Röttger / Bröcker / Benz Richter der Nacht
2. 2. überarbeitete Ausgabe - veränderte Neuausgabe 2014
ISBN: 978-3-943531-18-3
Verlag: Burgenwelt Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Historische Kriminalerzählungen
E-Book, Deutsch, 354 Seiten
ISBN: 978-3-943531-18-3
Verlag: Burgenwelt Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Sie agieren im Verborgenen, skrupellos und unbehelligt – Schurken, Intriganten, Mörder. Doch der Blick hinter die Fassade zeigt auch eine andere Seite. Die wahren Beweggründe werfen oft ein anderes Licht auf ein Verbrechen. Täter waren zuvor selbst Opfer einer Intrige. Und manch ein Bösewicht stolpert über seine eigenen Fallstricke. Immer jedoch gibt es auch Menschen, die dem Bösen auf der Spur sind und unermüdlich für Gerechtigkeit kämpfen. Sie jagen den Henker, der seine Fähigkeiten zur persönlichen Rache nutzt. Sie decken die Verschwörung auf, die eine ganze Stadt an den Rand der Rebellion bringt. Sie kommen dramatischen Schicksalen auf die Spur, die Weltgeschichte schreiben werden. Die zehn kriminell guten Kurzromane in „Richter der Nacht“ entführen den Leser in die lasterhafte Welt des Mittelalters und der Renaissance.
Autoren/Hrsg.
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Richter der Nacht
von Nina J. Röttger
Der kopflose Leichnam war überraschend schwer, als ich ihn anhob. Für einen Brocken wie Gerrit von Althain hätte ich mir auf dem Schafott sicher einen Knecht zu Hilfe geholt. Aber es gab kein Schafott und dies war keine öffentliche Hinrichtung, also schleppte ich den toten Kerl zum Fluss hinunter, um ihn ins Wasser zu werfen. Sein abgetrennter Kopf, der in einem Beutel steckte, schlug mir beim Gehen gegen die Beine. Über den Wipfeln des Waldes am anderen Ufer sah ich bereits die Morgenröte aufsteigen. Mein rot-schwarzes Wams klebte mir vor lauter Blut am Oberkörper; wenn ich mich nicht beeilte, würden mich die Kinder der Gerberfamilie von nebenan dabei bewundern können, wie ich die Leiche eines angesehenen jungen Mannes entsorgte, den ich eigentlich nicht hätte töten dürfen. Kein angenehmer Gedanke. Am Fluss angekommen, suchte ich die kleine Bucht an der Trauerweide. Durch die lang herabhängenden Zweige war sie von außen nicht einsehbar; außerdem lagen dort viele große Steine, die man als Gewicht benutzen konnte. Ächzend ließ ich Althains toten Körper auf die Erde plumpsen. Für einen Moment verharrte ich in stummer Unbeweglichkeit und betrachtete ihn. Mein Richtschwert hatte das Genick sauber zwischen den Wirbelknochen durchtrennt, so wie es sein sollte. Trotzdem war es anders als sonst. Es war jedes Mal anders, wenn ich nächtens auf die Jagd ging. Sorgfältig band ich ein Stück Hanfseil um einen großen Stein und knotete ihn um einen der schönen, schwarzen Reitstiefel. Eigentlich schade drum, dachte ich, aber schließlich siegte der Verstand. Ich ließ die Schuhe, wo sie waren, und beförderte den Leichnam mit einem kraftvollen Stoß in die Strömung. Mit lautem Platschen fiel er hinein, tauchte kurz unter und kam ein letztes Mal an die Oberfläche, um dann in einem Sog aus bleicher Haut und nasser Kleidung gurgelnd in die Tiefe zu sinken. Dann war der Rest an der Reihe. Der zu einer überraschten Fratze verzerrte Schädel war rasch erkaltet und blutete längst nicht mehr so stark wie vorhin. Durch die Augenlöcher meiner schwarzen Stoffmaske hindurch sah ich dem Toten in die weit aufgerissenen braunen Augen. »Gerrit von Althain«, sagte ich leise, »du hast dich eines Verbrechens schuldig gemacht, dessen du sicher warst, dass es niemals bestraft würde. Mag dich der Arm des Gesetzes nicht erreicht haben – meinem bist du nicht entkommen. Mögest du für deine Tat im Jenseits büßen.