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E-Book

E-Book, Deutsch, 672 Seiten

Roth Orkus

Reise zu den Toten
1. Auflage 2011
ISBN: 978-3-10-401324-4
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Reise zu den Toten

E-Book, Deutsch, 672 Seiten

ISBN: 978-3-10-401324-4
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



32 Jahre lang hat Gerhard Roth an seinen beiden Romanzyklen »Die Archive des Schweigens« und »Orkus« gearbeitet - ein einzigartiger Kosmos der Literatur und des Denkens, der neben klassischen Romanen auch dokumentarische und essayistische Bände umfasst. Der Band »Orkus« ist der Schlussstein dieser monumentalen Arbeit und nicht überbietbarer Endpunkt: ein autobiographischer Roman, in dem das Leben des Autors mit dem seiner Figuren auf faszinierende Weise verschmilzt. »Orkus« ist die Essenz eines Schriftstellerlebens: ein Buch über das Wesen des Menschen, die Wahrnehmung der Welt, die Suche nach einer anderen Wirklichkeit. Eine lange Reise zu den Toten und der grandiose Versuch, das Leben zu verstehen, ohne es zu zerstören. Zum Werk von Gerhard Roth gibt Auskunft der Materialienband »Die Zeit, das Schweigen und die Toten«, herausgegeben von Jürgen Hosemann.

Gerhard Roth, geboren 1942 in Graz und gestorben im Februar 2022, war einer der wichtigsten österreichischen Autoren. Er veröffentlichte zahlreiche Romane, Erzählungen, Essays und Theaterstücke, darunter den 1991 abgeschlossenen siebenbändigen Zyklus »Die Archive des Schweigens« und den nachfolgenden Zyklus »Orkus«. Zuletzt erschienen die drei Venedig-Romane »Die Irrfahrt des Michael Aldrian«, »Die Hölle ist leer - die Teufel sind alle hier« und »Es gibt keinen böseren Engel als die Liebe«. Sein nun letzter Roman »Die Imker« ist im Mai 2022 erschienen. Literaturpreise (Auswahl): Preis der »SWF-Bestenliste« Alfred-Döblin-Preis Marie-Luise-Kaschnitz-Preis Preis des Österreichischen Buchhandels Bruno-Kreisky-Preis 2003 Großes Goldenes Ehrenzeichen der Stadt Wien 2003 Jakob-Wassermann-Preis 2012 Jeanette-Schocken-Preis 2015 Jean-Paul-Preis 2015 Großer Österreichischer Staatspreis 2016 Hoffmann-von-Fallersleben-Preis 2016
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Die gelbe Farbe


