E-Book, Deutsch, 252 Seiten
Ross Die Nacht der Wale
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-7641-9208-2
Verlag: Ueberreuter Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 252 Seiten
ISBN: 978-3-7641-9208-2
Verlag: Ueberreuter Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Christopher Ross schreibt romantische Abenteuer mit Spannung und Gefühl. Durch Bestseller wie »Das Geheimnis der Wölfe« und »Mein Freund, der Husky« wurde er einem großen Publikum bekannt.
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»Was soll ich?«, rief Caroline entsetzt. »Ich kann diesen Mann nicht heiraten, Mutter! Ich liebe ihn nicht! Ich finde ihn nicht mal sympathisch! Um ehrlich zu sein, er geht mir auf die Nerven! Das ganze Jahr ist er schon hinter mir her! Er will einfach nicht einsehen, dass ich nichts mit ihm zu tun haben will! Nein, das kannst du nicht von mir verlangen!« Sie wandte sich vom Fenster ab und blickte ihre Mutter verwundert an. »Wie kommst du überhaupt darauf? Hat er … hat er etwa um meine Hand angehalten?«
»Nein, noch nicht«, antwortete ihre Mutter. »Aber ich bin mir sicher, er wird bald den Mut dazu aufbringen. Dein Vater und ich hoffen sehr, dass du seinen Antrag annimmst. Einen besseren Mann als Charles findest du nicht. Er gehört zu einer der reichsten Familien des kanadischen Westens, er ist gebildet und hat Humor und er sieht, wie ich meine, auch sehr gut aus. Die meisten jungen Damen, die wir kennen, würden alles dafür geben, seine Bekanntschaft zu machen. Verbau dir diese Chance nicht, Caroline!«
»Aber ich liebe ihn nicht, Mutter! Wie kann ich einen Menschen heiraten, den ich nicht liebe? Und warum überhaupt diese Eile? Ich bin noch nicht mal volljährig! Willst du mich unbedingt unter die Haube bringen?«
»Charles King ist der Neffe des reichsten Eisenbahnaktionärs in ganz Kanada. So ein Mann wartet nicht gern. Und er hat keine Zeit, sich mit den Launen eines unentschlossenen Mädchens zu beschäftigen. Ergreife diese einmalige Chance, Caroline!« Ihre Stimme wurde sanfter. »Und wegen der Gefühle mach dir keine Sorgen. Liebe kann man lernen. Ich war auch nicht in deinen Vater verliebt, als er mir den Heiratsantrag machte. Wir haben uns im Laufe der Jahre arrangiert. Viel wichtiger ist der Respekt, den man seinem Partner entgegenbringt.« Sie ging ein paar Schritte und rückte das Spitzendeckchen auf dem ovalen Tisch zurecht. »Oder gibt es da etwas, das ich wissen müsste?« In ihren Augen glomm Misstrauen. »Du hast doch keinen anderen Freund … ich meine … ich muss mir doch keine Sorgen machen?«
»Einen anderen?« Caroline lachte. »Wie denn? Auf dem Internat, der Lehranstalt für höhere Töchter …«, sie sprach den Namen ihrer ehemaligen Schule mit deutlichem Missfallen aus, »… konnte ich doch keinen Schritt tun, ohne dass mir eine Lehrerin auf den Zehen stand! Und seitdem ich zu Hause bin, lässt du mich Tag und Nacht von Rosalyn bewachen!« Sie unterdrückte mühsam ihre Wut. »Wozu brauchen wir überhaupt ein Dienstmädchen?«
»Ich dachte, das wüsstest du«, erwiderte ihre Mutter vorwurfsvoll. »In der gehobenen Position deines Vaters schickt es sich einfach, ein Dienstmädchen zu beschäftigen. Das war in England so und das ist hier in Kanada ganz genauso. Dein Vater leitet eines der größten und vornehmsten Hotels der Westküste. Wir haben einen gewissen Ruf zu verteidigen …«
»Ich hab aber keine Lust, mich wie eine Prinzessin zu benehmen«, wehrte sich Caroline. Der Hochmut ihrer Mutter forderte ihren Eigensinn heraus. »Warum können wir nicht wie andere Leute leben? Warum lässt du mich nicht arbeiten? Warum soll ich einen Mann heiraten, für den ich nichts empfinde?«
»Weil wir vor zwanzig Jahren nicht nach Kanada ausgewandert sind, um hier das gleiche armselige Leben zu führen wie in England! Dein Vater hat hart gearbeitet, um sich seine jetzige Stellung zu sichern. Und ich bin stolz darauf, dass wir von der höheren Gesellschaft in Vancouver akzeptiert werden. Oder willst du so leben wie die Arbeitslosen, die auf dem Güterbahnhof kampieren? Sei lieber dankbar, dass dir die Wirtschaftskrise nichts anhaben kann. Du stehst auf der richtigen Seite, Caroline, und deshalb hast du auch die Verpflichtung, einen Mann zu heiraten, der unserem Stand entspricht.«
»Niemals!«, widersprach Caroline. Sie reckte trotzig ihr Kinn nach vorn und verließ den Salon, bevor ihre Mutter sie zurückhalten konnte. Ohne sich nach ihr umzudrehen, stieg sie die gewundene Treppe hinauf und verschwand in ihrem Zimmer. Sie schloss die Tür, lehnte sich einen Augenblick dagegen und erwartete beinahe, dass ihre Mutter nach ihr rufen würde. Aber es blieb still. Erleichtert ließ sie sich auf ihr Bett fallen.