« Ich wollte mich gerade bücken, um nach einem geeigneten Stein zu suchen, damit ich den Kopf ebenfalls versenken konnte, als ein Geräusch die Stille zerriss. Ein Schreck durchfuhr mich. Es kam von Norden her – dort, keine zwanzig Schritt von meinem Standpunkt aus entfernt und nur wegen des dünnen Vorhangs der Trauerweidenzweige nicht zu sehen, stand meine Holzhütte. Jemand pochte energisch an die Tür und verlangte lautstark nach Einlass. »Thomas! Thomas Schinder, steh auf! Man braucht deine Dienste!« Verfluchter Mist. Der Büttel. Ohne lange zu überlegen, packte ich den Schädel bei den Haaren und schleuderte ihn so weit wie möglich von mir in den Fluss hinein. Der Wurf war kraftvoll, deshalb war nur ein fernes »Ploff!« zu hören, als er stromabwärts eintauchte. Ich wartete nicht ab, sondern rannte geduckt am Ufer entlang zum Haus, immer im Schutz der spärlich wachsenden Sträucher. Mit wild pochendem Herzen erreichte ich den winzigen Garten und die kleine Tür, durch die man von der Rückseite ins Haus gelangen konnte. Vorne hörte ich den Büttel rufen – er darf mich so nicht sehen –, dann stürzte ich in die dämmerige Stube. Mit fliegenden Fingern streifte ich mir den Gürtel mit dem Richtschwert von der Taille und hängte beides an den Haken neben der Feuerstelle, dann riss ich mir die Kleider vom Leib. Kapuze, Wams, Hose, Handschuhe – alles, was mit Blut befleckt war, flog in eine dunkle Ecke. Das grobe Hemd aus altem Leinen, das ich zum Schlafen trug, fand ich nach einigem Suchen. Rasch zog ich es an. Und nachdem ich ein paar Mal tief durchgeatmet hatte, um mein rasendes Herz zu beruhigen, trat ich vor und öffnete die Tür. Anno, der Büttel der Stadt, hielt mitten im Klopfen inne. Er hatte mit seinem Knüppel gegen das marode Holz geschlagen und sah nun so aus, den Prügel in der erhobenen Hand, als wollte er mir eins über den Schädel ziehen; in seinem hageren Gesicht zeichnete sich ein kurzer Schrecken ab, als ich unvermittelt vor ihm stand. »Meine Güte«, sagte er und hielt seine Laterne höher, die mich nach der langen Zeit in der Dunkelheit blendete. »Du hast einen Schlaf wie ein Toter, Schinder.« Ich würgte die passende Antwort hinunter und fuhr mir mit der Hand durch die zerzausten Haare. »Was willst du von mir in aller Herrgottsfrühe, Anno?« Der junge, ehrgeizige Büttel richtete sich zu voller Größe auf, wie immer, wenn er in offiziellem Auftrag unterwegs war. »Ich komme vom Gericht, genauer gesagt von Richter Eckebrecht, um dich zu holen«, erklärte er herablassend. »Die Stadt braucht ihren Henker.« --- Schon mein Vater war Scharfrichter. Genauso wie sein Vater, und dessen Vater davor – seit Generationen sorgte meine Familie dafür, dass die Gesetzlosen ihre gerechte Bestrafung erhielten. Auch mein Bruder und ich wandten uns diesem Beruf zu, sobald wir alt genug waren, um ein Schwert halten zu können. Nicht freiwillig. Aber wir taten es. Besonders Steffen fiel es schwer, sich mit seinem Schicksal abzufinden. Ihn traf es am schlimmsten, dass wir seit jeher ein Leben in Abgeschiedenheit führen mussten – von allen anderen Bewohnern der Stadt gemieden, abseits sitzend in der Kirche, umgeben von grausigen Überbleibseln wie abgehackten Händen und eingekochtem menschlichem »Armsünderfett«, die meine Mutter als Medizin und Glücksbringer an die Alten und Kranken verkaufte. Er war der Jüngere von uns beiden und nicht für ein Leben zwischen Folter und Galgen gemacht, seine