E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Roth Gottesquartett
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-451-82155-4
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Erzählungen eines Ausgewanderten
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-451-82155-4
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der Tod seiner Therapeutin bewegt einen bekannten Schriftsteller dazu, nach Los Angeles zurückzufliegen, um an ihrer Gedenkfeier in den Hügeln Malibus teilzunehmen. Im Gepäck hat er das Gottesquartett, vier erzählende Essays, die er ihr gewidmet hat. Während die Stadt von Bränden bedroht wird, der Ort der Feier in die Gefahrenzone gerät, ihm nur vier Nächte bis zum Rückflug bleiben, liest und bespricht er die Texte im Kreis seiner Freunde. Gottesquartett erzählt von einer neuen, notwendig gewordenen Erfahrung des Göttlichen und der Seele. Ausgehend von profanen Alltagserlebnissen dringen die Texte erzählend bis zur Kerntiefe archetypischer Bilder vor, wo die Erfahrung biblischer Figuren wie Abraham, Samuel, Simson und Paulus sich bündelt, sich zündend in uns wirft. Auf brillante Art spürt Patrick Roth diesen Figuren nach, macht sie lebendig und weckt das Feuer, das in ihnen schlummert. Ein Meisterwerk!
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Erster Tag
Im Dunkeln. Was war da? Ein Funke. Dem folgte ich nach. Da kam ich in einen dunklen Wald. Sah schwach beschienen vom Funken: die Schemen riesiger Stämme. Und betrat eine Lichtung, bleichkreidene Lichtung. Ihr Licht aber – unbestimmbar woher. Und der Funke, er hielt nicht, sondern hielt zu auf eine mächtige Kathedrale, die sich im Eiland der Lichtung erhob. Und ich folgte ihm nach, ins Gebäu der Kathedrale hinein. Und – erschrak. Wäre der ziehende Funke nicht gewesen, ich hätte nicht folgen, nicht sehen können, wäre erstarrt. Denn das Innere der Kathedrale war Wald. War dichter Wald. Bis in die Seitenschiffe hinein hatten sich riesige Wälder getrieben, hatten sich ausgebreitet bis hoch unters Dach. Und das war geschehen, wie ich fühlte, her vom Altar, der selbst so klein und so schwach wie ein Fünkchen glühte in Finsternissen. So unendlich fern schien er mir. Und im Dickicht der Wälder wär er mir nicht mehr erkennbar gewesen, hätt ich ihn nicht, gleich nach Betreten, längs der Achse des Hauptschiffs erwartet, ja ihn mit dem Auge gesucht, hin durchs Dickicht des Walds, den Altar. Ganz dort hinten müsste er sein, dachte ich. Ja, dort etwa, dort etwa wäre er, wenn … – Und da erst, da erst glaubte ich es zu erkennen: ein Fünkchen, im Chaosgeflecht der Zweige verloren, der schlingenden Äste, der Macht der Stämme des Walds. Und als ich es sah, als es mich sah … stach es auf stach auf, als begehre es Sicht stach auf gesehen zu werden im Stich stach hinauf in der Flamme. Da brannte das Dunkel des Walds, her vom Altar. Und stachen hoch zu den Wäldern des Dachs seine Flammen, dass auch diese flammend aufstachen und das Dach zum Himmel hin barst, frei brach im Pfeilstich die Sicht in die Himmel, frei, als Jahrhunderte brannten. So sah ich’s, als ich während des Flugs von Frankfurt nach Los Angeles eingeschlafen war. Bilder der brennenden Notre Dame, wie ich sie im April 2019 sicherlich nicht gesehen hatte. Es war ja, als sei ich im Traum Zeuge eines Funkens geworden, von dem manche sagten: der habe den Brand ausgelöst. Und was hatte den Brand im Träumer selbst