E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Rose Die Sanftmütige
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-95530-297-9
Verlag: Edel Elements - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-95530-297-9
Verlag: Edel Elements - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
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Liebe und Krieg - ein bewegender und farbenprächtiger Roman vor dem Hintergrund des amerikanischen Bürgerkriegs Amerika im Jahr 1866: Der Bürgerkrieg ist vorüber, Abertausende sind ihm zum Opfer gefallen. Die junge Waise Jessie macht sich auf die Suche nach ihrem vermissten Zwillingsbruder Jacob, dem sie sich tief verbunden fühlt. Hilfe erhält sie von der mutigen Krankenschwester Clara Barton, die entzweite Familien wieder vereint. Doch erst als Jessie auf den angehenden Arzt Thomas Lavery trifft, der schwer traumatisiert aus dem Krieg heimkehrt, findet sie einen neuen Seelenverwandten. Gibt es eine gemeinsame Zukunft für das junge Paar? 'Marcia Rose versteht es meisterhaft, ihren Figuren Leben einzuhauchen, sie zu starken Charakteren zu formen. Große Emotionen vor einem stimmungsvollen, farbenprächtigen historischen Hintergrund.' Publishers Weekly
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1
Während der Wagen über den von Karrenrädern zerfurchten Fahrweg holperte, musste Jessie die Zähne fest zusammenbeißen, damit sie ihr nicht im Mund klapperten. Wäre sie als Kuh auf die Welt gekommen, hätte sie jetzt schon Butter in ihrem Euter. Man sollte doch erwarten können, dass eine Chaussee, die immerhin zur Hauptstadt der Vereinigten Staaten von Amerika führte, anständig gepflegt würde. Als sie Mr. Bump fragte, ob es nicht eine bessere Straße nach Washington gebe, grinste er nur, entblößte dabei seine verbliebenen fünf oder sechs Zähne – von denen zwei damit beschäftigt waren, seine Pfeife umklammert zu halten – und sagte: »Wieso, Missie? Das hier ist eine gute Straße. Sie sehen doch, wohin sie führt, oder? Nein, besser wird die nicht mehr, bis wir die Mautstrecke erreichen. Halten Sie sich nur ordentlich fest, und wir bringen Sie schon zu Ihrem Ziel… und zwar unversehrt.« Dabei gluckste er vor Vergnügen.
Mr. Bump war ein Farmer aus Maryland, der sich auf dem Weg nach Washington befand, um dort sein Geflügel zu verkaufen – eine Wagenladung schnatternder Enten und gackernder Hühner. Er hatte Jessie in der Nähe von Baltimore wie eine Landstreicherin am Wegesrand aufgelesen, als sie sich gerade fragte, wie sie es bloß jemals bis nach Washington schaffen sollte. Nachdem sie in Albany von Bord der Fähre gegangen war, hatte sie fast kein Geld mehr übriggehabt, und von irgendetwas musste sie ja schließlich noch ihr Essen und ihre Unterkunft bestreiten.
Also war sie marschiert und marschiert; ab und zu hatte sich irgendein grinsender Lümmel von seinem Wagen oder seinem Maultier zu ihr herabgebeugt und sie gefragt, ob sie bei ihm aufspringen wolle. Diese Männer waren ihr nicht geheuer vorgekommen; sie hielten sie wohl für ein hergelaufenes Bauerntrampel und lagen damit vielleicht auch gar nicht so verkehrt, doch dumm war sie deshalb noch lange nicht! Also hatte sie darauf geachtet, dass ihre Antwort stets höflich ausfiel, aber es blieb jedes Mal bei einem »Vielen Dank, nein«, obwohl sie sich, als die Frühjahrssonne heißer vom Himmel brannte, der Staub ihr in die Kehle drang und die Stiefel ihre kleinen Zehen drückten, wünschte, sie hätte das Angebot angenommen. Ihre große Reisetasche kam ihr immer schwerer vor, und als sie gerade befürchtete, sie könne keinen einzigen Schritt mehr weitergehen, hatte neben ihr ein alter Bauernwagen mit einer Negerfamilie darauf gehalten. Jessie vermutete jedenfalls, dass es sich um eine Familie handelte, denn es waren ein Mann, eine Frau und vier oder fünf kichernde Kinder.
