E-Book, Deutsch, 608 Seiten
Rötzer Der Wachsmann
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-95530-208-5
Verlag: Edel Elements - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 608 Seiten
ISBN: 978-3-95530-208-5
Verlag: Edel Elements - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Richard Rötzer, 1952 in München geboren, studierte zunächst mittelalterliche Geschichte, bevor er sich dem Studium der Medizin zuwandte. 1997 erschien bei List sein Erfolgsroman Der Wachsmann, der ein begeistertes Lesepublikum fand.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
»Ist der christ tag an einem eritag, so wirt der wintter groß vnd schneibt, vnd flatig der lencz, vnd der sumer feucht, der augst trukken. Vnd daz chorn wirt lieb. Das vich stirbt, Honick wirt vil. Vnd vil prandes wird in eczleichen landen. Vnd vil vngewitters wirt. Kraut und garten frucht verdirbt. Ols wirt vil. Vnd ettwas betrubnuss geschieht den romern. Vnd die frawen sterben gern an den chinden, vnd die chunig sterben gern in dem jar.«
(Esdras’ Weissagung)
1. Kapitel
Das schwache Licht, das durch die schmale Öffnung in der Holzwand auf den festgestampften Erdboden fiel, kündete bereits die Morgendämmerung an, als Jakob Krinner erwachte. Amseln und Lerchen trällerten schon die wiederholte Strophe ihres Morgenliedes und – wie Jakob deutlich zu vernehmen glaubte – lauter und munterer als noch beim gestrigen Tagesanbruch. Der Dauerregen der letzten Tage, der die Gemüter der Menschen zermürbt und die Natur beinahe ertränkt hatte, schien aufgehört oder zumindest nachgelassen zu haben.
An Jakobs Rücken schmiegte sich der warme Leib seines jungen Weibes. Ihr Atem ging schnell und heftig. Sie mußte schon wach sein oder schwer träumen. Ihr rechter Arm umfing ihren Mann fest, beinahe verkrampft, als wolle sie ihn für ewige Zeiten festhalten. Jakob entwand sich vorsichtig der Umklammerung und drehte sich ihr zu. Zwei große dunkle Augen blickten ihn liebevoll und zugleich voller Besorgnis an.
»Liegst du schon lange wach? Du hättest mich wecken sollen.«
»Ich hab’ dich einfach noch spüren wollen und hab’ geglaubt, du hast den Schlaf nötig.«
»Ich möcht’ ja auch noch nicht fort, aber es muß sein.«
Sie legte ihren Kopf auf seine Brust, drückte ihn wieder fester.
»Jakob!«
»Ja.«
»Ich hab’ schreckliche Angst!«
»Aber, Lies, wovor denn?«
Seine Stimme sollte beruhigend klingen, obwohl er selbst Beklemmung verspürte und ahnte, daß die Besorgnis seines Weibes diesmal ernster zu sein schien.
Elisabeth Krinner war im Grunde nicht von ängstlicher Wesensart, sondern beherzt, geradeheraus und zupackend. Sie versorgte umsichtig den kleinen Hof, obwohl sie häufig damit allein gelassen war. Drei gesunde und kräftige Söhne hatte sie ihrem Jakob geboren, der jüngste gerade drei Jahre alt. Doch Lies hatte noch eine weitere Gabe, Segen und Fluch zugleich: Sie spürte oftmals bevorstehende Ereignisse, sah freudige Entwicklungen voraus und ahnte Unheil und Tod.
