Roes | Die Legende von der weißen Schlange | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 465 Seiten

Roes Die Legende von der weißen Schlange


1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-95757-053-6
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 465 Seiten

ISBN: 978-3-95757-053-6
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Jian lebt in zwei Welten. Tagsüber ist er Darsteller an der Kun-Oper, huldigt mit Maske und hölzernen Pantoffeln der jahrtausendealten chinesischen Kultur, nachts tanzt er mit Freunden Breakdance, besprüht Hauswände und rast auf seinem Skateboard durch die nächtliche Megacity Nanjing. Michael Roes, Weltenreisender und feinsinniger Beobachter, zeigt einen jungen Mann, der zwischen den Erwartungen von Familie und Gesellschaft, von Tradition und Moderne verzweifelt um Freiheit und Selbstbestimmtheit ringt. Sein eindrucksvoller, raffiniert komponierter Roman, in dem er seine Erfahrungen mehrerer China-Aufenthalte verarbeitet, verwebt die chinesische Geschichte und Gegenwart mit dem Portrait einer Jugend, für die radikale Kontraste und Widersprüche längst zum Alltag gehören.

Michael Roes, 1960 in Rhede/Westfalen geboren, aufgewachsen in Bocholt. Mehrjährige Aufenthalte im Jemen, Israel und Amerika bildeten den Hintergrund für viele seiner Bücher. 2013 wurde er mit dem Spycher Literaturpreis Leuk ausgezeichnet; zuletzt erschienen Die Fünf Farben Schwarz, Geschichte der Freundschaft und Die Laute sowie Die Legende von der Weißen Schlange. Michael Roes lebt in Berlin.

