E-Book, Deutsch, 808 Seiten
Roes Zeithain
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-7317-6120-4
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 808 Seiten
ISBN: 978-3-7317-6120-4
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Michael Roes, geboren 1960 in Rhede/Westfalen, lebt in Berlin. Mehrjährige Aufenthalte im Jemen, in Israel, Algerien und den USA bilden den Hintergrund für viele seiner Bücher, Essays, Theaterstücke, Radiofeatures und Filme. 1993 erhielt er den Else-Lasker-Schüler-Preis, 1997 den Literaturpreis der Stadt Bremen, 2006 den Alice Salomon Poetik Preis für sein Gesamtwerk. 2012 erreichte er mit seinem Roman Die Laute die Longlist des Deutschen Buchpreises. 2020 erhielt er den Margarete-Schrader-Preis für Literatur der Universität Paderborn und den Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis.
Autoren/Hrsg.
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Ich heiße Philip Stanhope, wie mein Großvater, der letzte Graf von Chesterfield, mein Ururgroßvater, Admiral der Royal Navy, und mein Ururururgroßvater, jener junge missratene Philip Stanhope, unehelicher Sohn des gleichnamigen Vaters, Vierter Graf von Chesterfield, der seine berühmten, doch letztendlich vergeblichen Briefe an seinen Sohn über die anstrengende Kunst, ein Gentleman zu werden an ebendiesen Philip Stanhope adressiert hat. Nicht nur die Namensgleichheit, auch die unehelichen Verhältnisse durchziehen meine Genealogie wie ein misstönendes Leitmotiv. Der berühmte Vater meines ihn letztlich enttäuschenden Ururururgroßvaters war mit Petronella Melusina von der Schulenburg, der unehelichen Tochter von König Georg I. und seiner Mätresse, Ehrengard Melusine von der Schulenburg, vermählt. Diese Ehe aber blieb kinderlos, sonst hätte ich mich nun einer königlichen, wenngleich illegitimen Abstammung rühmen können. Indessen nahm auch der Vierte Graf von Chesterfield es mit der ehelichen Treue nicht so genau und zeugte meinen Ahnen mit einer dubiosen Mademoiselle Elisabeth du Bouchet, deren genaue Herkunft in den Familienarchiven dunkel bleibt. Und der aus dieser Liaison entsprungene Philip Stanhope hatte ebenfalls nichts Besseres zu tun, als der Mode seiner Zeit zu folgen und auf seiner Grand Tour in Rom den von einem Zeitgenossen als »plain almost to ugliness« beschriebenen Reizen meiner Ururururgroßmutter Eugenia Peters zu verfallen. Er war gerade mal achtzehn Jahre alt, sie zwanzig. Ihrem Schoße entsprangen Charles und der nächste Philip Stanhope, geheiratet haben die beiden aber erst Jahre nach der illegitimen Geburt ihrer Söhne 1730, im Jahr von Kattes Hinrichtung, in Dresden, und von der Existenz seiner Enkel erfuhr der Vierte Graf von Chesterfield erst nach dem frühen Tod seines Sohnes.
Diese mehr illustre als ehrenvolle Ahnengalerie hilft mir nicht einmal in grundlosen Phasen der Schwermut, meine von Selbstmitleid und Minderwertigkeitsgefühlen gemarterte Seele aufzurichten. Obwohl durch die Heirat des Vierten Grafen von Chesterfield mit Petronella Melusina von der Schulenburg, der illegitimen Tochter König Georg I. rechtmäßig mit dem Königshaus verwandt – illegitim ist König Georg I. ja der legitime Großvater meines illegitimen Vorfahren Philip –, bin ich nie zu einer Feier, sei es Taufe, Hochzeit oder auch nur einer Scheidung, meiner erstaunlicherweise immer noch über England herrschenden Verwandtschaft eingeladen worden. Vielleicht ist auch das, neben den bekannten Vorkommnissen im letzten Jahrhundert, ein Grund dafür, dass die deutschen Zweige und Verästelungen unserer Familiengeschichte bis zur Nichtexistenz verschwiegen wurden. Und das wäre zweifellos auch so geblieben, wären diese sieben Briefe nicht in meine Hände geraten.