»Jakob, ich hab’ eine schreckliche Nacht gehabt. Mir war, als säß’ die Drud auf meiner Brust. Ich konnte kaum atmen, und der Alp hat nicht mehr aufgehört. Vom Wasser hat mir geträumt. Hoch angeschwollen war’s, reißend und voll tückischer Strudel. Und ein Haufen kleine Fische ist immer wieder aus dem Wasser gehüpft.«
»Das ist doch ein gutes Zeichen. Von Fischen träumen heißt, daß Geld ins Haus kommt. Und wenn es schlecht kommt, dann bedeutet es höchstens etwas Regen.«
»Nein, Jakob, hör mir zu! Plötzlich sind sie alle aufs Land gesprungen und auf einem Fleck mit weißem Sand verreckt. Grausig hat das ausgeseh’n, wie sie so gezappelt haben. Und die toten Fischaugen haben mich angeglotzt, vorwurfsvoll, als hätt’ ich sie umgebracht. Das bedeutet Streit und Unheil.« Und kaum mehr hörbar fügte sie hinzu: »Und vielleicht auch Tod.«
»Lies, Lies, du hörst zuviel auf das Geschwätz der alten Weiber.« Er lachte, aber es klang nicht wie sein gewohntes, herzliches Lachen, mit dem er auch in schwierigen Augenblicken seine Frau immer wieder zu trösten und aufzuheitern verstand. Diesmal war ihm selbst unwohl zumute, und er versuchte sich Mut zu machen, indem er sich seine Fähigkeiten und gut überstandene Wagnisse ins Gedächtnis rief.
»Jakob, ich weiß, du bist nicht leichtfertig. Aber es sind zu viele Zeichen. Ich hab’ seit Tagen die Raben gehört. Und der gestrige Johannitag war völlig verregnet. Der Gewittersturm hat in der Nacht die Feuer gelöscht, und kaum einer hat sich hinausgetraut, um die Kräuter zu holen, die wir für ein gutes Jahr brauchen.«
Am Vorabend des 24. Juni wurden allerorts hohe Holzhaufen aufgeschichtet, und wer das lodernde Feuer übersprang, der konnte sich Schutz gegen allerlei Krankheit erwerben. Die Feiernden bekränzten sich mit gelben Johanniskräutern, und hängte man sie nach dem Tanz ums Feuer, zu Büscheln gebunden unters Dach, so waren Haus und Bewohner geschützt vor Blitz- und Hagelschlag, aber auch vor den Nachstellungen böser Geister und dem Schadenzauber übler Nachbarn. Die Kirche, obwohl der Zauberei und dem Aberglauben abhold, verbot das Sammeln der Kräuter nicht, sofern es in frommer Gesinnung und nicht unter dem Gemurmel von Zaubersprüchen geschah.
»Jakob, geh nicht, nur dieses eine Mal! Ich bitt’ dich, beim Leben unserer Kinder!«
»Lies, du weißt, ich steh’ im Wort und in der Schuld. Ich kann nicht anders. Du weißt auch, was ich ihm verdanke. Hätt’ er sich nicht für mich verwendet, dann hätten wir vielleicht schon nichts mehr zum Beißen.«
»Aber du hast dir doch gar nichts zu schulden kommen lassen. Vielleicht war alles nur ein Versehen oder gar ein abgekarteter Betrug.« Ihr Tonfall wurde vorwurfsvoll und bitter. »Wer wird’s dir danken, wenn jetzt etwas passiert? Was kümmert denn den Kaufmann dein und unser Leben wirklich? Einen Dreck, sag’ ich, wenn er auch nur einen Pfennig verliert. Sei doch nicht immer so gutgläubig! Vielleicht benutzt er dich nur. Du setzt dein Leben aufs Spiel, während er sich die Hände reibt.«
Ihr Gesicht glühte jetzt fast, und er fühlte sich heftig zu ihr hingezogen ob der Leidenschaft, mit der sie um ihn kämpfte. Aber zugleich spürte er, wie die eigene Unsicherheit in ihm wuchs und die Oberhand zu gewinnen drohte, bis er in seiner Entscheidung gelähmt wäre. Er durfte dies nicht zulassen.
