E-Book, Deutsch, 304 Seiten
Rose Die Illusion der Massen
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-96267-658-2
Verlag: REDLINE
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Zwischen Konformität und Mitläufertum – warum wir kollektiv schlechte Entscheidungen treffen | Der Wall-Street-Journal-Bestseller endlich auch auf Deutsch
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
ISBN: 978-3-96267-658-2
Verlag: REDLINE
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Todd Rose ist Mitbegründer von Populace, einem Thinktank, der kulturelle und systemische Veränderungen anstoßen möchte, um allen Menschen ein erfülltes Leben in einer florierenden Gemeinschaft zu ermöglichen. Darüber hinaus beschäftigt sich der ehemalige Harvard-Professor intensiv mit menschlichem Verhalten und forscht in den Bereichen Neurowissenschaften, Sozialpsychologie und Verhaltensökonomie.
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Einführung
Das Geheimnis von Elm Hollow
Wir leiden in unserer Vorstellung häufiger als in Wirklichkeit.1
Seneca
Das hübsche Leuchtturm-Imitat, das sich an das Postamt von Eaton, New York, anschmiegt, ist ein Überbleibsel aus längst vergangenen Zeiten, als das Gebäude noch eine Tankstelle war. Mit seiner spiralförmigen rot-weißen Bemalung, die an das Symbol eines Barbershops erinnert, residiert der zweistöckige Turm über der tief im grünen Bauch des Bundesstaates New York gelegenen kleinen Ortschaft von ein paar Tausend Einwohnern. Vor einem knappen Jahrhundert wurde er stummer Zeuge einer der wichtigsten Studien zur öffentlichen Meinung – einer Studie, von der Sie vermutlich noch nie gehört haben.
Im Jahr 1928 ließ sich ein Doktorand der Syracuse University in diesem Dorf nieder. Richard Schanck, der zu den ersten Forschern auf dem damals noch neuen Gebiet der Sozialpsychologie gehörte, beabsichtigte, eine Studie darüber zu erstellen, wie Menschen sich ihre Meinung bilden. Er wählte dazu Eaton aus (in seiner 128-seitigen Doktorarbeit nennt er es »Elm Hollow«), weil es sich dabei um eine kleine, eng verwobene religiöse Gemeinschaft fernab des komplexen Stadtlebens handelte, wo jeder jeden kannte. Wie in allen kleinen Ortschaften behielten die Nachbarn in Elm Hollow einander wachsam im Auge. Der Tratsch führte sorgfältig Buch über alles und jeden. Wenn ein Kind auf dem Heimweg von der Schule einen Apfel von einem Nachbarsbaum pflückte oder ein Mann spätnachts über eine Wurzel stolperte, gab es bestimmt jemanden, der es bemerkte.
Den Menschen von Elm Hollow war bekannt, dass Schanck zu ihnen gekommen war, um ihr Gemeinschaftsverhalten zu studieren, aber schon nach kurzer Zeit behandelten sie den Großstadt-Akademiker und seine Frau wie ihresgleichen. Während ihres dreijährigen Aufenthalts in der Ortschaft freundeten sich die Schancks mit den Bewohnern von Elm Hollow an und wurden Teil der Gemeinschaft. Weil das Paar jeden Sonntag den Gottesdienst besuchte, wurde es nicht nur zu Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen, sondern auch nach Hause zum Abendessen eingeladen.
Schanck hielt seine Beobachtungen zum Verhalten seiner Dorfnachbarn in einem Notizblock fest, den er stets bei sich trug. Er fragte sie nach dem angemessenen Verhalten in der Öffentlichkeit und insbesondere nach ihrer Meinung zu den verschiedenen von der Kanzel gepredigten Verboten, was das Gesellschaftsleben betraf. »Sollte die Taufe durch Untertauchen oder Besprengen vollzogen werden?«, wollte er wissen. »Ist es erlaubt, sonntags ins Theater zu gehen?« – »Wie steht es mit dem Kartenspiel?« (Das Verbot des Spielens mit Karten, die Gesichter zeigten, hatte seine Wurzel im puritanischen Hass auf das britische Königshaus und dessen Vorliebe für das Glücksspiel). In der Öffentlichkeit war die Antwort nahezu einhellig: Die überwiegende Mehrheit der Befragten war sich einig, dass selbst Kartenspiele wie Bridge verboten waren.