Nerven waren einfach nicht stark genug dafür. Das hat ihn schließlich das Leben gekostet. Bevor ein Henker seinen Beruf ausüben darf, muss er eine Prüfung ablegen, wie jeder andere Handwerker auch. Tischlergesellen bauen ihrem Meister einen reich verzierten Wandschrank, Küchenjungen bereiten dem Koch einen guten Braten; für einen Jungen, der Scharfrichter werden soll, besteht das Meisterstück in einem perfekt geköpften Delinquenten. Er muss eine reibungslose Hinrichtung abliefern, sonst hat er für alle Zeiten sein Recht verwirkt, das Richtschwert zu schwingen. Mein allererster Kopf gehörte einem Mörder, der ruhig dakniete und seine Gebete vor sich hinmurmelte, bis ihm das Eisen durch die Kehle fuhr. Blut spritzte über die blanken Bohlen des Podests, der Pöbel schrie entzückt auf – und schon war es vorbei. Ich hatte Glück gehabt, doch trotzdem zitterten mir noch Stunden danach die Glieder. Steffens Meisterstück dagegen sollte, vier Jahre später, sein Verhängnis werden. Der Verurteilte war ein Berg aus Muskeln mit einem vorlauten Maul. Drei Knechte und der damalige Büttel waren nötig, um ihn das Schafott hinauf zu zerren, obwohl er gefesselt war. »Hunde!«, brüllte er und Speichel flog aus seinem hochroten Gesicht, »Nichtsnutzige Schlangen! Brennen sollt ihr, brennen in der Hölle!« Sein kahl geschorener Kopf zuckte hin und her wie wahnsinnig, während ihn die Männer fluchend in die Knie zwangen. Er schrie und schimpfte, brüllte über den ganzen Marktplatz hinweg zum Himmel hinauf; ich beobachtete aus dem Hintergrund, wie sich eine alte Frau in der Menge hastig bekreuzigte. Mein Bruder sah furchtbar verloren aus in dem zweifarbigen Wams und der viel zu großen Maske mit den Augenschlitzen. Der Himmel war dunkel und wolkenverhangen an diesem Tag. Ich erinnere mich noch, dass mein Vater neben mir stand und mir eine Hand auf die Schulter legte, als Steffen nach vorne zu dem Delinquenten trat. Es roch nach Mist und Weihrauch. Pater Regino, der glatzköpfige Kaplan, versuchte dem fluchenden Mann den letzten Segen zu geben, zog sich jedoch verängstigt zurück und eilte die Stufen des Schafotts hinunter. Steffen stand allein dort oben, das übergroße Schwert in der Hand. »Töte mich doch, du Schwein!«, brüllte der Hüne und wand sich wie ein Wahnsinniger in seinen Fesseln. »Töte mich doch, wenn du dich traust!« In diesem Moment befiel mich eine unheimliche Vorahnung. Der Atem blieb mir weg, als ich Steffens blaue Augen unter der Kapuze erkennen konnte. Ich sah seine wilde, blanke Panik, die fast nichts Menschliches mehr an sich hatte. Wie im Traum hob er das Schwert, das Schwert unseres Vaters. Das Volk um uns herum jubelte ihm zu, als er ausholte, während ich meinte, einen leisen, verzweifelten Schrei aus seiner Kehle kommen zu hören, nur für meine Ohren hörbar und so furchtbar, dass er mir das Blut in den Adern gefrieren ließ – dann schlug er zu. Und traf daneben. Knochen knirschten und flogen in Stücken durch die Luft. Das Brüllen des Mannes wurde zu einem gurgelnden, schrillen Schrei, als das Schwert seinen Kiefer in Trümmer schlug und ihn bis zur Hälfte abtrennte, bevor es einfach im Schädel stecken blieb. Grausige Fleischfetzen, in denen weiße Splitter schimmerten, fielen herab und blieben an baumelnden Sehnen hängen. Der Verurteilte kreischte und würgte markerschütternd durch seinen geborstenen Mund, während ihm Unmengen von Blut aus dem Gesicht quollen; einen furchtbaren Moment lang sah es aus, als würde er sich rot und schwallartig übergeben. Steffen stand wie versteinert hinter ihm, das Heft des Schwertes...