ausgelöst? Als erstes fiel mir ein, dass zwei französische Passagiere in der Reihe hinter mir ein brennendes Thema – ihre Stimmen wurden heftiger, stachen auf etwas ein – diskutierten, ich vielleicht das eine oder andere Wort mit in den Schlaf genommen hatte. Dunkel erinnerte ich mich, dass die Rede von einem »riesigen Schaden« gewesen war. Aber das Wort »Kathedrale« oder gar »Notre Dame«, das Wort »Feuer« oder »Flamme« war, glaubte ich sicher zu wissen, nie gefallen. Jetzt jedenfalls schwiegen sie. Ich beugte mich seitlich, sah durch den Spalt meiner Sitzreihe zurück. Sie schliefen. Ich nahm meinen kleinen Sony-Recorder, diktierte mir einige Sätze zum Traum, Assoziationen zum »Fünkchen«. Zunächst mal, schien mir, hatte ich gar keine. Ich sah es nur vor mir, wieder vor mir. Und hielt fest, dass »alles damit begonnen hatte«. Auch mein Gefühl war zunächst blind, wie verschwommen. Als stellte es sich blind. Nein, als stellte mein Ich es blind, rettenden Abstand zu gewinnen. Umso heftiger war es während des Traums gewesen, brannte roh: im Befreiungsschlag noch nach oben. Aber was war das? Es war ein Gefühl, das ich auch in der Stimme meiner Schwester zu hören glaubte, damals, im April, als wir telefonierten und sie durch ihr Wohnungsfenster dem realen Brand der Kathedrale zusah. Auch bei Fernsehaufnahmen tauchte es auf, am selben Abend, als ich Menschen dem brennenden Gotteshaus gegenüber auf die Knie gehen sah. Ich hätte das nicht gekonnt. Ich hätte es nicht gezeigt. Aber, siehst du, dachte ich dann: Die wollen es gar nicht zeigen. Denen ist deine Reaktion, der Blick anderer, völlig egal. Die sind … – nahe dem Feuer. Ja, genau – hier war das Bild, auf das mein Gedanke gewartet hatte: Wem beten sie zu? Vor wem beugen sie ihre Knie? Denn Who shall stand when He appeareth? Wer wird stehen, wenn Er erscheint? Und wer kommt da im Feuer? Im Funken, den wer ausgelöst hatte? Mir schien dieser Funke wie ein Funke des Steins im Traum Nebukadnezars, der ohne Zutun von Menschenhand losbrach und einbrach ins große, außerordentlich glänzende, erhabene Standbild, um es – wie Davids Kiesel den Riesen Goliath – schmetternd zu Fall zu bringen. Aber, dachte ich, könnte der Traum auch mit dem Grund meiner Reise nach Los Angeles zu tun haben? Eine alte Freundin, Dianne, war zwei Wochen zuvor verstorben. Sie und ihr Mann – Psychotherapeuten, die ich Anfang der neunziger Jahre kennengelernt hatte – waren starke, bestätigende Einflüsse auf die Richtung gewesen, in die mein Schreiben sich damals entwickelte. Als ich Gottesquartett vor ein paar Monaten beendet und Dianne gewidmet hatte, schrieb ich ihr nichts davon. Es sollte ja eine Überraschung werden. Wyatt, mein amerikanischer Übersetzer, würde ihr das Manuskript übergeben. »Sobald du eine Rohfassung davon hast«, hatte ich ihn gebeten. Denn ich wusste, dass es Dianne gesundheitlich nicht gut ging. Dann die Nachricht vom Tod. Und was war das jetzt also? Ich, mit dem gewidmeten Manuskript im Gepäck, auf meinem ersten Flug nach L.A. seit sieben Jahren. Ich war unterwegs zu einer Gedenkfeier, die ihr zu Ehren morgen in den Hollywood Hills stattfinden sollte, aber … War das nicht eine »Pilgerfahrt«? Also könnte sich mein Traum von vorhin doch auf Dianne beziehen? Ausgeschlossen. Dafür waren seine Bilder zu unpersönlich, zu über-persönlich gehalten. Das war ein archetypischer Traum, dachte ich. Aber ich dachte auch: Das war »ein archetypischer