Aber nach seinem ersten Jahr in Elm Hollow wurde Schanck klar, dass die Bewohner des Ortes nicht ganz so waren, wie sie in der Kirche und anderswo zu sein vorgaben. So berichtete Schanck beispielsweise, dass er persönlich mit den meisten Erwachsenen in Elm Hollow entgegen allem, was sie öffentlich beteuerten, getrunken, geraucht und Karten gespielt hatte – im Schutz ihrer eigenen Häuser. Diese Heuchelei verwunderte Schanck: Warum in aller Welt behaupteten die Dorfbewohner öffentlich, Verhaltensweisen zu missbilligen, die zu praktizieren sie hinter verschlossenen Türen, so schien es, kein Problem hatten?
In privaten Gesprächen mit seinen neuen Freunden drängte er sie zur Aufrichtigkeit. Im Versuch, die Gründe für diese Diskrepanz zu verstehen, stellte er ihnen eine Frage, deren Antwort unser Verständnis von »öffentlicher Meinung« für immer verändern sollte – und die uns unmittelbar zu diesem Buch führt.
»Was«, fragte er, »denkst du, würde die Mehrheit der Mitglieder dieser Gemeinschaft zum Rauchen, Trinken und Kartenspielen sagen?«
»Die meisten«, kam die Antwort, »würden sagen, dass das sehr sündige Aktivitäten sind.«2
So erklärten beispielsweise nicht weniger als 77 Prozent der Bewohner von Elm Hollow gegenüber Schanck, dass sie zwar selbst kein Problem mit Kartenspielen hätten, aber überzeugt seien, dass die meisten Vertreter ihrer Gemeinschaft für ein striktes Verbot seien.3 Aber sie hatten keine Ahnung, dass sie in Wahrheit Teil einer stummen Mehrheit waren. Fast drei Viertel von ihnen praktizierten exakt dieselben »Sünden«, aber sie alle behielten dies für sich. Selbst Mr Fagson, ein junger, eloquenter Baptistenprediger, der an der Öffentlichkeit eine starke fundamentalistische Position vertrat, war privat ein überzeugter Bridge spielender Liberaler.
Ähnliche Schismen traten zutage, als Schanck die Dorfbewohner zu einer Reihe weiterer religiöser und weltlicher Themen befragte, wie beispielsweise, ob sie gemeinsam mit der Nachbargemeinde eine neue Highschool errichten sollten (eine besonders hitzig geführte Debatte, die sogar zu Handgreiflichkeiten führte). Beim Versuch, diese seltsamen Diskrepanzen zwischen öffentlicher und privater Meinung zu verstehen, kam Schanck zu den Schluss, dass die Leute gerade so viel von der Mehrheitsposition übernahmen, dass sie sich als akzeptierte Mitglieder der Gemeinschaft sehen durften. Aber warum bekannten sie sich zu Normen, die sie persönlich und kollektiv eigentlich ablehnten? Und wie konnten sich die Menschen dieser kleinen Ortschaft in ihren Nachbarn so täuschen?
Das war der Augenblick, in dem er vom kulturellen Einfluss einer Witwe namens Mrs Salt erfuhr. Weil ihr Vater einst der Pfarrer der Kirche gewesen war, nahm Mrs Salt für sich in Anspruch, die Geschichte und Moral dieser Institution zu verkörpern. Weil sie auch die größte Geldgeberin war, hing der jetzige Pfarrer, der junge Mr Fagson, mit seinem Gehalt von ihr ab.
