Roes | Melancholie des Reisens | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 536 Seiten

Roes Melancholie des Reisens


1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-7317-6177-8
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 536 Seiten

ISBN: 978-3-7317-6177-8
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



'Reisen ist für Michael Roes Leidenschaft, Lebensform und Geisteshaltung. Afghanistan, Israel, Jemen, Mali, Marokko und Tunesien hat er nicht nur besucht und erforscht, sondern sich eingelassen auf fremde Kulturen, heikle Situationen und unerwartete Nähe. Die inneren Widersprüche anderer Wertesysteme liest der Autor als Spiegel unseres eigenen verdrängten zivilisatorischen Unbehagens, das sich überall auf der Welt im Umgang mit Außenseitern zeigt. In Zeiten des Massentourismus betont er in seinen Essays, die auf Tagebuchaufzeichnungen früherer Reisen und ausgiebigen Lektüren beruhen, den intellektuellen Charakter des Reisens als Suche nach der Wahrheit. Denn zuallererst führt es in die Welt der Bücher, zu den Geschichten derjenigen, die vorher schon dort waren, wo man vielleicht nie ganz ankommen kann. Doch muss sich auch der Körper mit seinem Begehren und seiner Verletzlichkeit beim Reisen der Erfahrung des Fremdseins aussetzen. Und so ringt der reisend Schreibende mit Theater- und Filmprojekten in umkämpften Gebieten um Verständigung.Mit 'Melancholie des Reisens' gewährt uns Michael Roes nicht nur Einblick in die Entstehung seiner Werke und seine Beobachtungen in der Fremde, sondern auch und vor allem in die Wahrnehmung des Autors von sich selbst als Reisendem und Fremdem.'

Michael Roes, geboren 1960 in Rhede/Westfalen, lebt in Berlin. Mehrjährige Aufenthalte im Jemen, in Israel, Algerien und den USA bilden den Hintergrund für viele seiner Bücher, Essays, Theaterstücke, Radiofeatures und Filme. 1993 erhielt er den Else-Lasker-Schüler-Preis, 1997 den Literaturpreis der Stadt Bremen, 2006 den Alice Salomon Poetik Preis für sein Gesamtwerk. 2012 erreichte er mit seinem Roman Die Laute die Longlist des Deutschen Buchpreises. 2020 erhielt er den Margarete-Schrader-Preis für Literatur der Universität Paderborn und den Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis.
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1

Aden, den 14.12.2009 Auf Mücken war ich vorbereitet, aber nicht auf die vielen Fliegen, die in die Augenwinkel und in die Nasenlöcher schlüpfen, Dutzende, ein unentwegter Alptraum, der mich an Flussblindheit und Bilharziose denken lässt.

Von meinem Hotel aus blicke ich direkt auf die kargen, steilen Kraterwände, die sich wie ein riesiges versteinertes Reptil um die Stadt in ihrer Mitte legen. Bisher habe ich kein einziges europäisches Gesicht gesehen. Gibt es in Aden keinen anderen Europäer? Vierzig, fünfzig Jahre alte Autos entdecke ich in den engen Straßen, laut, stinkend, doch offenbar unverwüstlich.

Die Menschen hier wirken auf mich freundlicher, entspannter, sanfter als in Sanaa, auch wenn die Lebensbedingungen in der »Winterhauptstadt« des Jemen ungleich härter scheinen. Aber das sind nur erste, flüchtige Eindrücke.

Ein Verwirrter kommt an meinen Tisch, reicht mir seine schmutzige Hand, redet mit kurzen, abgehackten Sätzen auf mich ein und schlägt sich unterdessen ständig ins Gesicht. Die anderen Gäste geben mir mit unmissverständlichen Gesten zu verstehen, dass der Mann verrückt sei. Als ob ich das nicht selbst bemerkt hätte. Aber keiner schreitet ein, beruhigt den Mann oder führt ihn fort. Sie lassen mich allein mit der Frage, ob ich die ausgestreckte Hand hätte zurückweisen oder dem speichelgetränkten Wortgemetzel aus dem zahnlosen Mund durch eine höfliche, aber bestimmte Aufforderung ein Ende bereiten dürfen.

2

Aden, den 15.12.2009 Ich habe mir Aden weiß und blau vorgestellt, eine weißblaue Stadt am Meer. Nun finde ich einen Ort aus Vulkangestein und Asche vor. Und statt der Möwen Krähenschwärme über dem Himmel der Stadt und auf den Schlafbäumen, deren Namen mir niemand nennen kann. Krähengeschrei zerfetzt die Luft, ärgerlichen Menschen ähnlich, selbst die Gesänge der Muezzine und den Verkehrslärm übertönt es.

Doch das erste, was der Körper spürt und unmittelbar ins Bewusstsein dringt, wenn man aus der dünnen Höhenluft Sanaas kommt, ist die dichte, fast mit Händen zu greifende Seeluft, salzig, feucht und schwer, ein Gemisch aus faulendem Fisch, trocknenden Netzen, Teer. Diese Luft hat einen eigenen Körper, in dem ich mich anders bewege als im Gebirge, sie ist wie Asche, dieser feinste, nachgiebigste Aggregatzustand unseres Daseins.

