E-Book, Deutsch, 608 Seiten
Rose Die Schamanin
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-95530-298-6
Verlag: Edel Elements - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 608 Seiten
ISBN: 978-3-95530-298-6
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Sechs Generationen faszinierend starker Frauen - zwischen indianischer Heilkunst und moderner Medizin. 1637, am Ufer des Conneticut River. Zusammen mit ihrer kleinen Tochter Bird flieht die Pequot-Indianerin Shining Stone nach einem Massaker an einen geheimen Ort. Dort weiht sie Bird in die große Kunst des Heilens ein - eine Gabe von unschätzbarem Wert, die Bird an ihre weiblichen Nachkommen weitergeben wird. Der weibliche 'Medicus'... Ende des 20. Jahrhunderts hält die junge Ärztin Nina ein Rezeptbuch ihrer Urgroßmutter Morgan in der Hand, in dem das seit Generationen überlieferte Wissen indianischer Heilkunst gesammelt ist. Zu diesem Buch gehört auch ein kostbares Amulett aus dem Besitz von Ninas Vorfahrin Bird, die im 17. Jahrhundert eine große schamanische Heilerin war. Nina ist fasziniert von dem uralten Wissen, das bis heute nichts von seiner Bedeutung verloren hat, und sie fühlt sich seltsam berührt von dem Hauch der Vergangenheit, der von ihren Vorfahrinnen zu ihr herüberweht... Weibliche Heilkunst hat Tradition, und in Marcia Roses großem Roman 'Die Schamanin' wird dieser oft vergessenen Wahrheit in Gestalt von sechs Frauen Leben verliehen. Die Linie der Heilerinnen setzt ein im Jahr 1637 mit der Medizinfrau Bird, und sie endet in der Gegenwart bei der Psychologin Robin. Eine faszinierende Familiensaga, die das Wissen um weibliche Heilkräfte mit den Lebensabenteuern von Frauen aus sechs Generationen verbindet. 'Marcia Rose versteht es meisterhaft, ihren Figuren Leben einzuhauchen, sie zu starken Charakteren zu formen. Große Emotionen vor einem stimmungsvollen, farbenprächtigen historischen Hintergrund.' Publishers Weekly
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Prolog
Shining Stone und ihre Tochter Bird
Pequot-Territorium am Massapoag nahe dem
Fluss Konektikut, Sommer 1637
Shining Stone richtete sich blinzelnd auf und reckte sich. Es war so heiß auf der Wiese, dass ihr allmählich der Schweiß in die Augen lief. Nach einem dritten langen Tag des Kräutersammelns war sie erschöpft. Sie hätten sich bereits gestern auf den Heimweg machen sollen, doch die sonnigen Tage und abendlichen Regenschauer hatten die Schafgarben wuchern lassen und sie üppig mit heilenden Blüten bestückt. Sie wollte so viele pflücken, wie sie tragen konnte. Wie sie beide tragen konnten. Ihre Tochter Bird, inzwischen zwölf Sommer alt und fast eine Frau, hatte den Ausflug zusammen mit ihr unternommen. Bird war schon oft mit Shining Stone unterwegs gewesen, sogar als kleines Kind, als sie noch tollpatschig und unsicher lief; aber in diesem Jahr war es Zeit für sie, dass sie die Künste erlernte, in denen sich ihre Mutter so gut auskannte – im Heilen, in der Geburtshilfe und den Bestattungsriten.
Bird lernte, wie sie alles tat, nämlich rasch und mit Anmut. Shining Stone betrachtete ihre Tochter stolz. Das Mädchen, nicht wissend, dass sie beobachtet wurde, war eifrig mit Ausrupfen und Pflücken beschäftigt, beugte und streckte sich, geschmeidig wie ein Schilfrohr im Winde. Ihr langer Zopf schwang hin und her, während sie nach den kleinen, blassen Blüten des Wintergrüns Ausschau hielt. Bird war eine stattliche junge Frau, wenn auch nicht ausgesprochen schön. Sie war groß und breitschultrig, hatte hochangesetzte runde Brüste und kräftige Beine. Sie konnte weite Strecken gehen oder laufen. Und ihre Hände mit den langen, schmalen Fingern zeigten sich bei jeder Arbeit geschickt: beim Korbflechten, beim Sortieren von Muscheln, beim Gerben eines Hirschfells. Oder beim Sammeln von Pflanzen für den Medizinbeutel, was sie eben jetzt tat.
