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E-Book, Deutsch, 205 Seiten

Rotkopf / Steinweg Fetzen

Für eine Philosophie der Entschleierung

E-Book, Deutsch, 205 Seiten

ISBN: 978-3-7518-0530-8
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Eine Schriftstellerin und ein Philosoph tun sich zusammen, um sich zu fetzen? Der vorliegende Text jedenfalls ist ein Gewebe aus Sprachfetzen, die auf verschiedenen Ebenen miteinander kommunizieren. Motive wie Macht, Gewalt, Sex, Liebe, Angst, Schmerz spiegeln sich in einem Satz des Psychoanalytikers Jacques Lacan: "Jede wahre Liebe mündet auf den Hass." Es sind Geschichten von Paaren, die zusammen gehören wie Greta Thunberg und Pierre Casiraghi, Carolin Emcke und die CIA, Jacques Derrida und Marguerite Duras. Schlussendlich machen sich Rotkopf und Steinweg an die Dekonstruktion der French Theory. Sie weigern sich, in dieser faszinieren- den, so offenen wie entschiedenen Komposition sich verschränkender Aphorismen, Gedanken und Gedichte die unversöhnlichen und widersprüchlichen Anteile von Wirklichkeit auszuschließen.

So aktivieren sie den Entschleierungsprozess des poetischen wie philosophischen Denkens, um festzustellen, dass der Schleier oft nichts verbirgt, weshalb die Philosophie der Entschleierung feststellt: Die Masken haben ihre Brauchbarkeit verloren. Die Masken sind gefallen.
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Disputation um die Leere
Im Gespräch mit Xavière Gauthier insistiert Marguerite Duras auf der für den Schreibprozess konstitutiven Erfahrung der Leere. Sie setzt das Wort in den Plural. Es gebe da »Leeren, wenn Sie so wollen, die sich durchsetzen. […] da sind Leeren, die plötzlich sichtbar werden.«1 Vielleicht ist es das, was Duras Schreiben nennt: Öffnung auf die sonst unsichtbaren Leeren, die jede Bedeutungsarchitektur, jedes soziale Gefüge, jede Liebe, jede Freundschaft, jede Grammatik, jeden einzelnen Satz unterminieren. Die Leeren oder Leerstellen in der Realitätstextur wie in der Sprache werden entdeckt. Sie werden nicht aufgerissen, sie sind schon da. Vielleicht verschieben sie sich von hier nach da, vergrößern oder verkleinern sich. Aber sie sind da. Es sind apriorische, nicht leicht lokalisierbare Leeren, auf die die écriture von Duras zielt. Das unterscheidet ihren Begriff und ihre Praxis des écrire von der herkömmlichen Literatur, zumindest von einem großen Teil der literarischen Tradition. Man müsste hinzufügen, dass Maurice Blanchot, mit dem Duras befreundet war, womöglich über den Abstand und die Nähe einer gewaltigen Leere hinweg, kaum weniger mit der Leere befasst war, in ihren Modi des Verschwindens und der Abwesenheit. Die theologische Resonanz ist eklatant. Die mystischen Traditionen, die negative Theologie, auch Simone Weil, die Gott als Inexistenz begegnet, durch ein Schreiben, das den Charakter der Anrufung annimmt, des aporetischen Gebets. Auch das Schreiben von Duras richtet sich an die Insignifikanz und Inexistenz Gottes. Es ist ein Beten ohne Gott. Aber vielleicht immer noch ein Beten, der Griff ins Leere, den sich kaum ein Mensch versagt. Duras rührt an die der symbolischen Ordnung inhärente Dimension des Schweigens. Sie tut es in der Materialität der Sprache und Bilder. Im vollen Wissen darum, dass, nur weil Wissen nicht alles ist, das Unwissbare es genauso wenig sein kann, arbeitet Duras noch an der Zerstörung des letzten Rests Theologie. Dennoch gibt es bei ihr eine Art sakraler Dimension der Literatur. Analog zu Bataille wird das