Roth / von Weizsäcker | Haltepunkte | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Roth / von Weizsäcker Haltepunkte

Gott ist seltsam, und das ist gut
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-451-82475-3
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Gott ist seltsam, und das ist gut

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

ISBN: 978-3-451-82475-3
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Sie bezeichnete sich einst als 'Logikschäfchen', er findet das 'Kreuz Jesu einfach nicht logisch'. Aus einem Facebook-Schlagabtausch zwischen Beatrice von Weizsäcker und Norbert Roth wird eine tiefe Freundschaft. Zwei Jahre später ist Roth der Erste, den Weizsäcker anruft, als ihr Bruder in Berlin ermordet worden ist – und sie fragt sich: 'Wo ist eigentlich dieser Gott?' 
In 'Haltepunkte' schreiben die Juristin und der Theologe und Pfarrer über die Orte, an denen sie Gott neu und anders erfahren haben: Berlin, Jerusalem, Heiligenkreuz, St. Ottilien und nicht zuletzt München, auch auf dem Oktoberfest. Es geht um Leid, Glück, Stille, Sehnsucht, Schuld und Tod, aber auch Themen wie Sterbehilfe und Konfessionsunterschiede. Ein Buch über die Gottsuche im Lärm und in der Stille.

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Norbert Roth Gott ist unlogisch
Der Schlüssel hatte schon die Temperatur meiner Hände angenommen. Mit ihm spielte ich, während der Hausmeister mir, ohne Punkt und Komma redend, alle Räume erklärte. Die Zacken des Bartes am Schlüssel zog ich unter den Nägeln hindurch. Immer wieder. Und überflog flüchtig die Wände, den Boden, die Decke im Flur. Ich besah die Küche, das Bad, die Toilette. Das Zickzack des Parketts schien wie ein Spiegel meines Inneren. Rauf und Runter, willkürlich verlegt und heute etwas stumpf. Eine hohe, hallige Wohnung, im Herzen der Stadt. Vor der Haustür Kastanien, mit Wiese und Bänken. Und direkt gegenüber ein backsteinroter, grünspanig bedachter Kirchturm. Ganz spitz. Mit goldenem Doppelkreuz oben und einer riesigen Uhr. Die II scheint verblasst mit den Jahren. Schaut aus wie abgewetzt, herausgefallen oder gestohlen – aus der Zeit. Wenige Tage zuvor war ich gewählt worden, zum Pfarrer einer Kirchengemeinde in München. Die erste richtige Stelle nach Studium, Lehr- und Wanderjahren. Ich wurde berufen, mit allem, was dazu gehört. Eben auch diese Pfarrwohnung. Heute war ich das erste Mal drin. Es roch noch nach Farbe, Silikon und Staub. Ich könne dem Maler nachträglich Bescheid geben, ließ der Hausmeister mich wissen, wenn ich eine Wand anders gestrichen haben wollte. Nicht nur in weiß. Ochsenblutrot ist bis heute die Wand hinterm weißen Klavier. Im Wohnzimmer eine Seite taubenblau. Alles dreht sich, alles kreist
Es ging alles sehr schnell. Es war, als ob ich eben noch in einem Karussell gesessen hätte, das sich schneller und schneller drehte, und ich den Moment verpasst hatte, rechtzeitig abzusteigen. Nachdem es mich rausgeschleudert hatte, befand ich mich dort, wo ich jetzt war. Ein Großstadtpfarrer! – Gott pflegt einen seltsamen Führungsstil. Denn geplant hatte ich das nicht. Leicht benommen, musste ich mich neu orientieren. Und fand mich in dieser fremden Wohnung wieder, meinem künftigen Zuhause. Als wir im leeren Kinderzimmer standen, schlug die Turmuhr mit der abgewetzten Zwei, dreiviertel wasweißich. Der Hausmeister erzählte von neu eingebauten Schallschutzfenstern und Denkmalschutzdingen. »Ach ja? Aha. Soso ...« Und ich merkte, dass der Schwindel blieb. Als wäre ich ins nächste Karussell gesetzt worden. Diesmal mit der Zuckerwatte einer gewonnenen Wahl in der Hand. Alles drehte sich, alles kreiste. Und ich hatte nicht mal die Chance, es von außen genau zu betrachten. So versuchte ich, mit den Augen eines der Gefährte zu fassen: War das ein Ross, eine Kutsche, ein Feuerwehrauto? Wollte sehen: Was erwartet mich? Aber es wirbelte alles, sodass ich nur bunte Streifen sah, wie man sie sieht, wenn etwas an einem vorbeieilt. Man steht und weiß, da passiert etwas, aber ich kann nur zuschauen. Manchmal kommen Veränderungen schleichend. Ein anderes Mal ändert sich Alles von heute auf morgen und man kommt mit dem Denken kaum nach. Die Seele erst recht nicht. Ach, die Seele! Die humpelt dem Leben sowieso hinterher. Immer braucht sie länger. Braucht ihre Zeit, bis sie sich gewöhnt. An einen neuen Menschen, an einen neuen Ort. Sie dunkelt langsamer nach und hellt sich verzögert auf – wie ein Foto im Entwicklungsbad. Ich glaube, das liegt dran, dass Gefühle Vertrauen brauchen. Man zeigt nicht jedem Angst und Unsicherheiten. Man zeigt Abneigung nicht – man ist ja seriös. Und Zuneigung macht anfangs sowieso nur nervös. Die erwachsene Seele überwacht immer ihr Tun. Trägt ihr Herz nicht – mehr – auf der Zunge und plappert drauf los. Sondern sie verschränkt ihre Arme und legt den Kopf leicht nach links. Beobachtet die Szenen, die Menschen, die Welt und legt, je länger je mehr, eine Schablone darauf: »Tat das schon mal weh?«, »Kenn ich das nicht?«, »Was will der von mir?«, »Nein, das geht doch so nicht!« Deswegen sind junge Tage und neue Orte oft so diffus. Weil alles innerlich flüstert und man mit sich selbst Stille Post spielt. Was man sich am Morgen sagt und sich vornimmt, klingt schon am Abend anders. Schick mich, wohin du willst