Viele junge Männer nickten ihr zu, wenn sie an ihrem Wigwam vorbeikamen, und warfen sich dabei ein bisschen in die Brust. Jeder hoffte, sie würde sagen: »Ihn will ich zum Mann.« Es nützte alles nichts. Shining Stone hatte bereits jemanden ausgesucht, mit dem Bird sich vermählen würde. White Wolf, der Sohn des Sachems, wie sie ihren Häuptling nannten, war der Mann, den sie sich für ihre Tochter wünschte. Wie gut die beiden zusammenpassten! Bird gehörte einer der angesehensten Familien im Dorf an, im Grunde genommen einer der bedeutendsten Familien des ganzen Stammes. Shining Stone war eine bekannte Heilerin und Hexe, ihr Mann Great Eagle der pawwow oder Schamane. Gemeinsam standen sie ganz oben in der Rangordnung der mächtigen Pequot.
Die Pequot waren, das wussten alle, das gefürchtetste Volk in dieser Gegend. Sie zählten Hunderte von hundertmal Hunderten, und jeder andere Stamm erzitterte in ihrer Gegenwart. Ganz allein hatten sie in diesem Teil der Welt sämtliche Völker besiegt – bis auf die Narragansett, diese listigen Wiesel, doch auch sie würden bald geschlagen werden. Shining Stone lächelte über ihre grimmigen Gedanken. Sie war keine Kriegerin, sie war moigu. Es war gut, moigu – Heilerin und Hexe – zu sein in dem Stamm, dessen Name eine Kurzform von pekawatawog – die Zerstörer – war.
Der Tag war herrlich, sonnig und klar, und ein zartes, goldenes Licht schien über die Wiese. Shining Stone schaute sich um und atmete die Schönheit ihres Landes ein, wo die Geister freundlich waren. Sie und Bird hatten Nieswurz, Bärentraube, Sassafras, Schlangenwurz, Holunderrinde und – beeren zum Schweißtreiben gefunden, Weiberwurz zur Linderung von Menstruationskrämpfen und Erleichterung der Geburt sowie Steinsame, um den Mondzyklus einer Frau zu beenden. Der um ihre Brust geschlungene Medizinbeutel war jetzt schwer und voll, wie eine schwangere Frau kurz vor der Niederkunft. Einige mussten für die Tiere übrig bleiben und andere Samen und damit eine neue Generation von Pflanzen hervorbringen.
»Komm, Bird«, rief sie. »Wir haben genug und ich möchte Wild Goose noch vor Anbruch der Dunkelheit sehen.«
Bird richtete sich gehorsam auf und kam auf die Mutter zu. »Ich habe letzte Nacht von meinem Bruder geträumt. Wild Goose schwamm zwischen vielen goldenen Fischen, und dann verwandelten sie sich in Sterne und fielen vom Himmel herab.«
Shining Stone runzelte die Stirn. Das war wirklich ein seltsamer Traum, und sie wusste nicht genau, was er bedeutete. Doch sie verspürte einen Anflug von Besorgnis und sagte: »Wir wollen uns beeilen, Bird.«
Als sie vor drei Tagen aufgebrochen waren, hatte ihr Sohn sich schon fast vollständig von einer eiternden Wunde am Fuß erholt. Er war am Tag zuvor am Strand auf eine zerbrochene Muschelschale getreten und trotzdem, wie es Jungen eben tun, mit seinen Freunden weiter auf die Jagd nach Austern und Muscheln gegangen, statt sich nach Hause zu begeben und seinen Fuß in einen Breiumschlag wickeln zu lassen. Er musste teuer dafür bezahlen, dass er den klaffenden Schnitt in seiner Sohle ignoriert hatte. Innerhalb eines Tages war der Fuß rot geworden und dann auf nahezu doppelte Größe angeschwollen. Er bekam Fieber, verdrehte die Augen und stammelte Worte, die keiner verstand.
Sein Vater war den ganzen Tag bei ihm geblieben, um für ihn zu beten. Mit den Geistern zu sprechen, war ja gut und schön, aber Shining Stone wusste, dass der Breiumschlag, den sie Wild Goose gemacht hatte, wirksamer sein würde. Dennoch, Birds merkwürdiger Traum ... Shining Stone war unbehaglich zu Mute und sie beschleunigte ihren Schritt.
»Mutter, ich habe etliche von den geheimen Wurzeln ausgegraben. Die alten Wurzeln haben ganz viele neue geboren«, sagte Bird, während sie sich beeilte, um sie einzuholen.