Van Gogh ist ein Künstler, der den Zauber des Alltäglichen zum Vorschein bringt. Noch im Gewöhnlichsten macht er einen Funken der Schöpfung sichtbar. Gerade dort, begriff ich, wo man zur Erklärung seiner Bilder den Wahn zu Hilfe nahm: in der Darstellung des Sternenhimmels, der Felder, der Zypressen, ja sogar der Möbel in einem Zimmer. Vor allem aber mit der Farbe Gelb brachte er das verborgene Leben der Atome und Moleküle in den Dingen und Pflanzen zum Vorschein, die innere, für das Auge unsichtbare Bewegung im Festen, seine pulsierende Struktur, seine fortlaufende Veränderung in der Zeit. Van Goghs Bilder sind wie stehende Fische in durchsichtigem Gewässer oder mit offenen Augen träumende Menschen. Damals dachte ich, dass nur ein Wahnsinniger, ein Selbstmörder, ein Verfolgter die Welt so sehen und verstehen könne. Ich wünschte mir, wenn ich in den beiden Briefbänden las und die Abbildungen betrachtete, dass die Wände meines Zimmers atmeten und ihre Farbe mit jedem Luftholen veränderten oder dass sich die Anatomie von Mensch, Tier und Pflanze und die physiologischen Abläufe in ihrem Inneren vor meinen Augen entfalteten und ich die unsichtbare Wirklichkeit zusammen mit der sichtbaren erkennen könnte. Ich stellte mir eine eigene irrationale Welt vor, keine phantastische, sondern eine, die ihre Geheimnisse offenbarte. Nach meiner Rigorosumsprüfung in Physik dachte ich an den »Eddington’schen Tisch«, der für den Wissenschaftler aus beweglichen Molekülen und Atomen bestand. Und nachdem ich das menschliche Gehirn studiert hatte, versuchte ich – wenn ich mit jemandem sprach – mir den Denkprozess in allen Einzelheiten vorzustellen, und ich grübelte darüber nach, wie sich meine Erinnerungen veränderten oder aus meinem Gedächtnis verschwanden, als seien sie fotografische Bilder, die dem Sonnenlicht ausgesetzt, oder Tonbänder, die mit einem Magneten in Berührung gekommen waren. Doch ging es mir nicht um wissenschaftliches Verständnis, sondern um eine poetische Zusammenschau verschiedener Sichtweisen, die den Dingen und Lebewesen erst ihre Geheimnisse und Einzigartigkeit verlieh. Es waren Ahnungen, keine Gewissheiten, mit denen ich mich beschäftigte. Van Goghs Bildern wohnte etwas Religiöses inne, sie schienen zu beweisen, dass die Schöpfung etwas Heiliges war, das sich dem Verstand nicht offenbarte. Er unterschied nicht zwischen Wichtigem und Nebensächlichem, nicht zwischen Schönem und Hässlichem, sondern vermittelte die Magie, die dem Nebensächlichen, dem Unauffälligen, dem Banalen innewohnt. Das traf mich, wie man sagt, mitten ins Herz und weckte etwas in mir, das ich schon gewusst, aber noch nicht gedacht hatte. Das Flimmern der Welt war mir zwar schon durch die Bilder der Impressionisten bekannt gewesen – vor allem durch Monet –, aber niemand hat es so existentiell und gleichzeitig rätselhaft gemalt wie van Gogh. Besonders faszinierten mich seine Aufenthalte in den Irrenhäusern von Auvers und Saint-Rémy, und ich empfand eine geheime Sehnsucht nach dem Wahn und der Gedankenfreiheit der Irren, von der ich bald schon wusste, dass es sie nicht gab und dass die Originalität, die mir auffiel, das Ergebnis innerer Zwänge war. Auch wenn ich mit den Jahren mehr und mehr Einblick in das Leben von Geisteskranken gewann, so gab und gibt es doch immer noch Momente der vorbehaltlosen Bewunderung, auch wenn ich sie mir nicht mehr eingestehen mag. Diese romantische Vorstellung war und ist der Antrieb für mein nie nachlassendes Interesse an ihnen, und es war mir oft, als würde ich einen tiefen Blick in das eigene Unbewusste werfen und nicht in das von sogenannten Narren. Das Unbewusste der Patienten, denke ich mir, hat durch einen krankhaften Prozess die Oberhand über ihr Bewusstsein gewonnen, so dass sie mit offenen Augen traumwandeln wie die von van Gogh Portraitierten oder er selbst auf seinen Bildern. Wenn ich glaubte, einen Blick in das Unbewusste zu werfen, hatte ich auch das Gefühl, im nächsten Moment Gedanken lesen zu können – ein weiterer durchaus lächerlicher Irrtum, den ich nur festhalte, um Einblick in meine eigenen Gedanken zu geben. So wie man in Gesellschaft einer Hauskatze oder eines Hundes, der sein Dasein mit einem teilt, immer wieder das Gefühl hat, diese würden sogleich zu sprechen anfangen, so nahe wähnte ich mich auch dem Zeitpunkt, endlich die Gedanken von Menschen lesen zu können. Natürlich war es ein Glaube, den mir mein Verstand verbat, doch gab es Augenblicke, in denen ich schon vorher wusste, was mir ein Mensch später sagen würde oder wie sich eine Situation weiterentwickelte. Das nahm ich immer mit einem Gefühl der Irritation wahr.