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Wenn Baba kocht, riecht man es nicht nur in der ganzen Wohnung, sondern im ganzen Block, bis auf die Straße hinaus. Nicht, dass auf anderen Herden nicht auch gekocht würde. Aber das sind nur die üblichen Küchendünste, Hühnchen süßsauer, frittierte Bananen, verbranntes Schweinefleisch nach Kantoneser Art. Wenn Baba kocht, dringen die Düfte von gedünsteten Löwenköpfen, Tintenfischen und Seidentofu auf die Straße, und die Passanten bleiben stehen, schließen für einen Moment die Augen und atmen diese verführerischen Gerüche bis tief in ihre Nebenhöhlen. Nicht nur ist die Wohnung von Bittermelonen und Tigerlilienaromen gesättigt, es ist auch höllisch heiß, wenn Baba kocht, denn alle sechs Flammen des Herdes brennen bei größter Hitze. Viele Gewürze, die mein Vater benutzt, entfalten ihr Aroma nur bei höllischen Temperaturen. Behauptet Baba zumindest. Deswegen steht er nur mit Shorts bekleidet und barfuß vor dem Herd und zwingt auch den konsumierenden Rest der Familie, in den Stunden seines Höllenfeuers alle überflüssigen Kleidungsstücke abzulegen. Keine Klimaanlage der Welt könnte dieses glühende Kochfieber kühlen. Da er weiß, dass ich Ingwer nicht mag, zaubert er seine Austernsauce aus braunem Rohrzucker, Reiswein, Sesamöl, Chili, Knoblauch und Frühlingszwiebeln. Erst wenn Fleisch und Gemüse im Wok gar sind, gießt er sie darüber. Und einen Augenblick später riechen das Haus und alle seine Bewohner, die unserem Familienabend nicht entfliehen können, nach einer herben Variante von ma po dou fu, Tofu nach Art der pockennarbigen Alten, wenig Tofu, dafür viel Hackfleisch, Meerschwein oder Katze, mit Chili, scharfer Bohnensauce und Sichuanpfeffer. »Wofür sollen diese Experimente eigentlich gut sein?« frage ich beiläufig. »Für jahrelange Raumfahrten in andere Sonnensysteme zum Beispiel«, antwortet Baba, während er den Topf mit Hackfleisch vom Herd nimmt und durch die kleine Wachteleierpfanne ersetzt. »Kann man einen Menschen wirklich so auftauen, dass er tatsächlich wieder lebt?« frage ich. »Im Augenblick können wir es noch nicht. Immerhin sind wir inzwischen schon in der Lage, einzelne Organe oder auch Embryonen einzufrieren und wieder zum Leben zu erwecken.« »Aber einen ganzen Menschen habt ihr noch nicht aus seinem Stickstoffgrab zurückgeholt, oder?« »Nein. Aber es ist nur eine Frage der Zeit, dass uns das gelingen wird.« »Angenommen, ein Mensch würde erst in Jahrhunderten wieder erwachen, wie soll er sich da zurechtfinden?« »Er würde wohl zunächst entsprechende Rehabilitationsmaßnahmen durchlaufen müssen, in denen er sich nach und nach mit den Veränderungen vertraut machen kann. Aber die Neugier auf die Zukunft oder auch andere, sonst nicht zu erreichende Welten ist wohl größer als die Angst, sich dort womöglich nicht zurechtzufinden.« Mein Vater war zweifellos froh, dass auch sein zweites und nun einziges Kind ein Sohn war, denn er hat mich seither unablässig und bedingungslos geliebt. Ma hingegen muss wohl bald enttäuscht gewesen sein, dass dieser Zweitgeborene ein träges und trauriges Kind zu werden drohte, ein Junge, der nicht aus dem Haus ging und keine Freunde zu sich einlud, vielleicht nicht einmal Freunde hatte, der keine Lust am Sport zeigte, aber auch nicht las oder Klavier spielte oder sich für sonst irgendetwas interessierte. Doch als das alles sich fast buchstäblich von einem Tag zum anderen änderte – ich war zwölf, als mein neuer Klassenlehrer in der Oberschule mich neben Chang Qing setzte –, war meine Mutter nicht beglückt, sondern schien nun erst recht besorgt über meine neuen Freunde und merkwürdigen Interessen. Die Veränderungen waren eigentlich nur oberflächlicher Natur. Nach wie vor liebe ich es, allein zu sein. Immer schon war ich voller Ideen und Träume gewesen. Nur äußerlich wirkte ich tatenlos und träge. Dabei war ich einfach nur ein stilles Kind und habe nie jemandem von den vielen phantastischen Abenteuern erzählt, die ich in den scheinbar reglosen Stunden in meinem Kinderzimmer erlebt habe. Schon früh war mir bewusst, wie zerstörerisch das Erzählen sein kann. Lieber ließ ich mich für einen Schwachkopf halten. »Würdest du dich selbst einfrieren lassen?« frage ich Baba, während er die Vorspeisen in kleine Schüsseln füllt und zum Esstisch trägt. »Vielleicht, wenn ich als junger Mensch eine heute noch unheilbare Krankheit bekäme. Oftmals sind es ja Angehörige, die ihre früh verstorbenen Kinder einfrieren lassen, um ihnen damit vielleicht doch noch so etwas wie eine Zukunft zu geben.