E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Rose Hassliebe
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-360-50186-8
Verlag: Das Neue Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Warum Deutsche und Russen nicht miteinander können
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-360-50186-8
Verlag: Das Neue Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Anna Rose studierte an der Moskauer Lomonossow-Universität Journalistik und klassische Philologie. Das Studium setzte sie mit einem deutschen Stipendium seit 1995 an der Humboldt-Universität zu Berlin fort. Dort promovierte sie 2000, ihre Dissertation wurde mit summa cum laude bewertet. Nach einem wissenschaftlichen Aufenthalt in Florenz studierte sie an der dortigen Universität Translationswissenschaft in Russisch und Italienisch. Obgleich in Berlin lebend - sie ist verheiratet und hat zwei Kinder - Deutschland ihr Lebensmittelpunkt ist, unterhält sie vielfältige Beziehungen zu Russland. Sie hat am Rande Moskaus eine Wohnung, wo sie jährlich ein bis zwei Monate lebt. Seit drei Jahren arbeitet sie als Deutschlandkorrespondentin des kremlkritischen Radiosenders Echo Moskwy, zuvor war sie in gleicher Funktion lange Zeit für die Regierungszeitung Rossiskaja Gasety tätig.
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I. Auf einmal war die Geschichte, die wir bis dahin gelernt hatten, falsch
Eigentlich bin ich zufällig nach Deutschland gekommen. Eigentlich. Mittlerweile denke ich, dass es eine gewisse Folgerichtigkeit hatte. Zumindest entsprach der äußere Rahmen des Lebens in Deutschland meiner inneren Einstellung. Diese Pingeligkeit, Genauigkeit, Verbissenheit, Verliebtheit in Details, der Sauberkeitswahn und die Hartnäckigkeit. In Russland hatte ich damit viele Probleme – sowohl zu Hause als auch bei meinen Freunden. In Deutschland schätzte man diese Eigenschaften und begrüßte meinen Anpassungswillen und mein Anpassungsvermögen. Sehr wohl fühlte ich mich, wenn ich Gleichgesinnte fand. Zum Beispiel beim Stromsparen, beim Mülltrennen, beim ordentlichen Zusammenlegen oder Zusammenstellen von Sachen. Im Sommer 1995 bin ich nach Deutschland gekommen – und fand mein neues Zuhause.
Die ostdeutschen Damen von der Humboldt-Universität, die nach Moskau gereist waren, um Studenten für den Austausch im Rahmen eines Programms des DAAD für Berlin auszuwählen, hatten mit mir Mitleid. Ich konnte kaum zwei Wörter richtig auf Deutsch sagen, meine Aussprache war schrecklich. Ich hatte aber ein interessantes Essay geschrieben sowie begeistert die Namen Wenders, Hölderlin, Schopenhauer, Kant und Beethoven genannt – diese ohne Fehler. Das war wohl ausreichend, um meine Mängel in der schriftlichen Arbeit auszugleichen und mich unter den zehn Auserwählten mit einem Stipendium des DAAD zum Germanistikstudium für ein Semester nach Deutschland einzuladen.
Und hier fing das Eigentliche an. Die Damen dachten, dass sie alle russischen Studenten beglückten, wenn sie aus dem armen grauen Moskau nach Ostberlin kommen könnten. Das Glück kam für mich selbst ziemlich überraschend, weshalb ich zögerte. Erst kurz zuvor war ich aus einer Provinzstadt nach Moskau gekommen, und das Leben dort gefiel mir. Die Menschen waren unerwartet nett, die Atmosphäre aufregend, das Studium schwierig, aber unglaublich interessant. Außerdem hatte ich mich just in dieser Zeit unsterblich in einen Kommilitonen verliebt. Jeder Augenblick ohne ihn riss mir eine große Wunde ins Herz. Die Liebe wurde zwar nicht erwidert, aber ich entschied mich trotzdem, in Moskau zu bleiben und nicht nach Berlin zum Austauschsemester zu gehen. Die Dozentin für Deutsch an der Moskauer Staatlichen Universität riet mir zu fahren, Bekannte rieten zu fahren, Freunde hielten mich für verrückt – ich aber wollte nicht aus Moskau weg! »Wenn du erst da bist, verstehst du, was ich meine. Es gibt dort so viel zu essen und zu kaufen«, sagte eine Bekannte aus meiner Gruppe am Institut für klassische Philologie von der Moskauer Staatsuniversität (MGU), die aus Berlin gerade zurückgekehrt war. »Lernen Sie die Sprache, das ist Ihr Kapital in der Zukunft«, versuchte mich die Dozentin zu überreden. »Alle wollen nach Europa, und du bist verrückt, wenn du die Gelegenheit nicht ergreifst«, regte sich meine beste Freundin auf.