»Charles King!«, meinte sie abfällig. Er war der erste Mann, der sich für sie interessierte, abgesehen von dem halbwüchsigen Sohn des Gärtners, der ihr im Internat nachgestiegen war und immer so dämlich gegrinst hatte, wenn sich ihre Blicke zufällig getroffen hatten. Sie dachte gar nicht daran, Charles’ Werben nachzugeben. Sie wollte so aufrichtig empfinden wie die jungen Heldinnen in den Romanen, die sie im Internat heimlich unter der Bettdecke gelesen hatte. Diese Frauen wurden vor Sehnsucht beinahe ohnmächtig, wenn sich der Mann ihres Herzens zu ihnen herabbeugte und sie küsste. Caroline wollte keine dieser langweiligen Ehen führen wie ihre Eltern und die Bekannten, die zu den Wohltätigkeitsbällen kamen. »Niemals!«, schwor sie laut und schlug mit ihren kleinen Fäusten auf die seidene Bettdecke.
Sie ging zum Frisiertisch und blickte in den Spiegel. Sie war eine Schönheit, so sagten jedenfalls die Bekannten ihres Vaters, wenn sie zu Besuch kamen und sie mit einem Handkuss begrüßten: »Der Mann, der Sie einmal heiratet, darf sich glücklich schätzen!« Ihr Gesicht wies eine gesunde Bräune auf, obwohl sie bei jedem Spaziergang einen breitkrempigen Hut trug, und ihr langes lockiges Haar glänzte so schwarz wie das Gefieder eines Raben. Über ihrer leichten Stupsnase leuchteten dunkle Augen. Wer sie wütend erlebt hatte, wusste um das lodernde Feuer, das darin brennen konnte, und wer ihr in einem stillen Augenblick begegnet war, schwärmte von dem Glanz, der sie romantisch und verträumt aussehen ließ. Ihr Hals war schlank und um ihre Figur beneideten sie alle jungen Damen der besseren Gesellschaft. Sie konnten nicht wissen, wie streng Rosalyn darüber wachte, dass sie keine Süßigkeiten aß. »Das schickt sich nicht für eine junge Dame«, betonte sie. Das Dienstmädchen, die Tochter eines Eisenbahnarbeiters, hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, die Worte ihrer Herrin nachzuplappern, und Elizabeth Burke war eine sehr ehrgeizige Frau, der das Ansehen ihrer Familie über alles ging.
Caroline streckte sich die Zunge heraus und wandte sich von dem Spiegel ab. Was nützte ihr die ganze Schönheit, wenn sie in einem goldenen Käfig lebte? Schon die Lehranstalt für höhere Töchter war ihr wie ein Gefängnis vorgekommen. Den Lehrerinnen war es mehr darum gegangen, ihre Schülerinnen auf das gesellschaftliche Leben an der Seite eines wohlhabenden Mannes als auf ein eigenständiges Berufsleben vorzubereiten. Sie hatte sich stets dagegen aufgelehnt und aus lauter Trotz die wenigen freien Stunden über ihren Büchern verbracht. »Ich hab keine Lust, für irgendeinen Angeber das schöne Püppchen zu spielen!«, hatte sie den anderen Schülerinnen gestanden. Und die hatten nichts Besseres zu tun gehabt, als sie bei der Direktorin zu verpetzen. An die Worte der strengen Frau konnte sich Caroline noch genau erinnern: »Wir Frauen sind dazu geschaffen, dem Manne zu dienen, das steht schon in der Bibel! Es ziemt sich nicht für ein Mädchen, sich gegen die gesellschaftlichen Normen aufzulehnen. Schon gar nicht in unseren Kreisen!«
Und sie hatte heftig geantwortet: »Wir haben das Jahr neunzehnhundertzweiunddreißig, Frau Direktorin! Wir leben nicht mehr im neunzehnten Jahrhundert! Und ich bin keine Prinzessin im alten England, die zu allem Ja und Amen sagen muss!« Natürlich hatte es für diesen Widerspruch einen strengen Tadel gegeben, und sie hatte von Glück sagen können, dass sie nicht von der Schule verwiesen worden war. Sie musste jetzt noch lächeln, wenn sie an das entsetzte Gesicht ihrer Mutter dachte, als sie den Brief der Direktorin gelesen hatte. »Was für eine Schande!«, hatte Elizabeth Burke ausgerufen.
Caroline stand auf und trat ans Fenster. Ihr Zimmer lag im zweiten Stock der viktorianischen Villa, die etwas abseits der Straße stand und von einem wuchernden Garten umgeben war. Die Burkes waren stolz auf ihre Rosen und hatten einen Gärtner aus dem Okanagan Valley eingestellt, der zweimal die Woche kam und sich um die Blumen kümmerte. Mit einer Rose hatten sie auf einer Ausstellung einen Preis gewonnen. Ein schmiedeeiserner Zaun trennte das Grundstück von der gepflasterten Straße. Es dämmerte bereits und der trübe Schein der Straßenlaternen spiegelte sich in den Fenstern der umliegenden Häuser. Sie wohnten in einer ruhigen Gegend, nur wenige hundert Meter vom Stanley Park entfernt, einer gepflegten Anlage mit dichten Zedernbeständen, einem Swimmingpool, öffentlichen Stränden und einer felsigen Küste, die steil in den Pazifik abfiel. Im Zentrum des Parks lag ein üppiger Rosengarten.
Jeden Sonntag nach dem Mittagessen gingen die Burkes im Stanley Park spazieren, so wie die meisten anderen...