3

Aden, den 17.12.2009   Rimbauds Kontor, das nach der Wiedervereinigung des Jemen zu einem französischen Kultur- und Forschungszentrum umgebaut wurde, ist von den Franzosen – angeblich wegen Baufälligkeit – wieder aufgegeben worden. Nun beherbergt das historische Gebäude, ohne sichtbare Zeichen irgendeiner Erneuerung, das Hotel Rambow, eine Rückübersetzung des berühmten Dichternamens aus dem Arabischen ins Englische, die dem Dichter selbst vielleicht sogar gefallen hätte.

Das heutige Rambow ist ein zweistöckiges Gebäude, grau verputzt, mit weißgetünchten romanischen Bögen über den kleinen rechteckigen Fenstern zur Hauptstraße, der Schari’a Arwa hin; vielleicht nachträglich verkleinert, der Hitze und des Lärms wegen. In der Schari’a Arwa gibt es nur noch wenige erhaltene Häuser mit den einst für Aden charakteristischen hölzernen Erkern, Fensterläden und Veranden, die an das koloniale Bombay erinnern.

Der Hotelmanager antwortet mir auf meine Frage, warum es in Aden keine Möwen, sondern nur Krähen gebe, die Briten hätten die Krähen aus Indien nach Aden gebracht, zur Rattenbekämpfung. Ratten gebe es heute immer noch, aber keine andere Vogelart mehr.

Das Erdgeschoss hat hohe Decken und könnte sehr gut als Lager und Kontor gedient haben. Ob dieses Haus jedoch tatsächlich Rimbauds Arbeits- und Wohnort in Aden gewesen ist, weiß niemand mehr mit Sicherheit zu sagen.

Vielleicht ist das auch gar nicht wichtig. Die ganze Stadt ist eine Art siecher Mythos seiner selbst, eine dunkle Schöne auf den dritten Blick; zerbröckelnde Gebäude aus grauschwarzem Basalt, hölzerne Vorbauten aus dunklem Zedern- oder hellerem Palmholz, statt Fensterscheiben Flecht- und Schnitzwerk, das nur den dampfenden Wind und feinen Staub, aber keine neugierigen Blicke hindurchlässt. Hier finde ich die Erklärung für die Wurzel des arabischen Wortes für »Fenster«, schubak: schabaka, schnitzen, herausschneiden.

Dann wieder erinnert Aden an die große Zeit der Hafenstädte, Tanger, Marseille, Havanna, eine Zumutung für alle Sinne, ungesund, zwielichtig, syphilitisch, sinnlich, so dass manch Reisender wünschte, diese Stadt sei nur geträumt. Trotzdem möchte er dieses Abenteuer geheim und für sich behalten, damit nicht andere kommen und diesen Traum zerstören.

Er ist sich bewusst, dass sich auf diesem kargen Flecken erkalteter Lava einst das Paradies befand. Er muss nur geduldig sein und lang genug ausharren, und der Garten Eden wird genau hier, zwischen diesen schwarzen Kraterwänden, wieder erblühen.

4

Aden, den 18.12.2009 Ich habe das Zimmer 106 bezogen, weil hier angeblich Rimbaud während seines Aufenthalts in Aden gewohnt haben soll. Das Zimmer mag dasselbe sein, vermutlich das ruhigste und kühlste im ganzen Haus. Die Holzbalkendecke und die weißgetünchten Wände scheinen seit hundert Jahren unverändert. Nur der fleckige Teppichboden mag jüngeren Datums sein, wenn auch nicht sehr viel jünger.

Unter genau diesen schwarzen Balken, von denen sich die Zecken und Wanzen nun auf mich stürzen, hat sich womöglich Rimbaud in schlaflosen Nächten gewälzt, das Leben im Allgemeinen und diese Stadt im Besonderen verfluchend. Aus diesem Fenster hat er auf den tiefhängenden Adener Himmel geschaut.

Rimbaud ist fünfundzwanzig Jahre alt, als er von der Sonne verbrannt, müde und vom Fieber erschöpft, ohne Geld, ohne Beruf, ohne Plan an diesem äußersten Rand der arabischen Welt strandet. Damit beginnt der erste Tag vom Ende seines Lebens.

Immerhin, er spricht Französisch, Englisch, Deutsch, hat Kenntnisse in Italienisch, Griechisch und Latein und beginnt, Arabisch zu lernen, nachdem der französische Kaffeehändler Alfred Bardey ihn als Vorarbeiter eingestellt hat.

Der Lärm des Straßenverkehrs brandet ins Zimmer. Zumindest davon ist Rimbaud verschont geblieben. Doch war die Stadt wirklich stiller?

Auf jeden Fall war sie staubiger, kaum eine Gasse war gepflastert, und beständig wühlten Karrenräder und Viehhufe den Dreck in den wie mit dem Lineal gezogenen Straßen auf.

Blicke ich aus dem Fenster, schaue ich auf ein freistehendes, weiß gekalktes Minarett, das älteste noch erhaltene Gebäude in Crater. Ob es je eine dazugehörige Moschee gab, wissen die Historiker nicht.