Alles umsonst. Ich wollte nicht nach Deutschland. Zur Auswahlprüfung ging ich, um die Deutsch-Dozentin zu beruhigen und mir eine gute Note im bevorstehenden Examen zu sichern. In den Augen der deutschen DAAD-Gesandten sah ich Bedauern: »Armes Kind, es verzichtet auf sein eigenes Glück. Es darf doch nach DEUTSCHLAND.«
Dies war sehr komisch. Warum sollte Deutschland als Wohnort besser sein für mich als Russland? Wieso ging man als selbstverständlich davon aus?
Diese überhebliche Einstellung störte mich ziemlich in meinen ersten Jahren in Deutschland. In fast allen Gesprächen deuteten die Deutschen, sowohl »Wessis« als auch die meisten »Ossis«, an, dass man sich doch bevorzugt und außerordentlich glücklich fühlen solle, dieses Land betreten und hier sogar leben zu dürfen.
Ich bin trotz aller Umstände dann doch gefahren. Den Ausschlag gab mein Großvater. Er sagte mir: »Mach das doch. Es ist eine einmalige Chance.« Ich war erstaunt, dass gerade er, ein alter Kommunist, mir dazu riet, in den kapitalistischen Westen zu fahren, der nur darauf erpicht gewesen sei, die Sowjetunion zu unterminieren, zu zerschlagen, auszubeuten. Es war ungewöhnlich genug, um andere Argumente fallen zu lassen.
Sobald man erfuhr, dass wir aus Moskau kamen, fragte man besorgt, ob es dort wirklich so schlimm sei – mit der subtil mitschwingenden Überzeugung, dass es dort quasi unmöglich wäre zu leben, sogar zu überleben. Ich kam mir die ersten Jahre in Deutschland wie ein Affe im Zirkus vor, dem ein eigenständiges Urteilsvermögen abgesprochen wurde und den alle als lustiges Tierchen betrachteten.
Meine Manieren störten, meine Herkunft reizte. Der Vater eines deutschen Freundes starrte mich verständnislos an, als ich zum Spaghetti-Essen nur die Gabel nahm – wie meine italienischen Freunde bei mir in Moskau es übrigens auch getan hatten. In Deutschland isst man hingegen heute noch Spaghetti auch mit einem Löffel! Als ich mit russischen Kommilitonen in Stralsund am Wasser saß, kam eine ältere Frau und gab uns gekochte Eier und Tomaten mit den Worten: »Mensch, Kinder, ihr seid doch bettelarm, esst doch! Ich weiß, wie es euch in Russland geht, da seid ihr aber jetzt bei uns. Hier gibt es Essen. Alles wird gut!«
War das Hohn? Oder Dummheit? Oder hatte die Frau doch nur deutsche Medien verfolgt und die Nachrichten über Russland hatten sie so verschreckt, dass sie uns helfen wollte? Damals las ich noch keine deutschen Zeitungen und schaute kein deutsches Fernsehen. Mir hatte jemand im Wohnheim einen alten Fernseher geschenkt, er funktionierte jedoch nicht ohne Antenne. Später, bei meiner Zeitschriftenlektüre, wurde mir einiges klar. Ich las den Spiegel und tobte. Wie konnte man so einfältig und feindlich über mein Land schreiben? Bis heute erinnere ich mich an dieses Focus-Titelbild: Ein Bär mit ledernem Aktenkoffer eilt durch das verschneite Moskau über den Roten Platz, im Hintergrund die Basilius-Kathedrale. So stellte man sich Russland in den neunziger Jahren vor.
