E-Book, Deutsch, 153 Seiten
Reihe: Dialoge
Römer Streit um Wörter
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-89308-017-5
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sprachwandel zwischen Sprachbeschreibung und Sprachkritik
E-Book, Deutsch, 153 Seiten
Reihe: Dialoge
ISBN: 978-3-89308-017-5
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Immer wieder werden in Politik und Gesellschaft teils heftige Debatten um die 'richtigen' Wörter geführt, beispielsweise darüber, ob mit die Lehrer auch Lehrerinnen und Diverse gemeint sind oder ob Wörter wie Mohr und Zigeuner diskriminierend sind und deshalb verboten werden müssen. Dieser Band analysiert ausgewählte Streitpunkte und versucht, den Argumenten, aber auch den Überzeugungen und Gefühlen der Streitenden auf den Grund zu gehen. Dabei geht es nicht darum, zu harmonisieren oder andere zu dominieren, sondern darum, wesentliche Argumentationslinien anschaulich und nachvollziehbar zu machen. Die Prämisse ist, dass gegenseitiges Verstehen das Finden von Wegen aus dem Streit erleichtert. Die Publikation hilft, Tendenzen der Sprachentwicklung zu verstehen und eigenes und fremdes Sprachhandeln zu beurteilen sowie Ablehnungen oder Mitvollzug von Entwicklungen auf Sachkenntnis zu gründen.
Dr. Christine Römer lehrte als Hochschuldozentin am Institut für Germanistische Sprachwissenschaft der Universität Jena. Sie beschäftigt sich besonders mit sprachtheoretischen Themen, der Lexikologie und Morphologie.
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3 Sprachwandel
Natürliche Sprachen verändern sich im Gegensatz zu künstlichen Sprachen und passen sich so den sich ändernden Anforderungen an. Sprachwandel ist also eine Wesenseigenschaft von natürlichen Sprachen. Wie bereits angesprochen, verlaufen diese Veränderungen in den verschiedenen Sprachmodulen (Subsystemen) nach jeweils eigenen Prinzipien. Der lexikalische Wandel, der in dieser Publikation im Zentrum steht, kann hinsichtlich der betroffenen Zeichenkomponenten differenziert werden. Nach Morris (1975: Kap. II.2) sind Zeichen Mittel, um bestimmte Ziele zu erreichen. Zu ihnen gehören neben dem Zeichenträger die Bezeichnungsobjekte (Designate), die mentalen und konzeptuellen Repräsentanten von Objekten etc. und die Interpretanten. Ein Lexem wird nur dann zu einem Zeichen, wenn jemand (der Interpretant) von etwas (das Designat) Notiz nimmt und dadurch das Zeichen interpretierbar wird. In der überregionalen Tageszeitung „Die Welt“ wurde beispielsweise eine Glosse mit „Deutsche Sprache besteht aus lyrischen Sackgassen“ überschrieben. Das Wort Sackgasse wird darin nicht in der ursprünglichen wörtlichen Bedeutung (wie bei einem Sack ‚eine nur von einer Seite zugängliche Straße‘) verwendet, sondern in der übertragenen Bedeutung ‚aussichtslose Situation‘. Diese hat sich im Verlaufe der Sprachentwicklung zu einer festen umgangssprachlichen Lesart entwickelt. Das Wort Sackgasse in dem obigen Beispiel ist ein Zeichenträger, der als Designat eine spezifische Situation beschreibt, die vom Autor der Glosse als ‚aussichtslose Situation‘ wahrgenommen wird. Gewandelt hat sich in dem Beispiel also die Bedeutung (semantischer Wandel), die sich um eine Lesart erweitert hat. Alter Sack ist eine feste Wendung, die derb und abwertend alte