« »Da tun sie ihren Kindern etwas an, was sie sich selbst nicht antun würden.« »Ist das nicht verständlich?« »Und wenn in eurem Labor mal der Strom ausfällt?« »Das macht nichts. Unser eingefrorenes Gewebe liegt ja nicht im Kühlschrank, sondern im Dewargefäß oder im Kryostaten. Es wird nur flüssiger Stickstoff benötigt. Der ist billig und muss nur alle paar Wochen nachgefüllt werden.« »Wird das Gewebe beim Einfrieren nicht zerstört?« »Das ist unser größtes Problem. Vor allem Eiskristalle sind für die Gewebeschäden verantwortlich. Deswegen frieren wir das Gewebe ja auch nicht einfach ein, sondern vitrifizieren es, das heißt, wir tauschen die Gewebesäfte durch eine Art Frostschutzmittel aus, das bei tieferen Temperaturen zu einem nichtkristallinen Feststoff wird, zu einem Glas.« »Und wie kriegt man das Glas wieder aus den Organen heraus?« »Das ist das nächste Problem, an dem wir herumlaborieren. Aber glücklicherweise müssen wir nicht alle Probleme schon jetzt lösen, sondern können dem wissenschaftlichen Fortschritt vertrauen. Zukünftige Kryoniker werden unsere eingefrorenen Präparate erst dann wieder auftauen, wenn sie über die entsprechenden Techniken der Reanimation verfügen.« »Darauf hofft ihr zumindest.« »Ja, darauf hoffen wir, und daran forschen wir bereits. – Doch seit wann interessierst du dich für meine Arbeit?« Das Geräusch des Wohnungsschlüssels unterbricht unser Gespräch. Gerade noch rechtzeitig zum Essen ist Ma von irgendeinem ihrer täglichen Meetings zurück, verschwitzt, außer Atem, das Haar aufgelöst. Doch Baba erlaubt ihr nicht, sich zunächst etwas frisch zu machen. Bestimmte Speisen vertragen es nicht, dass man sie kalt werden lässt oder noch einmal aufwärmt. Ma weiß, dass auf diesem Feld, und wohl nur auf diesem, jeder Widerspruch vergeblich ist. Sie legt nur ihren Mantel ab und setzt sich gleich zu Tisch. »Eine Frau aus Peking oder Shanghai käme mir nicht ins Haus«, beginnt sie unvermittelt. »die Frauen aus Peking sind herrschsüchtig, die Frauen aus Shanghai liederlich«, stellt sie kategorisch fest, als habe das irgendwas mit den Kochkünsten ihres Gatten zu tun. – Vielleicht hat es das ja. Baba ist weder aus Peking, noch aus Shanghai. Womit Ma wieder bei ihrem Lieblingsthema ist. Der Sohn dieser Nachbarin oder jener Bekannten habe gerade geheiratet, kaum älter als ich. Nicht wirklich eine gute Partie, aber wer sich nicht beeile, müsse sich mit dem abfinden, was übrig bleibe. Wenn überhaupt etwas übrig bleibe. »Der Junge ist gerade mal zwanzig«, sagt Baba dann, wie jedes Mal, »das Heiraten hat ja wohl noch ein paar Jahre Zeit!« »Ein paar Jahre Zeit? Und wer sollte da bitte noch zur Verfügung stehen? Jedes anständige Mädchen kann unter zwanzig jungen, erfolgreichen Männern wählen. Und selbst die armen und hässlichen bekommen am Ende noch einen ab. Nein, wer sich nicht beizeiten um diese Sache kümmert, steht am Ende ganz ohne Frau da!« »Die Frauen von heute wollen Gewinner«, fährt sie, nachdem weder Baba noch ich etwas zu entgegnen haben, fort und schaut mich mit kaum verhohlener Enttäuschung in den Augen an. »Es genügt ihnen nicht, dass der Mann gut aussieht, sportlich ist oder kunstinteressiert. Er muss ihnen schon etwas mehr bieten können. Gut aussehen tun sie selbst, gebildet sind sie inzwischen auch, haben einen Universitätsabschluss und eine eigene Karriere vor sich. Warum sollten sie einen mittellosen Schauspieler oder Opernsänger heiraten? Sie wollen ein gutes Leben heiraten, eine bessere Zukunft, und nicht jemanden, den sie womöglich mit durchfüttern müssen.« »Nun lass den Jungen doch in Ruhe essen, Min! Du verdirbst mir mit deinem ständigen Gejammer noch die Speisen!« »Du hast es doch selbst mit angesehen, Han, gestern Abend in der Datingshow. Ich würde gerne mit dir eine...


Michael Roes, 1960 in Rhede/Westfalen geboren, aufgewachsen in Bocholt. Mehrjährige Aufenthalte im Jemen, Israel und Amerika bildeten den Hintergrund für viele seiner Bücher. 2013 wurde er mit dem Spycher Literaturpreis Leuk ausgezeichnet; zuletzt erschienen Die Fünf Farben Schwarz, Geschichte der Freundschaft und Die Laute sowie Die Legende von der Weißen Schlange. Michael Roes lebt in Berlin.



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