Traum, wie Dianne sagen würde«. Er könnte sich, dachte ich, auf die Wandlung des Gottesbilds beziehen. Auf unsere Einstellung zum »höchsten Wert«, zu einem Unendlichen also, auf das wir bezogen wären oder dem wir unbezogen gegenüberstünden, gar seiner gänzlich unbewusst wären. Jedenfalls dient das »alte Haus« IHM nicht mehr. Zuviel Unbewusstes, Undifferenziertes hätte sich darin breitgemacht. Das ehrwürdig alte Gefäß unseres Glaubens wäre ins Unbewusste gefallen, sein Inneres zur Wildnis geworden, sagte das Traumbild. Und: »her vom Altar« … wuchs der Wald, sagte es andeutend. Das wiederum hieße, Gott selbst stünde dahinter, hinter solcher Entwicklung. Auch hinter dem Funken, dem Licht in der Finsternis, dem Stich dann der Flamme. Was wir als »Gott« bezeichnen, will ein neues Gefäß, kann jedenfalls – zum Zeitpunkt unserer Entwicklung – nicht mehr »gefasst« werden, würde das heißen. Nicht mehr wie bisher. Ein Durchbruch der Sicht auf »die Himmel«, den der brennende Wald besorgt, im Brand intensivsten Affekts verwirklicht, könnte deuten auf einen Ausbruch unbewusst wuchernden, feurigst geladenen Gefühls im Kollektiv »Christenheit«. Gleichzeitig auf einen neuen, lebendigen Einfluss »offenen Himmels«, neues Sehen und Gesehenwerden, aber auch neues Ausgesetztsein, Zeit höchster Gefahr. Aber warum käme mir so ein Traum jetzt, auf dieser Reise zurück? Noch eine Stunde bis zur Landung in Los Angeles. Ein paar Tage nach der Meldung von Diannes Tod ging ich alte Aufzeichnungen durch, die nach Gesprächen mit ihr entstanden waren. Es muss 1998 gewesen sein, Ed – Diannes Mann – war gerade gestorben. Wir besprachen einen Traum, den sie mir mitteilte. Dabei müssen wir darüber gesprochen haben, wie ernst ein Zeichen zu nehmen wäre, das man von einem Toten erhält. Diese Dinge sind ja letztlich kaum mitteilbar. Sagen wir, jemand erzählt uns einen Traum, sein verstorbener Vater sei ihm – plötzlich, viele Jahre nach dessen Tod – im Traum wieder erschienen. Manchmal ist der Träumer ja dann doch wach genug, glaubt im Traum, dem Verstorbenen die Frage stellen zu müssen. Sie lautet meist: »Wie ist es dort? Wie geht es dir dort? Ist es mitteilbar?« Oder der Träumer freut sich so über das Traum-Wiedersehn – vielleicht fand sogar eine erlösende Umarmung statt –, dass er sich erst im Nachhinein sagt: »Ich hätte ihn eigentlich fragen sollen, wie es dort ist.« Letztlich meint er damit, ob dieser Verstorbene denn nun wirklich war, wirklich ist, oder, wie man meist angibt, eben »nur« geträumt worden war, außerhalb des Hirns dieses Träumers aber nicht existiert. Damals muss ich – spielerisch vielleicht, zunächst spielerisch, beim Durchspielen gewisser Gedanken – wie nebenbei zu ihr gesagt haben: »Wer von uns beiden zuerst stirbt, gibt dem anderen ein Zeichen. Ein untrügliches Zeichen seiner Existenz. Traumunabhängigen Existenz.« So lautete auch die Notiz. Die sprang mich an. Dass ich »jetzt« – gerade jetzt wieder – auf diese Zeilen gestoßen war! Natürlich Zufall. Beim Durchlesen alter Aufzeichnungen. Warum käme mir nicht auch so eine Notiz unter die Augen? Zufall. Ich sprach niemandem davon, ließ den Fund im Gedankenhintergrund wieder verschwinden. Und doch könnte es, vielleicht gerade deshalb, der eigentliche Impuls gewesen sein, der mich die Reise antreten ließ. Ja, ich war eingeladen worden, bei Diannes Gedenkfeier zu reden, ein paar Worte zu sagen. Das war die Antwort der...




