E-Book, Deutsch, 368 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Roman
E-Book, Deutsch, 368 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-1767-0
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Hier malte noch jemand mit gutem und klugem Verstand. Samuel Apzing über Judith Leyster in seiner
Beschrijvinge ende lof der stad Haerlem in Holland, 1628 1 Mit einem dumpfen Geräusch fiel der Klopfer an die Tür des Ateliers in der Korte Barteljorisstraat. Ich trat einen Schritt zurück und schaute an der Fassade empor, hinter der nicht die Geschäftigkeit herrschte, die ich erwartet hatte, sondern vielmehr Totenstille. Es war das Ende eines Arbeitstags, gegen sechs Uhr. Die Sonne stand schon tief und verschwand hinter den Hausdächern. Mein Körper warf einen lang gestreckten Schatten auf den Boden, der mir folgte, wenn ich mich bewegte. Zwei Kinder schoben einen Karren in die schmale Gasse. Ich drückte mich an die Wand, damit sie vorbeikamen. Das magere Mädchen drehte sich nach mir um, als sie mich passiert hatten. Im Gesicht hatte sie einen schwarzen Fleck, und der Saum ihres Rockes hatte sich gelöst. »He!« Der Junge blieb stehen und streckte die Hand aus. »Hast du ein Stück Brot für uns?« Ich schüttelte den Kopf. »Und Geld?« »Nein«, sagte ich, und die Kinder liefen weiter. Ich strich mir ein paar lose Strähnen aus dem Gesicht und klopfte an eines der Fenster, was aber auch keine Reaktion auslöste. Vorsichtig drückte ich gegen das raue Holz der Tür, und tatsächlich ging sie knarrend auf. Ich warf einen flüchtigen Blick in den leeren Gang. Am Ende hing ein hochgeraffter Vorhang. »Juffrouw Leyster!« Ich wartete kurz, dann trat ich einfach ein. Meine Augen mussten sich erst an das Dämmerlicht gewöhnen. Der Arbeitsplatz war größer, als man von außen vermutet hätte. Einige Fensterläden waren geschlossen, und es brannten gerade mal zwei Kerzen. Judith schaute von ihrer Staffelei auf. Ihre Malerschürze und die Ärmel ihres Kleides waren voller Farbflecken, ihre Haare waren straff zurückgebunden und ließen ihre hohe Stirn sehen. Wir waren uns schon mal auf dem Fleischmarkt begegnet, aber das hatte nie zu einem richtigen Kennenlernen geführt. »Kann ich Euch helfen?« Sie stand auf und legte Pinsel und Palette aus der Hand. Ich machte einen höflichen Knicks. »Ich bin Hester Falliaert. Hättet Ihr kurz Zeit für mich?« Ihre lebhaften Augen betrachteten mich neugierig. »Ist es wichtig? Wenn nicht, kommt bitte morgen wieder, ich wollte gerade aufhören.« »Es dauert höchstens ein paar Minuten.« Meine Worte klangen hölzern vor Nervosität, und ich hatte Angst, dass sie mir meine Bitte abschlagen würde. »Darf ich bei Euch arbeiten?« So plump hatte ich die Frage eigentlich nicht vorbringen wollen. Vater sagte immer, dass man mit Schmeichelei weiterkam als mit einer direkten Frage. »Nie zu gierig sein. Nicht alle Karten gleich auf den Tisch legen, bevor du sicher bist, dass du einen guten Vorschlag machen kannst.« Ich konnte mir einen ärgerlichen Seufzer nicht verkneifen. »Wie soll das aussehen?« Judith ließ den Blick über mich wandern und blieb an meiner Jacke hängen, die meine Herkunft als Kaufmannstochter sofort verriet. »Malt Ihr denn?« Ich stolperte über meine eigenen Worte, als ich ihr erzählte, dass ich seit meinem elften Lebensjahr bei meinem Onkel Elias in Leiden in der Lehre gewesen war. Nach meiner Ausbildung war ich noch länger geblieben, um mein Meisterstück zu machen, und nachdem er nun ins Ausland gezogen war, wohnte ich wieder zu Hause bei meinem Vater. Den anderen, den wichtigsten Grund verriet ich nicht. Auf ihrem Gesicht zeigten sich Skepsis und Ungläubigkeit. Sie wusste nicht, dass ich genauso gut war wie die meisten Maler in Haarlem. Wir standen uns minutenlang im Zimmer gegenüber. Aus der Ferne hörte ich Straßenlärm: Eine Mutter rief ihr Kind, ein Wagen ratterte über die Pflastersteine. Die Glocken des Glockenturms bei der Grote Kerk begannen zu läuten. Ich scharrte mit den Schuhen über die Fliesen. Das Atelier sah sehr ordentlich aus. Der Boden war gefegt, an der Wand stand ein Arbeitstisch mit einem Stein, auf dem man Pigmente reiben konnte. Es roch nach Leinöl und Farbe. Am liebsten hätte ich sofort ein paar Pinsel ausgepackt und mit dem Malen begonnen. Drei Staffeleien standen für den nächsten Tag bereit. Auf der ersten, mit Seitenlicht vom Fenster, damit kein Schatten auf die Leinwand fiel, wenn man die Farbe auftrug, stand ein halb vollendetes Porträt. Das zweite zeigte die Bleichwiesen außerhalb von Haarlem, und das dritte war ein Stillleben. In diesem wohlorganisierten Atelier würde sich jeder Künstler sofort an die Arbeit machen wollen. »Warum ausgerechnet bei mir?