Ich war erschrocken, wütend, traurig wegen des Bildes, das die deutschen Medien und die Deutschen in unseren Gesprächen von meinem Land zeichneten. Versoffener Jelzin, blutrünstige Mafia, Kriminalität, hungernde Bevölkerung, zerrissenes Imperium, Krieg im Kaukasus, kommunistische Trümmer. Am Rande kamen oft verklärte Erinnerungen an Dostojewski und Tschaikowski, »russische Kultur« und »russische Seele«, die jedem Deutschen noch ein wenig das Herz erwärmten.
Wir Studenten aus Moskau waren Versuchskaninchen und Insekten, die an die westlichen Blüten langsam gewöhnt werden sollten. Wir sollten saugen, uns betäuben, genießen und nie vergessen. Nach Hause fahren und dort versuchen, aus Russland ein westliches Land zu machen. Schnell. Effektiv. Ein Versuchsland für die Implementierung des westlichen Weltbildes. Nach Russland kamen in den neunziger Jahren sehr viele Erneuerer und moderne Kreuzritter, um das 1917 verlorene Land in ein Paradies zu verwandeln und gleichzeitig daran zu verdienen. Die Spuren der neuen Bekehrer waren überall zu sehen. Die Bibliothek der Fakultät für Journalistik der MGU, der Lomonossow-Universität, wo ich im ersten Studienjahr Stunden über meiner Jahresarbeit gebrütet hatte, wurde in den Ron-Hubbard-Saal umgestaltet. Es roch nach frischem Holzlack. Überall standen bunte Bücher von Hubbard und über Scientology. Die Fakultätsverwaltung freute sich über das Geld für die Renovierung und übersah das Hauptziel der guten Samariter: die Verbreitung ihrer Sektenlehre.
An der philologischen Fakultät lasen wir Shakespeare mit einem sehr netten Amerikaner. Nach ein paar Übungen bekamen wir Bücher von Mormonen, wurden zu ihren Veranstaltungen eingeladen und sogar in ein Hotel zum Frühstück mitgenommen. Noch immer habe ich eine Mormonen-Bibel in meiner Moskauer Wohnung.
Parallel zum Studium arbeitete ich bei der umweltpolitischen Zeitung Spasenije (Rettung). Ihr Chefredakteur war ein bekannter früherer Abgeordneter der ersten russischen Duma. Die Zeitung war ein enthusiastisches Projekt, doch es fehlte an Geld. Das Management verkaufte Kosmetik aus China, um ein wenig für die Druckerei zu verdienen und irgendwie die Journalisten zu entlohnen, die fast umsonst schufteten. Der Arbeitslohn war symbolisch – umgerechnet etwas mehr als 30 Dollar im Monat. Unser damaliger Freund von der journalistischen Fakultät knüpfte über die Zeitung Bekanntschaft mit der Greenpeace-Vertretung in Moskau, wurde dort eingestellt und bekam 500 Dollar monatlich. Er erzählte stolz, dass er seiner Mutter zum Geburtstag einen neuen »westlichen« Kühlschrank geschenkt habe. Das 25 Jahre alte russische Gerät wurde somit ausgetauscht. Danach folgten Fernseher und Recorder, Mikrowelle und Waschmaschine. Wir beneideten unseren Freund. Er war für die westliche Struktur tätig. Wer etwas mit ihr zu tun hatte, wurde überdurchschnittlich reich. Natürlich wollten wir alle genauso viel Geld für unsere Arbeit bekommen und neue Elektronik kaufen können. Möglich war dies jedoch nur auf einem Wege: über ausländische Stiftungen und Firmen. Es war klar: Wer einen Job bei einer westlichen Stiftung oder Zeitung bekam, hatte ausgesorgt. So wechselten viele nach und nach zu Redaktionen solcher Unternehmen wie Springer oder Burda. Beneidenswert war ebenfalls die Arbeit bei den westlichen NGOs. Allerdings war der Zugang zu solchen Stellen vom Zufall oder der richtigen Bekanntschaft abhängig.
Eine Zeit lang verdienten ich und ein Freund unseren Unterhalt mit der Aufgabe von Anzeigen für erotische Telefonanrufe für ein spanisches Werbeunternehmen in russischen Boulevardblättern. Die Mutter einer Moskauer...