Sakrale seiner Vernichtung preisgegeben. Détruire, dit-elle – ist auch der Imperativ der Duras’schen Schreibpraxis im Allgemeinen. So wie es bei ihr heitere Verzweiflung gibt, die mit der Berührung der Leere koinzidiert. Jedenfalls öffnet Duras sich im Schreiben der ontologischen Inkonsistenz ihrer Welt. * Détruire, dit-elle. Ja, alles fängt mit diesem Satz an. Stein Weg, du erleuchtest uns die Welt zu Marguerite Duras. Ich möchte dich mir vorstellen, du über das Buch gebeugt. Ja, alles fängt mit diesem Satz an, für mich auch. Und alles fängt mit unseren gemeinsamen Referenzen an. Ohne Referenzen kein Denken. Das nennt man Wirklichkeit und Zynismus. Du hast mir einmal gesagt, du warst erst einmal schockiert von ihrer Schreibweise. Warum nochmal? Ich denke auch, dass Duras das Sakrale seiner Vernichtung preisgegeben hat, gedacht hat, formuliert hat, geschrieben hat, und das hat mein Glück ausgemacht. Das war eine Offenbarung. Im Gegensatz zu Bataille. Ich verstehe genau, was Michel Foucault meinte, ich folge aber seinen Gedanken nicht. Bataille war un vieux con2, ich musste lächeln, ich muss immer noch lächeln, wenn ich ihn lese. Seine Verzweiflung, mehr, sein Schmerz ist nicht glaubwürdig, es sind Posen, die mich zum Lachen reizen. Und ich bin auch nicht mit seiner Anschauung über die Menschheit einverstanden, die aus seinen Sätzen eitert. Ja, es berührt absolut die Leere. Die Leere eines Pariser Kitsches, eine gewisse Inkonsistenz, darüber hinaus Inkonsistenz einer Männlichkeit, an der man die Konsistenz des Todes und des Schmerzes zeigen will; irgendwie ist das traurig, weil ich auch hinter den Zeilen lese, dass er sich Mühe gegeben hat, une bataille3, er hat gelitten, wurde vielleicht tatsächlich von seinem Vater als Kind vergewaltigt, im Keller. Duras, ja, es ist das Alpha und Omega der Leere, ihre Konsistenz. Es ist spürbar, durch ihre Worte, hinter ihren Worten versteckt, aber trotzdem sensibel. Die heitere Verzweiflung, der sakrale Schmerz, ja. Bei Duras herrscht die existenzielle Angst der Abwesenheit. Ohne die sensiblerie von Bataille. Ist es möglich, dass viele Männer die Erfahrung der Leere als Angst vor der Leere empfinden und viele Frauen diese als Angst vor der Abwesenheit? Ich verachte Essenzialismus, und dies frage ich nur im Sinne des sozialen Geschlechts, der Gender. Ich frage mich, ob es mit der Erfahrung des Frau-sein-Müssens oder/und auch mit der Liebe in der Mutter- oder Vaterschaft zu tun hat. Ich finde es wichtig, diese-Liebe-da zu thematisieren, weil ich denke, dass sie uns am effizientesten helfen kann, um die Leere und die Abwesenheit zu erläutern, da sie auch als langweilig und trivial angesehen wird. Ich frage mich seit Langem, ob diese Angst vor der Abwesenheit nicht mit diese-Liebe-da und ihrer Verlustangst zu tun hat. Ich schließe also die Augen- und Bettgeschichten von Bataille aus. Liebe und Opfergabe, dass man so viel liebt, dass man lieber selbst verschwinden würde, als die oder den anderen nicht mehr sehen zu können. Der Schmerz der Abwesenheit ist bei Duras spürbar. Ihr Schreiben verkörpert die Existenzangst, diese Verlustangst, die Tiefe des Seins. Darüber hinaus gibt es eine Phänomenologie der Tiefgründigkeit des Seins durch diese Frage der Abwesenheit, die aus ihren Zeilen springt und einem an die Kehle geht. Heute genieße ich auch sehr die Duras’sche Ironie. Das ist Sakralität. Ich denke auch, dass dies mit dem Alter, mit der Distanz kommt. Le bleu du ciel est plutôt noir à l’œil4 Das Blau des Himmels ist eher das blaue Auge Leere versus Abwesenheit. Ich weiß nicht, was Leere bedeutet. Ich weiß nur, was Abwesenheit bedeutet. ROTER STEIN
