoptimierung, die Perfektionierung seines Ichs und seines Körpers erlebt er als eine nicht zu hinterfragende zentrale Aufgabe, die ihn unter großen Druck setzt. Für dieses Individuum sind Horrorszenarien über die nach wissenschaftlichen Erkenntnissen zu erwartende Zukunft vielleicht interessant, aber nicht handlungsleitend. Sie lösen eher eine Trotzreaktion aus nach dem Motto: »Ich habe mir meinen SUV verdient, und davon lasse ich mich auch nicht abbringen.« Viele Menschen erkennen rational, dass sich das Individuum zu einem sehr machtvollen Lebewesen entwickelt hat und dass es aktuell diese Macht nutzt, um die eigenen Lebensgrundlagen zu zerstören. Sie befürworten auch politische Maßnahmen, die gegensteuern sollen – aber nur, solange sie in ihrem Bedürfnis nach optimaler Selbstdurchsetzung und Selbstverwirklichung nicht davon betroffen werden. Was aber kann den westlich geprägten Menschen motivieren, das doch völlig selbstverständlich erscheinende Bild von sich und seiner Beziehung zu seiner Umwelt neu zu denken und darauf aufbauend Veränderungen zu vollziehen? Dazu sollen Zweifel und Verunsicherung im Hinblick auf die Selbstverständlichkeit und Unhinterfragbarkeit des individuumzentrierten Menschenbildes geweckt werden. Deshalb werde ich mich mit der grundlegenden Bedeutsamkeit des Menschenbildes für das eigene Handeln beschäftigen, die Stellung des individuumzentrierten Menschenbildes der westlich geprägten Welt im Kontext anderer Menschenbilder aufzeigen und verdeutlichen, wie seltsam und merkwürdig dieses Menschenbild aus der Sicht anderer Kulturen erscheint, die wissenschaftlichen Hypothesen referieren, welche gesellschaftlichen Entwicklungen zu der Erfindung des Individuums seit Mitte des 11. Jahrhunderts geführt haben, die vier großen Kränkungen des Individuums im Laufe der vergangenen 9 Jahrhunderte schildern und darstellen, mit welch großem vorurteilsgeprägtem Einsatz vor allem die Wirtschaftswissenschaft trotz aller gegenläufigen Offensichtlichkeiten das Narrativ des von Natur aus selbstsüchtigen, egoistischen, auf den eigenen Vorteil bedachten Menschen aufgebaut und unter anderem durch Tabuisierung aller gegenläufigen Argumente und Erkenntnisse immer wieder verteidigt hat und verteidigt, um schließlich auf die aktuelle Zuspitzung der Ideen des Individuums und sein Scheitern einzugehen und die Hypothese zu verdeutlichen, dass die Epoche des Individuums im Rahmen der Menschheitsgeschichte als ein (in diesem Kontext minimal kurzes) Ausnahmephänomen anzusehen ist. Unter der Überschrift »Übergänge zu einem Selbstbild der Bezogenheit« werde ich die Hypothese vertreten, dass ein zukünftiges Menschenbild den Menschen als ein Beziehungsgeschöpf auffassen wird, und im Detail unterschiedliche, aber prinzipiell ähnliche Konzepte eines solchen beziehungsorientierten Menschenbildes vorstellen. Sodann wird die Bedeutung von Mitgefühl als Grundlage der Beziehung zu anderen Menschen, zu den Tieren und zu der nicht lebenden Natur erörtert und dargestellt, wie sehr nach wissenschaftlichen Erkenntnissen ein gutes Leben von guten Beziehungen getragen wird. Zusammenhalt und Solidarität werden als wichtige Merkmale eines Psyche und Körper stärkenden Menschenbildes...