»Gut.« Shining Stone wusste, dass Bird Hundstod, Weiße Rübe und Haselwurz meinte, die wichtig waren, weil sie gekocht oder gemahlen eine starke Arznei waren, die verhindern konnte, dass eine Frau schwanger wurde. Shining Stones Mutter hatte ihr von diesen Wurzeln erzählt, so wie sie es von ihrer eigenen Mutter gehört hatte, und so weiter, bis zum Anbeginn der Zeit. Weil sie über dieses Wissen verfügte, war Shining Stone berühmt geworden. Keine andere hatte ihre Kenntnisse. Auch gewöhnliche Frauen wussten, dass Weiberwurz die Menses herbeiführen konnte, ebenso wie er Wehen erzeugte, wenn die Geburt des Babys fällig war. Doch Weiberwurz wirkte nicht immer. Shining Stones Arzneien dagegen taten es.
»Du hast ein gutes Gedächtnis, Bird. Und ich habe dich beobachtet, daher weiß ich, dass du sowohl fähige Hände als auch einen fähigen Geist hast. Du bist mit der Kraft zu heilen geboren und wirst eine berühmte Hexe werden.«
Bird errötete vor Freude. »Oh, das hoffe ich.«
Ein paar Minuten lang marschierten sie schweigend weiter. Dann sagte Bird ein wenig zaghaft: »Mutter?«
»Ja, meine Tochter?«
»Mein Traum hat dich beunruhigt. Bitte sag mir, ob es ein böses Omen für meinen Bruder ist.«
Shining Stone zögerte einen Moment, bevor sie eine Antwort gab, die sie sorgfältig erwog. »Ich weiß nicht, was dieser Traum bedeutet. Sich im Wasser zu befinden, ist gut für deinen Bruder, denn Wasser besitzt, wie uns allen bekannt ist, große Heilkraft. Aber inmitten vieler Fische zu sein, das ist nicht gut. Wir wissen, dass ein Kranker von den Gesunden isoliert werden muss, sonst verlässt die Krankheit seinen Körper und geht auf einen anderen über. Ich weiß also nicht, ob der Traum etwas Gutes oder Schlechtes bedeutet. Ich weiß nur, dass ich ihn gern sehen und berühren und sicher sein möchte, dass alles in Ordnung ist.« Und sie zwang sich, noch ein bisschen schneller zu gehen.
»Erzähl mir eine Geschichte, Mutter, aus der Zeit, als ihr beide jung wart, du und Vater.«
Das würde helfen, die Zeit zu vertreiben, dachte Shining Stone, und sie davon abhalten, allzu viel über Birds Traum nachzugrübeln.
»Als dein Vater, Great Eagle, noch ein Junge war, fiel er zu Boden, zitterte und bebte, und Schaum trat aus seinem Mund. Jeder, der dies sah, war von Ehrfurcht ergriffen. Wie viele Geister mussten in diesem kleinen Körper wohnen, dass er auf diese Weise zuckte und tanzte! Und als es vorbei war, erinnerte er sich an gar nichts und wollte nur schlafen. Die Leute sagten: ›Die Geister haben ihn erwählt‹ ...«
»Und dann, als er älter wurde –«, hakte Bird nach. Sie liebte diese Geschichte und wurde ihrer nie überdrüssig.
»Als er älter wurde, wusste er schon im Voraus, wann die Geister erscheinen würden, so wie jetzt. Er sieht die Luft zittern. Keiner sonst sieht es. Und sie erscheinen immer.«
Bird riss erstaunt die Augen auf. »Ich wünschte, die Geister würden auch mit mir sprechen, Mutter.«
»Scht! Du weißt nicht, was du sagst. Es ist nicht angenehm. Denk an Little Fern, die Mutter deines Vaters, deine Großmutter. Sie sprach oft mit den Geistern, und alle kamen zu ihr, um sich von ihren Krankheiten heilen zu lassen. Doch die Geister wurden wütend auf sie und sagten ihr, ihre Familie sei böse und wünsche ihr den Tod. Daraufhin ging sie in den Massapoag, wo sie ertrank. Auch vom Bruder ihres Vaters hieß es, er spreche mit den Geistern, und eines Tages, als er sechzehn war, sonderte er sich bei einer Jagd ab und verschwand. Er kehrte nie zu seiner Familie zurück. Wünsch dir also nichts, was dir wehtun könnte.«
Bird blieb hartnäckig und fragte: »Wenn es so gefährlich ist, warum wählen wir dann unsere Schamanen danach aus?«
»Du dummes Kind, wir wählen sie nicht aus. Sie werden durch Zeichen aus der Welt der Geister auserwählt. Es ist eine Bürde, die ihnen auferlegt wird, und die sie akzeptieren.«
Schweigend...