»Sie seh’n ja mächtig erledigt aus, Missie«, hatte die Frau gesagt. »Klettern Sie hinten drauf, und wir nehmen Sie so weit mit, wie wir fahren.« Als Jessie zögerte – der Akzent war fremd für ihre Ohren, und sie musste sich die Worte erst im Geiste übersetzen –, fügte die Frau rasch hinzu: »Der Wagen hier ist unser eigener. Wir sind’s freie Neger schon lange, Missie. Wir ham’ nich viel, aber Sie sind’s mächtig willkommen, mit uns zu fahren.«
Also war sie hinten zu den Kindern auf den Wagen gestiegen, die sich gleich dicht um sie scharten und versuchten, ihr rotes Haar und ihre Sommersprossen zu berühren, bis ihre Mutter sie scharf zurechtwies. Jessie ihrerseits betrachtete die braunen Gesichter und stellte voller Bewunderung fest, wie sehr die weißen Zähne im Kontrast zu der dunklen Haut blitzten. Diese Neger sahen ganz anders aus als alle, die sie bisher zu Gesicht bekommen hatte. In Mechanicville gab es keinen einzigen Schwarzen. Einmal hatte sie einen mit dunkelhäutigen Männern beladenen Viehwagen in die bewaldeten Hügel hinauffahren sehen – jemandes Sklaven, die sich ein anderer für Abholzarbeiten ausgeliehen hatte, wie ihr gesagt wurde. Dieser von zwei Pferden gezogene Wagen war mitten durch die Stadt gerumpelt, und alles war stehen geblieben, um ihn und die Dutzende fremdartiger dunkler Gesichter darauf anzustarren. Die Männer hatten allesamt gelächelt; die meisten von ihnen hatten Sitzplätze, aber einige waren aufgestanden, um zu sehen, was es zu schauen gab. Und sie hatten gesungen und in die Hände geklatscht. Das hatte sie nie vergessen – wie ihr Gesang einem in die Füße fuhr und sie aufforderte, mitzutanzen. Sie waren offenbar ausgelassener Stimmung, doch Jessie hatte sich gefragt, wie das denn sein konnte. Sie hatte Onkel Toms Hütte gelesen und sogar eine Bühnenfassung des Buches gesehen, als einmal ein reisendes Theaterensemble im Opernhaus gastierte. Sklaverei war etwas Abscheuliches – es widerspräche der menschlichen Natur, predigten die Pfarrer, wenn ein Mensch einen anderen besäße.
Sofern sie je darüber nachdachte, hatte sie immer geglaubt, alle Schwarzen wären Sklaven. Aber hatte diese Frau nicht eben gerade zu ihr gesagt, sie seien schon seit langer Zeit frei? Doch was ging sie das eigentlich an? Es tat einfach nur gut, eine Weile lang zu sitzen. Die schaukelnde Bewegung des Wagens lullte sie fast in den Schlaf – und dann war die Fahrt mit einem Mal vorbei. Die Familie wollte in einen schmalen Feldweg abbiegen, während Jessie selbst sich weiter gen Süden halten musste, die Kelseytown Road entlang. »Wird Sie schon wer mitnehmen, Missie, werden Sie schon sehn. Lässt doch keiner ein hübsches junges Mädchen wie Sie so einfach im Dustern rumspazieren.«
Sie war kaum fünf Minuten lang wieder auf den Füßen gewesen, als Mr. Bump neben ihr hielt und ihr über das Gegacker und Getröte seiner Ladung Vögel hinweg zurief: »Steigen Sie mal lieber zu mir hoch, Missie, bevor Sie sich noch Ihre feinen Stiefel kaputtlaufen«, und er hatte dabei freundlich gelacht, was ihn gleich für sie eingenommen hatte, obwohl er ansonsten einen eher grobschlächtigen Eindruck machte.
