E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Rosei Das wunderbare Leben
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7017-4700-9
Verlag: Residenz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wahrheit und Dichtung
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-7017-4700-9
Verlag: Residenz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kann ein Dichter die Wahrheit sagen? Peter Rosei versucht es – radikal, selbstkritisch und doch im Glauben an das Wunderbare des Lebens.
"Das wunderbare Leben" ist nicht einfach Peter Roseis Autobiografie. Es ist sein Versuch zur literarischen Wahrhaftigkeit und zugleich die Geschichte eines Autors, der viele Leben gelebt hat. Dessen Devise lauten könnte: Das Leben ist wunderbar, auch wenn es zu Zeiten schrecklich ist. Aus kleinen Verhältnissen stammend, kommt der junge Mann als Sekretär des Malers Ernst Fuchs rasch zu Geld, gibt aber alles auf, um seiner Berufung als Dichter gerecht zu werden. Nach Jahren schwerer Krisen folgt ein abenteuerliches Bohème-Leben an der Seite der Künstler und Literaten der 70er- und frühen 80er-Jahre, darunter sein engster und langjährigster Freund H.C. Artmann. Schließlich die große Wende – aber lesen Sie selbst: Wahrheit und Dichtung ergänzen sich in diesem Text.
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PROLOG
Auf einer China-Reise besuchte ich einmal die Stadt Chengdu. Sie liegt im Westen des Landes, eine dieser Riesenstädte mit endlosen Straßen voll Smog, gesäumt von gesichtslosen Hochbauten. Ich erwähne die Stadt auch nur deshalb, weil im achten Jahrhundert dort der Dichter Du Fu gelebt haben soll. Jedenfalls gibt es im heutigen Chengdu, inmitten von Hochhäusern, einen Park, ja man könnte fast sagen, eine Art Wald, ein Bach fließt darin, es gibt einen Teich und, ja, auch ein paar strohgedeckte Hütten: Hier, auf diesem Fleckchen Erde, soll einstmals der Dichter Du Fu gelebt haben. In einer dieser Hütten soll er tatsächlich gelebt haben. Jedenfalls wird das behauptet. * Am Anfang waren nur schwarze, federnde Flecken auf zitronengelbem Grund, es roch nach Erde, es war ein großes Geheimnis um diese Flecken, die sich verfärbten, allmählich ins Grüne hinüberspielten und wie unter einem Stoß nachzitterten. Da war auch ein großes Versprechen. Es waren, wie sich dann herausstellen sollte, bloß die Schatten von Spalierobst, von Blättern und Früchten eines Apfelbaums, der in der tief stehenden Sonne dieser Stunde vor der Hausmauer sein Geäst ausbreitete. Ein junger Mann kommt eine Wiese heruntergelaufen und wirft sich atemlos in die ausgebreiteten Arme einer Frau, einer blonden, stämmigen Frau, die ihn auffängt: Der Anblick war nur ein warmer, schmelzender Zuschlag zu einem fast schon umfassenden Wohlsein, so will es mir heute vorkommen. Mag sein, dass damals in mir die Vorstellung entstand, die Frau sei das Glück selbst. Man kann es aber nur haben, wenn man zugleich sich selbst aufgibt. Der Leib meiner Mutter ist mir jetzt fern, mumienhaft, dunkel und gespenstisch sehe ich sie in einer weiter hinten liegenden Tür stehen und warten. Wohin diese Tür führt oder führen wird? – Als mir dieser Körper nah war, was habe ich da empfunden? Denke ich an die Mutter, ist mir, als hätte man mir ein Geschenk angekündigt, so groß und so himmlisch, wie man es nur als Kind von einem Geschenk sich vorstellen kann und erwartet. Meine Mutter war ein heiteres, ein unbekümmertes Geschöpf. Denke ich an sie, fällt mir gleich das berühmte Bild Renoirs von der Moulin de la Galette ein, vor allem die Frau im dunklen Kleid mit dem Hütchen, die von hinten ihrer am Wirtshaustisch sitzenden Freundin die Hand auf die Schulter legt: Das durch die Kronen der Kastanienbäume fallende Licht spielt und tanzt mit hellen Punkten über die festliche Menge, über die beiden hin. Das Haus, in dem wir damals wohnten, steht tief unter der Kurve einer Landstraße: im Graben, wie man sagt. Von der Straße aus sieht man bloß das rote, zeltförmige Dach – das mir mit seiner simplen und geheimnislosen Form jetzt den Eindruck hervorruft: Dort bist du gut aufgehoben gewesen, dort konnte dir nichts passieren. Der Wiesenhang, die Grashalme, die Bäume, das Geäst der Bäume. Ich lernte, dass das Licht je nach der Stunde die Gräser, die Bäume, das Laub einmal so, dann wieder anders färbt, dass Äste sich mit dem Wind bewegen und drehen, dass sie auf und ab tanzen, dass alles bald einmal so, dann wieder ganz anders ist. Die oben vorüberführende Straße, eine Asphaltstraße, auf der öfter Schlangen in der Sonne schliefen, so wenig Verkehr gab es da, war rechts von Wald, links von einem Geländer gesäumt, das in seiner Ausführung viel zu fragil war, als dass es Sicherheit vor dem Abstürzen hätte bieten können. Die blonde Frau, Mitbewohnerin im Haus, hatte zwei kleine Kinder, Säuglinge noch, aber keinen Mann dazu. Mein Großvater ließ sie mietfrei im Haus wohnen, sicher nicht ohne Eigennutz. Freilich, als Kind war mir das nicht klar. Die Soldaten, Verehrer der jungen Frau, es war kurz nach dem Krieg, brachten immer Geschenke mit, die hochwillkommen waren. Nachts hörten wir oft tolles Schreien und Gelächter aus der Stube herauf. Es gab Tanzereien. Wir Kinder, mein Bruder und ich, schliefen unter dem Dach. Gleich am Fuß der Treppe stand der Tisch, um den die Großen sich abends zusammensetzten. Wurde es gar zu laut, lief ich zur Treppe und schaute, halb neugierig, halb verängstigt, hinunter, während mein kleiner Bruder vom Bett her verschlafen fragte: »Was machst du da?