Lord Chesterfields Rat an seinen unglücklichen Sohn könnte wortwörtlich auch aus dem Mund meines Vaters stammen: »Ich wünschte nichts herzlicher, als Dich so oft wie möglich lächeln zu sehen, aber niemals will ich Dich in Deinem Leben lachen hören. Regelmäßiges und lautes Gelächter ist eine Eigenschaft närrischer und schlecht erzogener Charaktere, mit dem der Pöbel seine dumme Freude über dumme Dinge äußert. Und sie nennen es auch noch Glücklichsein. Meiner Meinung nach ist nichts so unfrei und so krankhaft wie lautes Gelächter. Ich bin weder schwermütigen noch zynischen Gemüts, und ich bin offen für Amüsement wie jedermann, aber ich bin sicher, niemand hat mich, seit ich Herr meiner Vernunft bin, je lachen gehört!«
Würde man meinen Vater, einen schmallippigen Tory-Abgeordneten und ehemaligen Wirtschaftsanwalt, nach seiner Meinung über seinen erstgeborenen Sohn Philip, also mich, befragen, würde sein ernüchterndes Urteil in etwa folgendermaßen lauten: »Bitte fragen Sie nicht! Er hat sein Studium abgebrochen und ist zu Hause ausgezogen. Zum Militär will er nicht. Und eine anständige Arbeit findet er nicht, so wie er aussieht und sich benimmt. Sein Geld holt er sich vom Sozialamt ab, das es sich bei mir zurückholt. Von mir bekommt er keinen Cent!
Keine Ahnung, wo er sich im Augenblick herumtreibt. Die Adresse seiner Absteige hat er mir nicht mitgeteilt. Im Übrigen interessiert es mich auch nicht. Das letzte Mal habe ich ihn ohne Helm auf einem teuren Motorrad eine rote Ampel überfahren sehen. Ich weiß nicht, ob er diese Ordnungswidrigkeiten nur deswegen begangen hat, weil er mich an der Straßenkreuzung in meinem Dienstwagen erkannt hat. Wir haben uns nicht gegrüßt. Woher er das Geld für ein teures Motorrad hat? Ich vermute mal, aus Drogengeschäften oder anderen zweifelhaften Quellen. Er raucht Marihuana, schnupft Kokain, schluckt Ecstasy, das alles kostet viel Geld, und sicher bezahlt ihm das nicht das Sozialamt. Vielleicht hat er es auch irgendwo gestohlen. Schon als er noch bei mir wohnte, hat er gedealt und geklaut. Immer wieder standen merkwürdige Typen vor unserer Tür, offensichtlich Junkies, wenn Sie mich fragen. Und es gab gehäuft Wohnungseinbrüche und Diebstähle in der Nachbarschaft. Fast hätte ich selbst die Polizei auf ihn aufmerksam gemacht! Doch dann ist er endlich ausgezogen, und die Diebstähle hörten auf. Oder haben sich in andere, weniger gut beleumundete Quartiere der Stadt verlagert. Womöglich wäre es von nicht geringem erzieherischen Wert, wenn er tatsächlich mal erwischt würde und die Justiz ihm einen ordentlichen Denkzettel verpasste! Natürlich, kaum je ist mal ein junger Mann in einer Strafvollzugsanstalt zu einem besseren Menschen geworden. Wenn Sie mich fragen, ich habe ihn abgeschrieben! Aber besser, Sie fragen mich nicht!«
Diese fiktiven, aber durchaus realistisch wiedergegebenen Auskünfte meines Vaters sind nicht vollkommen unberechtigt oder falsch, aber, wie alle väterlichen Urteile über ihre heranwachsenden Söhne, ziemlich einseitig. Nun, ich will erst gar nicht versuchen, mich zu rechtfertigen, denn die andere, unberücksichtigte Seite geht meinen Vater überhaupt nichts an. Nicht er hat sie einfach ignoriert, sondern ich habe sie, zunächst mit kindlicher Verschlagenheit und später mit jugendlichem Missmut, vor ihm verborgen gehalten. Er weiß ohnehin schon mehr von mir, als mir (und ihm) lieb sein kann, doch in frühen Lebensjahren ist es einem Schutzbefohlenen ja noch nicht gegeben, alles vor den Erziehungsberechtigten geheim zu halten.