»Schluß jetzt! Kein Wort mehr! Es wird schon höchste Zeit für mich.« Er schlug die wollene Decke zurück und schickte sich an, das harte Strohlager zu verlassen, als sie seine Hand ergriff und ihn flehentlich ansah. Er hatte ungewöhnlich heftig reagiert, und sie wußte, daß dies nicht seinem eigentlichen Wesen entsprach. Aber sie wußte nun auch, daß es ihr nicht möglich war, ihn umzustimmen. Er hielt den Blick von ihr abgewandt. Während sie langsam seine Hand aus der ihren entließ, spürte sie immer deutlicher, wie sich zur Angst tiefe Traurigkeit gesellte.
Jakob schlüpfte in die Beinlinge und trat vor die Tür. Der Boden war feucht, und es tropfte noch überall von den Bäumen. Aber der Regen hatte tatsächlich aufgehört. Düstere Wolken ließen zwar noch keine ungehemmte Freude aufkommen, aber ein frischer Wind trieb sie bereits nach Osten. Hier und da riß die Wolkendecke schon kräftig auf und gewährte im Dämmerlicht des anbrechenden Tages einen Blick auf den langersehnten, blauen Himmel. Das Wetter hatte sich eindeutig gebessert.
Jakob war froh darüber und sandte einen kurzen Dank zum Himmel, der sein Vorhaben ganz offensichtlich mit Wohlwollen begleitete. Allmählich gewann er seine alte Sicherheit und Entschlossenheit wieder. Er ging die wenigen Schritte zum Brunnen, zog sich einen Eimer frischen Wassers herauf und verscheuchte damit die restliche Müdigkeit aus Gesicht und Gliedern. Das wollene Hemd, das er daraufhin anlegte, schützte ihn gut gegen die morgendliche Kühle auf seinem Rundgang durch das kleine Anwesen. Er schaute nach den wenigen Schafen, begrüßte die Ziege, die ihn verspielt mit dem Kopf anstieß und freute sich über den Hahn, der seine Hühner schon wichtigtuerisch über den Hof scheuchte. Es schien alles wohlgeordnet, wenn er sich nun für ein paar Tage fortbegeben mußte.
Als er ins Haus trat, spürte er sofort wieder die beklemmende Stimmung. Lies hatte inzwischen das karge Frühstück bereitet: etwas Brot, Haferbrei und ein Becher lauwarmes Bier. Sie selbst verspürte noch keinen Hunger oder brachte keinen Bissen hinunter, während ihr Mann schweigend seinen Brei löffelte. Beide hingen ihren Gedanken nach.
Jakob Krinner war Flößermeister und seit vielen Jahren der Zunft der Wolfratshauser Loisachflößer zugehörig. Die Loisach war wie eine kleine Schwester zur wilden Isar und als solche auch nicht ganz so ungebärdig. Der Schöpfer hatte der Isar von Anbeginn größere Hindernisse in Gestalt mächtiger Felsbarrieren in den Weg gelegt, während das Kindbett der Loisach friedfertiger verlief.
Die Flößer von München nahmen dies gelegentlich zum Anlaß, etwas mitleidig und überheblich auf die »Loisachpatscher« herabzuschauen, obwohl Graf Berthold aus dem mächtigen Geschlecht der Andechser den Wolfratshauser Flößern schon 1159 das Zunftrecht verliehen hatte, als München gerade erst gegründet war und von einer großen Zukunft noch gar nichts wußte.
Jakob fochten diese Sticheleien nicht an. Er hatte im Laufe der Jahre auch die Isar in ihrer ganzen Länge befahren und kannte daher ihre Tücken und Gefahren nur zu gut. Um so schwerer wogen für ihn die Vorwürfe, die man wenige Wochen zuvor gegen ihn erhoben hatte. Er hatte für den Kaufmann Pütrich eine Ladung Südtiroler Wein übernommen und sich verpflichtet, sie vollständig und unbeschadet in München abzuliefern. Nachdem er das Kaufmannsgut wohlbehalten dem Pfleger der Weinlände übergeben hatte, hatte er sich in die nahe gelegene Wirtsstube begeben, um sich für den Rückmarsch nach Hause zu stärken. Bei seiner...