Strand mit blutigem Sand Sand aus ovalen Gedanken Gedanken aus Sand Die dicke Gertrude Stein geschützt von einem Kollaborateur weil sie Reden von Maréchal Pétain ins Nordamerikanische übersetzte Blasen und Blasen fallen ins Meer wie tausende Sanduhren Die Zeit verging Keine Leere Wir würden gerne Gedichte zur Diplomatie lesen Beispielsweise zur internationalen Libyen-Konferenz vom 19. Januar 2020 in Berlin eingeladen von Angela Merkel Nicht in meinem Namen Waffenstillstand Keine Interventionen Kommunikation Heute Morgen in der U-Bahn auf dem Weg zurück aus der französischen Schule die nur noch französisch zur Dekoration ist meine deutschen Söhne hingebracht in Hamburg in Hamburg neben Lübeck neben der Lübecker Bucht Aïda, Cap Arcona, Kreuzfahrtschiffe Rote Steine neben Neuengamme neben Finkenwerder neben Airbus Defense and Space und umgekehrt Oval in der U-Bahn Linie U2 lese ich auf dem Bildschirm wie Deutschland als Chef der Diplomatie das Gute propagiert wie das Coronavirus Keine weiteren Unterstützungsleistungen Keine ausländischen Militäreinsätze mehr haben die europäischen Verantwortlichen beschlossen Schatten Kleine Bilder Kleine Souvenirs so wie es keine Leere gibt, gibt es keine Bilder sondern Fotografien gleitende Schatten schleichende Schatten Es geht nur darum Das ist das Einzige das zählt Umgeben von Schatten Eingekreist sind wir in der Europäischen Union. Kein Gedanke kein schönes ovales Gesicht ganz nach Botticellis Geschmack keine ovalen Gedanken nur ein Kreis Unmögliche Leere Kreis eines Puzzles das wir konstruieren müssen, wenn wir das Denken wollen Aufhören mit Details zu denken um das Puzzle nicht zu legen aus Angst vor Leere um das Ganze nicht zu sehen: die kommende Katastrophe Die Leere ist die des Menschen, der die Zeit leugnet: hier gibt es nur einen Weg zur Freiheit – der, welcher durch die Schornsteine führt Kopf weg Kopf ab * Und wenn der Essenzialismus seine Selbstverachtung in sich trüge, wie jeder philosophische Begriff den Keim seiner Zersetzung in sich trägt? In-sich-trägt und fort-trägt: ins Nirgendwo seiner Unbestimmtheit, an den einzigen Ort, an dem er sich legitimieren kann, den Schauplatz seiner Zerstörung, den das Denken – solange es Denken ist = mehr als Rekapitulation etablierter Meinungen –, statt ihn bloß aufzusuchen, offenzuhalten versucht. … wenn also Kopflosigkeit zum Begriff gehört, azephale Orientierungslosigkeit, konzeptuelle Schwebe und Ohnmacht, aus der es seine Kraft bezieht. Wäre diese Kraft dann etwas, was das Denken ins Ungewisse lenkt, ohne dass es sich verloren...


Marie Rotkopf, 1975 in Paris geboren, ist Autorin, Dichterin und Kulturkritikerin. Sie lebt seit mehreren Jahren in Deutschland, um darüber nachdenken zu können, was aus Europa geworden ist. Rotkopf beschäftigt sich mit der Konstruktion und Kommunikation von Macht. Sie interessiert sich für die Umschreibung der Geschichte und für die Poesie der Welt.  

Marcus Steinweg, 1971 in Koblenz geboren, ist Philosoph, lebt in Berlin und ist Professor für Kunst und Theorie an der Kunstakademie Karlsruhe. Er arbeitet seit den Neunzigerjahren mit den Künstlern Thomas Hirschhorn und Rosemarie Trockel zusammen und stellt eigenständige philosophische Begriffsdiagramme her. Viele seiner Texte und Vorträge bewegen sich an der Schnittstelle zwischen Kunst und Philosophie.


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