Bei einem jener von ihm zu Recht so missbilligten Streif- und Beutezüge durch die väterliche Wohnung, die eher Unzufriedenheit und Langeweile als tatsächlicher Bedürftigkeit geschuldet waren, stieß ich im Walnusssekretär meines Vaters, einem alten Familienerbstück und absolutem Tabu für meine pubertären, von exzessiver Selbstbefriedigung befleckten Kifferfinger, auf diese besagten Briefe an meine Urururururgroßmutter, säuberlich und gut lesbar in einem altmodischen Französisch mit Tusche auf inzwischen ein wenig vergilbtem Büttenpapier verfasst. Sofort steht mir der Wert dieser Briefe, an deren Authentizität ich keinen Augenblick zweifle, vor Augen, und ich gehe im Geiste schon die Liste jener Hehler durch, die mir Höchstsummen für derlei Kuriosa zu bezahlen versprechen. Doch dann entscheide ich, eher aus einer mich selbst überraschenden Laune heraus, diese Briefe doch erst einmal zu lesen, bevor ich sie an den Meistbietenden verhökere.
Ich begreife schnell, dass sie nicht vollständig sein können, da immer wieder auf Briefe verwiesen wird, die in dem kleinen Bündel fehlen. Trotzdem ergibt sich ein recht geschlossenes und mich, aller jugendlichen Abgebrühtheit zum Trotz, tief berührendes Bild des Briefschreibers. Mit ihnen beginnt in gewissem Sinn auch meine Geschichte. Nicht, dass der Fund mich zu einem besseren Menschen gemacht hätte. Aber ich behielt die Briefe, bis heute hat mein Vater ihren Diebstahl nicht entdeckt (oder mir von der Entdeckung keine Mitteilung machen wollen). Ich habe sie zunächst nach bestem Wissen und Gutdünken aus dem barocken und nicht immer ganz korrekten Französisch des märkischen Junkers ins Deutsche übertragen. Das hat mir unerwartet große Freude bereitet. Ich möchte nicht von Seelenverwandtschaft mit dem unbekannten Cousin sprechen. Vielleicht genügt schon der Umstand, dass ich nun fast in dem Alter bin, in dem Lieutenant Hans Hermann von Katte seinen Tod fand.
Wer war die Adressatin, diese Tante und mütterliche Freundin Kattes, Schwiegermutter meines Vorfahren Philip Dormer Stanhope, Vierter Graf von Chesterfield? Auf jeden Fall eine der mächtigsten Frauen ihrer Zeit, eine britische Madame de Pompadour, auf die meine Familie, trotz ihres ein wenig anrüchigen Standes einer königlichen Mätresse, bis heute mit einem gewissen Stolz blickt.
Dabei fing doch alles eher provinziell und bescheiden an: Sie diente als Ehrendame am Hof der Prinzessin Sophia von Hannover, Enkelin von König James von England, bis der Sohn Sophias, Kronprinz Georg Ludwig, sie zu seiner Bettdame erwählte. Als Georg nach dem Tod von Königin Ann im Alter von vierundfünfzig Jahren zum britischen Thronfolger, dem ersten aus dem Haus Hannover, ernannt wird, nimmt er Ehrengard Melusine von der Schulenburg, inzwischen mit ihren siebenundvierzig Jahren auch nicht mehr die Jüngste, dem zukünftigen König von England aber ans Herz gewachsen, mit nach London.
Obwohl mehr als fünfzig Verwandte Königin Anns ihr näher standen, kamen sie als Thronfolger nicht infrage. Ein Gesetz aus dem Jahr 1701 verbot Katholiken den britischen Königsthron. Und Georg Ludwig von Hannover war schlicht der nächste noch lebende protestantische Verwandte.
In England schafft er für seine Mätresse das Herzogtum Munster, die Grafschaft Dungannon und die Baronie Dundalk in Irland, und...