Ich war fest davon überzeugt, dass die Dinge – wie in van Goghs Bildern – lebten, aber ich erfuhr die Bestätigung meiner These nur in Ansätzen. Selbstverständlich hielt ich mich nicht für verrückt, ich vermutete allerdings, dass die meisten Menschen diese Eigenschaft besaßen, aber unterdrückten, weil sie Angst davor hatten. Erst während meiner Erkrankung an Depressionen im Alter von fünfzig Jahren erfuhr ich die lang gesuchte und erahnte Welt selbst und das Grauen, das damit verbunden ist. Ich lag ausgestreckt auf meinem Bett – jeder noch so unbedeutende Gedanke kostete mich Mühe und erschöpfte mich. In meinem Zustand der Trostlosigkeit und bald auch der Hoffnungslosigkeit erschien mir alles leer und sinnlos. Aber die Falten meiner Decke, bildete ich mir ein, die Maserung des Parkettbodens, das Muster der Tapeten, meine Fingernägel hatten plötzlich eine Bedeutung, die ich vergeblich zu enträtseln suchte. Der Gedanke, dass diese Dinge auch anders sein könnten, als sie offensichtlich waren, bestürzte mich damals, denn er war mit dem Verlust der Selbstverständlichkeit verbunden. Die gesuchte Bedeutung bezog ich allerdings nicht auf mich, sondern ich erfuhr, dass es Zusammenhänge gab, die ich nicht begriff, und bildete mir ein, dass mich die Dingwelt deshalb verhöhnte. Durch das angelehnte Fenster drang ein aufdringlicher Küchengeruch in das Zimmer und verband sich mit dem Schuh, den ich zwischen zwei Sesselbeinen erblickte, der Spiegelung des Raums in der weißen Kugellampe über meinem Kopf, einem Stapel Bücher auf dem Tisch, von denen ich nur die Rücken sah, verband sich mit dem Gasheizkörper, dem Titelblatt des Magazins »Der Spiegel«, das mir vorkam wie eine Nachricht der Außenwelt, und einigen Seiten meines Manuskriptes, an dem ich gearbeitet hatte und von dem ein Schriftwirbel ausging, der gleich darauf in sich zusammenbrach – ein Massengrab der Wörter und Sätze, wie ich dachte. Ich bewegte meinen Kopf nicht und glotzte immer nur die gleichen Dinge an, die sich nicht veränderten, aber etwas bedeuteten, das mir lange verschlossen blieb, bis ich begriff, dass sie mein Ende verkündeten. Es war eine nüchterne Erkenntnis, ohne Schrecken, ohne Gefühle – ich würde zu einem Ding werden, wenn ich es nicht schon war. Und wirklich war mein Kopf so müde, dass ich meinen Körper nicht mehr spürte, obwohl ich meine Beine, den Brustkorb unter dem Hemd und meine Hände sah, die aber nicht zu mir gehörten. Ich dachte an Selbstmord, nicht um die Qual zu beenden, sondern weil es das Naheliegende war. Ich verwarf aber jede Methode, die mir einfiel, weil sie mit Anstrengung verbunden war, vermutlich auch, weil ich nicht den Mut aufbrachte, es zu tun. Van Gogh hatte in einem solchen Augenblick zur Pistole gegriffen, nehme ich an, aber ich bin nicht davon überzeugt, dass er den Tod suchte, sondern dass er – neben seinen existentiellen Problemen, die ihm ausweglos erschienen – vielleicht verwirrt war über die Zusammenhänge der Dinge, die er beim Malen entdeckt hatte, erschrocken und voller Zweifel über das, was er auf der Leinwand vor sich sah, über die Offenbarungen seines Unbewussten, das er nicht kannte, obwohl er sich ihm anvertraut hatte. Er hatte, vermutete ich, sich in den Kopf geschossen wie ein Kind, das mit einer Pistole spielt und neugierig ist, was geschieht, wenn es abdrückt. Zumindest aber, dachte ich weiter, war ebenso viel Neugierde und eine Form von Spiel dabei gewesen wie der dringliche Wunsch zu sterben. Die Sucht, das wahre Leben zu spüren, das verlorene Paradies zu entdecken, hatte ihn immer auswegloser in das Elend geführt. Aber wie stand es mit mir selbst? Ich spürte ja keine Verzweiflung, nur Kraftlosigkeit. Wie mein Körper zu einem Ding geworden war, war auch mein Denken langsam abgestorben und dinghafter geworden, dem Augenblick verhaftet, als sei ich ein Nussknacker aus Holz. Ich lag jetzt wirklich wie ein Ding in einer Spielzeuglade. Später verstand ich, wie so oft in meinem Leben, dass die Märchenwelt nur eine schlafende, vergessene Welt ist, die allmählich durch die Wissenschaft bestätigt wird: In der Mathematik und Physik, den Forschungen der Psychiatrie, der Pharmakologie und Biologie erwacht diese Märchenwelt und gewinnt eine neue Bedeutung, auch wenn die Begriffe, mit denen man sie beschreibt, andere geworden sind.