Links vom Minarett befindet sich die Hauptpost, rechts das Stadion von Crater. Die meisten Gebäude, die ich von meinem Fenster aus sehe, wurden nach Rimbauds Aufenthalt in Aden errichtet. Vermutlich konnte er vom oberen Stockwerk seines Kontors bis zu den Befestigungsanlagen auf den Bergrücken blicken, die ältesten aus dem zwölften Jahrhundert, zunächst zur Sicherung der Stadt gegen Überfälle von Beduinen. Dieser Stützpunkt mit dem besten Naturhafen der arabischen Halbinsel weckte natürlich Begehrlichkeiten.

5

Aden, den 19.12.2009 Die Kinos in Aden sind offene Höfe ohne Regen- oder Sonnendach. Nichts trennt den Zuschauer von den Mückenschwärmen und dem nahen Himmel. Die Tage am Meer beginnen bewölkt und enden sternenklar.

Es läuft ein alter, verstümmelter Bollywood-Streifen. Ich will schon wieder gehen, da tauchen plötzlich kurze pornographische Szenen auf, die definitiv nicht in den Film gehören, aus dem ja selbst die harmlosesten Kussszenen herausgeschnitten wurden. Nach wenigen Minuten ist der schockierende Spuk vorbei, und die ausgeblichenen und zerkratzten Tanzszenen am Ganges nehmen ihren unterhaltsamen Lauf. Mit mir verlassen nun auch alle anderen Männer, von dem kurzen, offenbar nicht unerwarteten Intermezzo schon befriedigt, dieses Freiluftkino.

Der Reisende braucht und verbraucht Vor-Urteile. Jedes Urteil ist nur Durchgang. Und so ist es auch seine Haut, ist es sein Körper, jeder seiner Sinne.

Kleinigkeiten, die das Leben in dieser Stadt angenehm machen: Der Schneider mit der alten Singer-Nähmaschine, der sofort den kleinen Riss in meiner Jacke näht; der Schuster, der mit Leim, Ahle und Zwirn mein die langen Fußmärsche nicht mehr gewöhntes Schuhwerk wieder gehtauglich macht; der noch zappelnde Fisch am frühen Morgen kurzerhand aus den Fangbooten geholt; und das heiße Fladenbrot geradewegs aus den Öfen geklaubt. Nur der Sonnenbrand auf der Stirn und im Nacken wird dem Wanderer stets zu spät bewusst, scheint die Sonne doch den ganzen Tag in einen milchigen Dunst gehüllt.

Weiß noch immer nicht, wie ich mit den vielen Bettlern umgehen soll. Am Ende mache ich es wie die Einheimischen, weise auf den Himmel, das heißt, Allah werde sich schon kümmern, doch komme mir zynisch vor, da ich nicht davon ausgehe, dass dort oder sonst wo jemand ist, der sich um uns sorgt.

Das Schlimmste ist nicht die Armut, sondern dass wir uns ihrer schämen.

6

Aden, den 20.12.2009 Crater, der älteste und lebendigste Stadtteil Adens, liegt tatsächlich in einem Krater und ist von einer bis zu fünfhundert Meter hohen Vulkanwand umgeben; die steilen Hänge sind ohne jedes Grün; und jeden Augenblick fürchtet der fremde Besucher, der Vulkan könne zu neuem Leben erwachen.

Aber auch ohne frisches Magma kocht die Luft in diesem großen Felskratertopf in...


Roes, Michael
Michael Roes, geboren 1960 in Rhede/Westfalen, lebt in Berlin. Mehrjährige Aufenthalte im Jemen, in Israel, Algerien und den USA bilden den Hintergrund für viele seiner Bücher, Essays, Theaterstücke, Radiofeatures und Filme. 1993 erhielt er den Else-Lasker-Schüler-Preis, 1997 den Literaturpreis der Stadt Bremen, 2006 den Alice Salomon Poetik Preis für sein Gesamtwerk. 2012 erreichte er mit seinem Roman Die Laute die Longlist des Deutschen Buchpreises. 2020 erhielt er den Margarete-Schrader-Preis für Literatur der Universität Paderborn und den Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis.

Michael Roes, geboren 1960 in Rhede/Westfalen, lebt in Berlin. 1993 erhielt er den Else-Lasker-Schüler-Preis, 1997 den Literaturpreis der Stadt Bremen, 2006 den Alice Salomon Poetik Preis, für sein Gesamtwerk. 2012 erreichte er mit seinem Roman Die Laute die Longlist des Deutschen Buchpreises. Bei Schöffling & Co. erschienen seine Romane Zeithain, mit dem er für den Preis der Literatour Nord nominiert war, und Herida Duro. Mehrjährige Aufenthalte im Jemen, in Israel, Afghanistan, Algerien und Mali bilden den Hintergrund für viele seiner Bücher, Essays, Theaterstücke, Radiofeatures und Filme, so auch für Melancholie des Reisens. 2020 erhält er den Margarete-Schrader-Preis für Literatur der Universität Paderborn und den Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis.



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