Eigentlich waren wir schon kurz davor gewesen, ins Kloster einzutreten. Und ein Teil von mir war auch schon dort. Oder jetzt: noch dort. Die Zeit, in der man sich vorzustellen und auszumalen beginnt, was man alles werden könnte, hatte bereits begonnen. Fünf Freunde und ich. Mönche im Kloster Heiligenkreuz. Sechs protestantische Zisterzienser. Es kam anders. Gott lenkt unsere Wege, auch wenn wir hinkend gehen. Es taten sich andere Türen auf. Wie ich es eigentlich schon gewohnt war von meinem Gott, dem mein Leben gehört. »Schick mich, wohin auch immer du mich brauchen kannst!«, war mein Gebet als junger Kerl. Brannte und glühte vor Jesuseifer. Und er nahm mich beim Wort. »Doch bloß nicht in den Busch.« Ergänzte ich scheufrech. »Da will ich nicht hin, lieber Gott! Das schaff ich nicht. Aber sonst – tu, was du willst.« Und wurde erhört. Mitten im Studium, mit 25 Jahren, malte ich mir aus, wie später meine Gemeinde gedeihen würde – gedüngt mit dem Wort und zur Liebe bereit. Ach, wie man halt träumt, wenn man so träumt von Zukunft und Wirkung. Mit 25 denkt man eh, man reißt die Welt ein. Strotzt vor Kraft und Lust und Mumm. Versteht auch den Satz nicht, dass die großen Heiligen von dem Gedanken durchdrungen waren, dass Gott sie nicht brauche. Man will das nicht verstehen, denn Gott braucht einen doch! Wenn nicht mich, ja wen denn dann? Wozu dann Berufung? Wenn’s am Ende eh wurscht ist, wer den Job übernimmt? Berufung ist doch, wenn Gott aus einem armen Fischer einen Apostel macht, aus einem, der verleugnet, jemanden, der am Ende bis in den Tod kopfüber treu bleibt. Wenn Gott aus einem, der zweifelt, einen macht, der dort hinfassen darf, wovon es seit Jahrhunderten heißt: »Durch diese Wunden sind wir geheilt.« Wenn Gott aus einem Planlosen einen Teil seiner Liebesgeschichte mit der Welt und den Menschen macht. Das ist Berufung. Wenn Gott etwas aus einem macht. So stellte ich mir mit 25 Jahren Berufung vor. Jetzt, in dieser neuen, leeren Münchner Wohnung war ich mir da nicht mehr so sicher. Ich hatte im Laufe der Jahre feststellen müssen, dass Berufung heute mehr und mehr vom Wort Beruf geprägt ist. Stärker als vom Wörtchen Ruf. Denn auch im geistlichen Leben gibt es so etwas wie Karrieredenken, einen Drang, sich zu optimieren. Nicht nur bei den hauptamtlichen Profis im Hierarchienspiel. Nein, auch außerhalb kirchlicher Kreise. Wir lesen die biblischen Berufungsgeschichten heute oft wie eine Art Muster und Ratgeber, um zu lernen, wie die eigene Lebensrolle am besten zu performen sei, die man im Drehbuch des Lebens zugewiesen bekam. Am besten mit Happy End, versteht sich: Abraham und Sara: Aus zwei kinderlosen Alten werden Eltern eines erfolgreichen Jungen. Mose: Aus einem stotternden Bauern wird eine Führungsperson, mit allen Wassern gewaschen. David: Aus einem verträumten Hirtenjungen wird ein messianischer König. Petrus: Aus einem Fischer wird ein Papst. … und aus einem Mörder wird ein Heiliger: Paulus. Ja, man kann die Berufungsgeschichten in der Bibel oder auch die Biografien der Mütter und Väter im Glauben von einem Vorher zu einem Nachher lesen. Wie beim Frisurencheck. Oder einer Nulldiät. Doch die Bibel kennt diese Art zu denken nicht. Sie denkt nicht in Evolutionen. Weder in den großen Entwicklungen noch in den kleinen. Für die Menschen der Bibel gibt es kein Upgrade fürs Meilensammlen oder für die Besten, die Schnellsten – die am meisten trainieren oder sich am leichtesten anpassen. Es gibt bei Gott kein Vorher. Kein Nachher. Es gibt immer nur Jetzt. Zwischen Nostalgie und Purzelbaum
Jetzt standen wir im Wohnzimmer, ich richtete mich schon ein. Hier kommt die Couch hin, der Fernseher daneben, und dorthin passt die weiße Kommode. Und ich sehe meine Möbel vor dem inneren Auge, Möbel mit Kratzern und Geschichten. Was waren das früher für schöne Zeiten. Schüchtern war ich und unglaublich nett. Ich weiß nicht, ob das heute noch gilt. Und ich seh an den Möbeln die Spuren und denke: Meine Seele ist wie sie, wie eine Schallplatte gerillt. Manche Kratzer, doch die Melodie stimmt. Die drei Jahre Frankfurt, die Wohnung war zu klein. So wurde ein Regal zersägt und verschraubt, damit es passte. Was anfangs noch schön war, verlor nach und nach. Weil ich mich verlor, auch im Wissen zu sein, wer ich bin und was ich werde. Drei Jahre spannende Arbeit im großen Freischwimmerbecken der ökumenischen Welt. Ein Job für die Einheit der Kirche. Das war okay. Aber war ich nun immer im Dienst, lieber Gott, ein Mönch ohne Kloster? Ich war zwar gerne allein, aber auch einsam. Das macht duster – das Lachen und Freuen, die Seele, den Glauben. Das war nicht mein Platz. Und Frankfurt reihte sich ein in die Schlange der Orte, die ich durchstreifte auf der Reise durchs Leben. Ich wusste, dass ich hier nicht bleibe, dass ich weitermusste und es Zeit war, meine Regale wieder ab- und an einem neuen Ort aufzubauen. Ich liebe das Leben. Es ist eines der Schönsten! Doch wo gehöre ich hin? Wo darf ich Liebe leben? Ich war wie gespreizt zwischen Nostalgie und Neugier, zwischen Panik und Purzelbaum. Und war froh, als die Zeit...