Ich hörte damals aber keine Tiere sprechen, sondern war in ein Objekt verwandelt und musste die banale Last der Sinnlosigkeit erfahren. Als ich wieder zu mir kam, nach Wochen und Monaten, in denen ich alles nur als Mühe empfunden hatte, selbst die geringsten und alltäglichsten Handgriffe, zweifelte ich daran, ob das, was ich erlebt hatte, überhaupt Wirklichkeit gewesen war. Andererseits war ich nicht mehr der, der ich vorher gewesen war, denn das Wissen um den Abgrund, der sich hinter meinem Rücken aufgetan hatte und in den ich fast gestürzt war, ließ mich von da an mitunter auch in Momenten der Freude die Bewegungslosigkeit und Einsamkeit spüren, denen ich ausgesetzt gewesen war. Nur...


Roth, Gerhard
Gerhard Roth, geboren 1942 in Graz und gestorben im Februar 2022, war einer der wichtigsten österreichischen Autoren. Er veröffentlichte zahlreiche Romane, Erzählungen, Essays und Theaterstücke, darunter den 1991 abgeschlossenen siebenbändigen Zyklus 'Die Archive des Schweigens' und den nachfolgenden Zyklus 'Orkus'. Zuletzt erschienen die drei Venedig-Romane 'Die Irrfahrt des Michael Aldrian', 'Die Hölle ist leer – die Teufel sind alle hier' und 'Es gibt keinen böseren Engel als die Liebe'. Sein nun letzter Roman 'Die Imker' ist für Mai 2022 geplant.Literaturpreise (Auswahl):

Preis der 'SWF-Bestenliste'
Alfred-Döblin-Preis
Marie-Luise-Kaschnitz-Preis
Preis des Österreichischen Buchhandels
Bruno-Kreisky-Preis 2003
Großes Goldenes Ehrenzeichen der Stadt Wien 2003
Jakob-Wassermann-Preis 2012
Jeanette-Schocken-Preis 2015
Jean-Paul-Preis 2015
Großer Österreichischer Staatspreis 2016
Hoffmann-von-Fallersleben-Preis 2016

Gerhard RothGerhard Roth, geboren 1942 in Graz und gestorben im Februar 2022, war einer der wichtigsten österreichischen Autoren. Er veröffentlichte zahlreiche Romane, Erzählungen, Essays und Theaterstücke, darunter den 1991 abgeschlossenen siebenbändigen Zyklus 'Die Archive des Schweigens' und den nachfolgenden Zyklus 'Orkus'. Zuletzt erschienen die drei Venedig-Romane 'Die Irrfahrt des Michael Aldrian', 'Die Hölle ist leer – die Teufel sind alle hier' und 'Es gibt keinen böseren Engel als die Liebe'. Sein nun letzter Roman 'Die Imker' ist für Mai 2022 geplant.Literaturpreise (Auswahl):

Preis der 'SWF-Bestenliste'
Alfred-Döblin-Preis
Marie-Luise-Kaschnitz-Preis
Preis des Österreichischen Buchhandels
Bruno-Kreisky-Preis 2003
Großes Goldenes Ehrenzeichen der Stadt Wien 2003
Jakob-Wassermann-Preis 2012
Jeanette-Schocken-Preis 2015
Jean-Paul-Preis 2015
Großer Österreichischer Staatspreis 2016
Hoffmann-von-Fallersleben-Preis 2016



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