« Die Küsse der Großmutter, wie könnte ich sie je vergessen! Blätter von Leberblümchen oder das Erscheinen der Zyklamen im Herbstlaub, Efeu, der, vom Sprühregen bestäubt, über ein Mühlenwehr hängt. All die Tränen, die geweint werden, vor Freude oder weil man unglücklich ist. Als meine Großmutter starb, erbrach sie sich. Das Erbrochene waren ihre letzten Worte. Großmutter war klein und rund, Großvater ein stattlicher Mann mit Hitler-Bärtchen, etwas schütterem, dunklem, straff nach hinten gekämmtem Haar. Er trug den Kopf freilich hoch, war stets in Schale, wie man sagt, was er seiner Beschäftigung im führenden Modehaus der Stadt verdankte. Wer Großvater solcherart im Sonntagsstaat sah, im makellosen Anzug, den aufgebürsteten Hut in der Hand, der hätte sich kaum vorstellen können, dass derselbe Mann ein paar Tage später zerrissen und zerschlagen irgendwo im Rinnstein liegen würde. Der englische Uniformstoff war sehr rau, es wurde kolportiert, er wäre aus Brennnesselfasern gewoben. Großvater kaufte die Restposten auf, als die Besatzung abrückte. Indes er mit diesem Handel reich zu werden hoffte, ruinierte er sich. Dieser schwermütige, verschlossene, tief unglückliche Mensch, von ihm ist wohl vieles auf mich übergegangen, so viel, dass ich mit ein bisschen Theologie sagen könnte: Du bist der, durch den ich gelebt habe. Über kurz oder lang war das kleine Haus unter der Straße versoffen, meine Kinderwelt dahin. Unterhalb des Hauses läuft der Bach vorbei, der in Kaskaden frisch hinunterspringt. Er speist sich aus dem See weiter oben, mit dem alles anfängt: köstliches Schweigen, durchsichtige Stille, schönster Frieden. Im Kleinen, im Taschenformat, klingt hier an, was in kunstreicher Oper zum Schicksalslied wird. Als Kind wusste ich nichts von Wahnsinn und Lebensgier. Alles war für mich angerichtet, ich brauchte bloß zu atmen, alles war mir zur Hand. Später sollte ich mich oft an den See erinnern, wie ich darin geschwommen war, faul plätschernd im weichen, nachgiebigen Wasser, wie ich, von der Sonne durchwärmt, am Ufer gelegen und gegen eben die Sonne geblinzelt hatte, die auf der anderen Seeseite über den Wald wanderte, strahlend und, weil selbst die Zeit, außerhalb von ihr. Mein Glück war so groß wie die Welt selbst. Die Welt insgesamt passte haargenau in mein Glück hinein. Wer das verlor, was ich verlor, wo soll der Halt machen? Großvater fuhr zu den Arbeitern auf Großbaustellen und zu Kraftwerksbauten im Umland. Das Geschäft lief vorerst gut. Der durch den Verkauf der Waren erwirtschaftete Gewinn schrumpfte allerdings, kehr um die Hand, auf ein Häufchen schmieriger Münzen zusammen, die Großmutter heimlich aus den Hosentaschen des Großvaters fischte, wenn der einmal heimkam. Die Eskapaden des Großvaters waren einfach zu wüst, sie passten mit seiner Absicht, reich zu werden, so gar nicht zusammen, so kam bei alldem nichts heraus. Die Schuppen an der Rinde der am Waldrand stehenden Föhren leuchten im Abendlicht wie goldene Münzen – wie mein Großvater sie so gerne gehabt hätte: Und er hat sie ja auch gehabt, wenn auch nur kurz. Wir streifen durch den Wald, auf der Suche nach Schwarzbeeren. Später gibt es sie zu essen, mit Milch und Zucker. Mit der schwarzen Sauce bemalen wir Kinder uns das Gesicht und erschrecken uns dann über die Bemalung. Einmal, nachts, hat Großmutter mich ausgeschickt, den Großvater zu suchen. Ich klappere die Wirtschaften ab, die er für gewöhnlich frequentiert: Zum Heiligen Josef. Zum Grünen Baum. Zum Weinkönig. Die Straßen strecken sich öd im Licht der Lampen. Gleich zu Anfang geht es an der schier endlosen Mauer eines Klostergartens entlang. Die Stadt selbst, die versperrten, verschlafen dastehenden Häuser: Zuletzt finde ich Großvater in einer der Wirtschaften, er sitzt da allein an einem Tisch. Er sieht aus, als würde er nachdenken, verstrickt in ein Rätsel. Er war wohl vernarrt in dieses Rätsel: Weder konnte er es lösen, noch konnte er es lassen. Ich trete an ihn heran, schaue von unten her zu ihm auf: »Komm heim, Großvater!« Da ist er, mein unglücklicher Großvater. Meine Aufforderung hat er entweder überhört oder nicht verstanden. Ein Gast, der mit seinem Bierkrug an der Budel lehnt, lacht und spendiert mir ein Eis. An besseren Tagen freilich ging ein gutes Licht von Großvater aus, von seinen dunkelbraunen, warmen Augen, der klaren und freien Stirn. Sein Gesicht war glatt, still gefasst, ebenmäßig...