Als Miss Heywood, Jessies alte Lehrerin, ihr auf einer der großen Wandkarten in der Schule den Weg nach Washington gezeigt hatte, hatte sie sie gleich davor gewarnt, Fremden zu vertrauen. »Es sind heutzutage so viele Verrückte unterwegs, Jessie, Soldaten, die im Krieg den Verstand verloren haben… befreite Sklaven auf der Suche nach einer neuen Bleibe… und obwohl ich es nur äußerst ungern sage, auch Frauen, denen man besser nicht über den Weg trauen sollte. Du musst dich sehr, sehr vorsehen.«
Nun, sie war ja kein Schulkind mehr. Sie hatte sich mit dem Erwachsenwerden beeilen müssen, nachdem ihre Mutter schwer erkrankt war, sie hatte die Hebammenpraxis ihrer Mutter übernehmen und dabei so tun müssen, als ginge es Mutter noch gut genug, alles zu überwachen, während sie in Wirklichkeit meistens schlief oder zusammengekrümmt auf dem Bett lag und vor Schmerzen stöhnte. Jessie war gezwungen gewesen, sämtliche Bedürfnisse einer Heranwachsenden hintanzustellen und die Pflegerin ihrer Mutter zu werden.
Jedenfalls passte Mr. Bump in keine der Kategorien Menschen, vor denen Miss Heywood sie gewarnt hatte, aber am allermeisten zählte, dass ihre Füße trotz der kurzen Erholungspause bei der Negerfamilie ihr inzwischen höllisch wehtaten. Sie war heilfroh, sich wieder hinsetzen zu können. Dankbar stemmte sie sich und ihre schwere Reisetasche auf die harte Sitzbank. Ein alter Mann, der so nett lachte, stellte keine Gefahr dar, sagte sie sich – ganz abgesehen davon, dass er geradewegs nach Washington unterwegs war und ihr versicherte, sie würden garantiert noch vor Einbruch der Dunkelheit dort ankommen.
Er war wirklich ein lieber alter Mann, auch wenn er die Eigenheit hatte, sich über jede lächerliche Kleinigkeit zu amüsieren – etwa, wenn eines seiner Maultiere sich plötzlich mitten auf der Straße hinsetzte oder das andere lustlos und müßig einen Huf vor den anderen hob und es überhaupt nicht eilig zu haben schien.
Aber Müßiggang war genau das, was Jessie sich nicht erlauben wollte. Sie hatte eine Mission zu erfüllen – nämlich, mit der Hilfe von Miss Clara Barton ihren Bruder Jacob zu finden. Also durfte sie keine Zeit damit verlieren, dem Starrsinn eines vertrackten Esels nachzugeben.
Mr. Bump hingegen fand das lustig und ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Hat keinen Zweck, sie zu triezen, Miss Jessie. Wenn Barbie beschließt, eine Pause zu machen, packt sie sich einfach an Ort und Stelle auf ihren Hintern, bis es wieder weitergehen soll.« Tatsächlich musste sie zugeben, dass es wirklich drollig aussah, wie jedes der beiden Tiere seinen eigenen Kopf durchzusetzen versuchte und sie beide in verschiedene Richtungen zogen.
So waren sie und Mr. Bump vom Kutschbock gestiegen, hatten die Körbe mit Vögeln hinten auf dem Wagen ihrem Geschnatter überlassen und sich eine begraste trockene Kuppe gesucht, die trocken genug war, um sich hinzusetzen. Vor gut einer Stunde war ein Regenguss niedergegangen, der sie beide bis auf die Haut durchnässt und ihr Vorankommen erheblich verlangsamt hatte, weil sich die Straße dadurch natürlich sofort in einen Morast verwandelte, in dem dicke braune Lehmklumpen an den Rädern hängenblieben und rundherum Matsch aufspritzte. Jessie war froh, sich das Kleid glätten und ihr Haar lösen und sich in der Sonne trocknen zu können.
Einen schönen Anblick würde sie bieten, wenn sie endlich bei Miss Barton ankam, zerzaust und staubig von der tagelangen Reise und nun auch noch durchnässt und voller Lehmspritzer. Aber es spielte keine Rolle, was für einen Eindruck sie machte, sagte sie sich – wichtig war nur, dass Miss Clara Barton im Krieg verlorengegangene Soldaten aufspüren konnte, und Jacob Snow war im wahrsten Sinne des Wortes verschollen. Sein letzter Brief datierte vor über einem Jahr, 1865. Sie kannte ihren Bruder Jake so gut, wie sie sich selbst kannte – vielleicht sogar noch besser –, und sie wusste genau: Wäre er nur an einen Stift...