Roth, Norbert
Norbert Roth, geb. 1973, Dr. theol., ist Kaminkehrer, Musiker, Psychologe und Theologe. Derzeit wirkt er als Pfarrer der Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinde St. Matthäus in München (Bischofskirche) und ist in verschiedenen evangelischen Gremien vertreten. Bekannt ist er auch durch seine Beiträge für den BR und Antenne Bayern u.a.

von Weizsäcker, Beatrice
Beatrice von Weizsäcker, geb. 1958, Dr. jur., ist Juristin und Publizistin. Seit 2003 lebt sie als freie Autorin in München. Sie spricht und schreibt regelmäßig für den Bayerischen Rundfunk und evangelisch.de. Weizsäcker, langjähriges Präsidiumsmitglied des evangelischen und des ökumenischen Kirchentags, trat Anfang 2020 zum katholischen Glauben über.

Norbert Roth, geb. 1973, Dr. theol., ist Kaminkehrer, Musiker, Psychologe und Theologe. Derzeit wirkt er als Pfarrer der Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinde St. Matthäus in München (Bischofskirche) und ist in verschiedenen evangelischen Gremien vertreten. Bekannt ist er auch durch seine Beiträge für den BR und Antenne Bayern u.a.
Beatrice von Weizsäcker, geb. 1958, Dr. jur., ist Juristin und Publizistin. Seit 2003 lebt sie als freie Autorin in München. Sie spricht und schreibt regelmäßig für den Bayerischen Rundfunk und evangelisch.de. Weizsäcker, langjähriges Präsidiumsmitglied des evangelischen und des ökumenischen Kirchentags, trat Anfang 2020 zum katholischen Glauben über.



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