« Judiths Stimme klang sanft. Mit den Pinseln in der Hand ging sie zu dem Tisch in der Ecke, auf dem ein Pinselhalter stand. Sie goss ein wenig Öl aus einer Kanne hinein und legte die Pinsel in den Behälter. Ihre Handgriffe – Tätigkeiten, die ich selbst jahrelang tagtäglich verrichtet hatte, um die Pinselhaare weich zu halten – riefen eine Sehnsucht in mir hervor, die fast zu groß für meine Brust war. Mit verschränkten Armen zwang ich mich zum Stillstehen. »Ihr seid die einzige Frau in der Stadt.« Sie drehte sich zu mir um. »Ist das denn wichtig?« »Ja.« Wenn ich ihr hätte schmeicheln wollen, hätte ich gesagt, dass sie die Beste war. Aber ich verstand mich nicht so gut auf schöne Worte. »Bitte. Bringt mir bei, wie man seinen eigenen Arbeitsplatz leitet, so wie Ihr.« Sie wusch sich die Hände in einem Wassereimer und trocknete sie an ihrem Rock ab. Ein Lächeln kräuselte ihre Lippen. »Sag einmal, wie alt bist du eigentlich, Hester Falliaert?« »Sechsundzwanzig.« »Und was malst du so alles?« »Porträts, Stillleben, Blumen.« Mit einer Handbewegung forderte sie mich auf, mich zu setzen. Als ich an diesem Morgen aufgewacht war, sah ich als Erstes aus dem Fenster auf den kleinen Platz hinter unserem Haus. Es war ein schöner Tag, der Himmel war blau, und die Sonne schien mit aller Kraft. Ich nahm mir vor, einen Spaziergang durch die Stadt zu machen, damit Haarlem und ich uns wieder aneinander gewöhnen konnten. Ich wollte die Herbstfarben mit eigenen Augen sehen und die Orte aufsuchen, an denen ich zum letzten Mal als kleines Mädchen gewesen war. Als ich nach unten kam, stand das Frühstück schon auf dem Tisch. Ich gab meinem Vater einen Kuss und setzte mich an den Ebenholztisch. Während des Essens rutschte mein Vater ungeduldig auf dem Lederbezug seines Stuhls hin und her. »Heute Abend kommt Korneel Sweerts vorbei, der Tuchhändler.« Die Hand, in der ich mein Brot hielt, begann zu zittern. »Bitte?« Vater beugte sich tiefer über seinen Teller. »Er ist ein guter Geschäftsfreund.« Lustlos nahm ich noch einen Bissen. Man brauchte kein Gelehrter zu sein, um zu verstehen, warum Sweerts seit meiner Heimkehr dreimal die Woche mit kleinen Geschenken vorbeikam. Das Brot schmeckte mir nicht mehr, und ich schob meinen Teller beiseite. »Wo kann ich meine Sachen hintun, Vater? Mein Schlafzimmer ist zu klein.« Er wich meinem Blick aus. »Wir finden schon Platz für dich, mein Schatz.« Ich wartete darauf, dass er noch mehr sagte, aber sein Blick wanderte nur ein paarmal zum Porträt meiner verstorbenen Mutter, als würde er sie um Rat fragen. Bevor ich aus Leiden weggegangen war, hatte es nichts gegeben, was meinem Vorhaben, ein eigenes Atelier zu eröffnen, im Weg gestanden hätte. Meine ganze Jugend bestand aus Malen, und ich dachte, dass es immer so bleiben würde. Kleinere Schwierigkeiten in meinem Leben hatte mein Onkel, der Bruder meiner Mutter, geregelt. Früher hatten die Wärme und Zuneigung meines Onkels und seiner Frau mir das Gefühl gegeben, dass ich vor der Außenwelt beschützt wurde. Doch dann veränderte sich alles, und die Malerwerkstatt wurde geschlossen. Jetzt, wo ich wieder in Haarlem war, verursachte mir der Umstand, dass ich vor neuen Herausforderungen stand, sowohl Angst als auch Nervosität. Nach dem Gebet stand mein Vater mühsam auf. »Setzt Euch Eure Gicht wieder so zu?« Ich legte ihm eine Hand auf den Arm. »Es geht schon.« Er gab mir einen Kuss auf die Stirn. Nachdem er den Raum verlassen hatte, starrte ich noch einen Augenblick ins Kaminfeuer, bevor ich nach oben ging, um mein Umschlagtuch zu holen. Auf meiner Staffelei stand ein gerade vollendetes Porträt einer Frau. Ich hatte es in Leiden gemalt und noch nicht mit Firniss überzogen. An den Türpfosten gelehnt, betrachtete ich den gesenkten Kopf, die Falten ihrer Haube und die verschiedenen Schattierungen von Bleiweiß in ihrer Schürze. Das Sonnenlicht verlieh den Wangen der Frau eine hellrote Glut. Es war ein schönes Gemälde, und es würde sich einmal prächtig an der Wand eines Käufers ausnehmen. Tränen stachen hinter meinen Lidern, als ich mir das Umschlagtuch fester um die Schultern zog. Es blieb mir nichts anderes übrig, als mir eine Stelle bei einem anderen Maler in der Stadt zu suchen. Die Erste auf meiner Liste war Judith Leyster. Ich hoffte, dass sie mich empfangen würde. »Derzeit nehme ich keine Lehrlinge auf«, sagte Judith. »Und du hast ja schon deinen Meister gemacht, warum kommst du überhaupt zu mir?« Ihre Worte holten mich zurück in die Gegenwart. »Ich bin noch nicht bereit, eine eigene Werkstatt aufzumachen. Von den praktischen Dingen habe ich keine Ahnung.« Wortlos schenkte Judith einen Becher Wein ein. Meine Hand zitterte leicht, als ich danach griff. »Ich bezahle dich auch. Ich habe in den letzten Jahren gespart.« »Es geht mir nicht ums Geld.«...