Mrs Salt schaffte es, die Dorfbewohner für die Dauer einer ganzen Generation eisern im Griff zu behalten. Durch die starke Autorität ihrer Persönlichkeit bestimmte sie, was man in der Öffentlichkeit zu sagen hatte und was nicht. »Energisch, wie Mrs Salt ist, und gewohnt, ihren Ansichten zu einem Thema beträchtlichen öffentlichen Ausdruck zu verleihen«, schrieb Schanck, »hören die Menschen regelmäßig dieses Orakel der Kirche ihre Ansichten darlegen, um diese sodann als normal für die Gruppe zu akzeptieren, ohne kritisch zu hinterfragen, wie viele ihrer Mitglieder tatsächlich so denken wie Mrs Salt.«4
Als die alte Frau jedoch starb, begannen sich die Dinge zu ändern. Kurz darauf nehmen der vermeintlich fundamentalistische Pfarrer und seine Frau eines Abends an einer Bridge-Party teil, auf der offen Karten gespielt wird. Dieses Ereignis löst eine Welle des Tratsches aus, die sich wie ein Buschfeuer über Elm Hollow ausbreitet. Wenn der Pfarrer Bridge spielt, wer tut es dann wohl noch? Wie die Leute so miteinander sprechen, gestehen sie einander ein, dass auch sie kein Problem mit dem Kartenspiel haben, was sie dazu bringt, sich laut zu fragen, worin sie sich sonst noch getäuscht haben könnten. Und damit ist der Bann gebrochen.
Richard Schanck schloss daraus, dass die Bewohner von Elm Hollow sich dem Diktat von Mrs Salt freiwillig unterworfen hatten, weil sie (fälschlicherweise) geglaubt hatten, jene hätte für die Mehrheit gesprochen. Schanck zeigte, wie selbst in einer kleinen Ortschaft die Menschen einander nicht immer so gut kennen, wie es ihnen erscheinen mag. Er zeigte, wie leicht eine kleine, lautstarke Minderheit – in diesem Fall eine einzige Person – den Rest der Gruppe falsch repräsentieren und irreführen kann. Und so gewährte er uns einen ersten echten, durch Beobachtung belegten Blick auf das Thema dieses Buches.
Dr. Schanck gehörte zu den ersten, die sich wissenschaftlich mit dem befassten, was ich als »kollektive Illusionen« bezeichne.«5,6 Kollektive Illusionen sind vereinfacht gesagt gesellschaftliche Lügen. Sie entstehen, wenn eine Mehrheit der Vertreter einer Gruppe insgeheim eine bestimmte Meinung ablehnt, sich aber dennoch zu ihr bekennt, weil sie (fälschlicherweise) annimmt, es würde sich dabei um die von den meisten anderen gehegte Meinung handeln. Wenn sich die Einzelnen so verhalten, wie es ihrer Ansicht nach die Gruppe von ihnen erwartet, tun sie am Ende womöglich etwas, das keiner von ihnen will. Das ist die dunkle Magie der kollektiven Illusion.
Die berühmteste Beschreibung einer kollektiven Illusion ist Hans Christian Andersens Märchen Des Kaisers neue Kleider von 1837. Sie kennen die Story: Zwei Betrüger machen einem eitlen Kaiser weis, sie würden für ihn feine Kleider weben. Sie behaupten, die Kleider seien von erlesener Schönheit, aber nur für intelligente Menschen zu sehen. Natürlich möchte niemand für dumm gehalten werden, und so machen alle bei dem Schwindel mit, obgleich die Kleider in Wirklichkeit gar nicht existieren. Als der Kaiser stolz und nahezu unbekleidet durch die Stadt paradiert, bricht der Zauber, als ein kleiner Junge den Mund aufmacht und die Wahrheit ausspricht.7
Wären kollektive Illusionen auf das Reich der Märchen oder der religiösen Glaubensbekundungen beschränkt, wären sie nicht allzu...