Männer bezeichnet. So beispielsweise auch in einem Roman: Er ist ein alter Sack, hat aber keine generative Spur gelegt. […] Er ist ein alter Sack mit Geld und Kontakten […] Aber ich habe den Verdacht, dass Siegfried Berlinger eine alte Drecksau ist (war), denkt der Kommissar. Die Wendung wird heute aber auch spöttisch oder mit einer humorvollen Konnotation verwendet. In Anzeigen wie beispielsweise „Geschenkideen für alte Säcke“ scheinen „Alter-Sack-Torten“ recht beliebt zu sein, da eine Google Suchanfrage danach viele Beispiele anzeigt. „Alter-Sack“-Torte An dem Beispiel alter Sack wird auch deutlich, dass Lexeme ihre Bedeutung erst im Kontext realisieren und sowohl der sprachliche als auch situative Kontext bei kritischen Beurteilungen einbezogen werden muss. So berichtete die „Main Post“ am 25.05.2012 mit der Headline „,Alter Sack‘ kann teuer werden“ über eine Beleidigungsklage am Amtsgericht in Kitzingen: 2019 verurteilte das Bremer Amtsgericht den ehemaligen Nationalmannschaftsfußballspieler Wiese wegen Beleidigung eines gehbehinderten Rentners zu einer Geldstrafe von 25 Tagesätzen zu je 1.000 Euro. Wiese hatte seinen Lamborghini unberechtigt auf einem Behindertenparkplatz abgestellt, was einem Rentner mit Gehbehinderung nicht gefiel. Es kam zum Streit zwischen ihm und Wiese, als der Rentner wegen des Sportwagens nicht in sein Fahrzeug einsteigen konnte. Der Kontext verdeutlichte, dass der Rentner in abwertender Weise als „alter Sack“ beschimpft wurde. In einem anderen ähnlichen Verfahren wurde in der Urteilsbegründung betont: „Der Äußerungsinhalt ist unter Berücksichtigung aller Begleitumstände zu ermitteln. Maßgebend ist, wie ein verständiger Dritter die Äußerung versteht.“ Da der Wortschatz ein relativ offenes System ist, unterliegt er ständigen Veränderungen. Durch den enormen Bezeichnungsbedarf in den entwickelten Gesellschaften kommen ständig neue Wörter und Wendungen (Neologismen) hinzu, die oftmals aus anderen Sprachen entlehnt werden. Gleichzeitig veraltet ein kleiner Teil der Wörter, weil das, was sie bezeichnen, nicht mehr existiert (Groschen). Sie können von neuen Bezeichnungen verdrängt werden, die besser motiviert sind (Ascheimer von Mülleimer) oder aus der Mode gelangen (Fahrschein/Fahrkarte durch Ticket). Da Wörter und Wendungen, wie in 2.1 erläutert, aus mehreren Wissenskomponenten (-ebenen) bestehen, kann man den lexikalischen Wandel in Bezug auf die Wissenskomponenten, die Wörter bei sich tragen, erläutern. Dazu ein paar Muster: Variation und Wandel vollzieht sich zum Beispiel in der Aussprache bzw. auf der phonetischen Sprachebene (phonotaktischer Wandel). So kann man einen solchen Wandel bei der Akzentuierung von Fremdwörtern (Erstsilbenbetonung) feststellen. Eine Studie erbrachte (nach Grawunder/Schwarze 2018: 72) dazu Folgendes: Bei insgesamt 770 überwiegend gebildeten Sprechern aus drei Versuchsgruppen ergab sich bei den unter Vierzigjährigen eine starke Tendenz zum Betonungswechsel in sieben Entlehnungen verschiedenen Ursprungs und Alters (Anis, Bonbon, Charisma, Kaffee, Make-up, Motor, Oblate) sowie einer Abkürzung (LKW). Wörter, die laut den Aussprachewörterbüchern mit Akzent auf der zweiten Silbe kodiert sind (Anis, Bonbon, LKW, Make-up, Motor), wurden von dieser jüngeren Versuchsgruppe und denen ohne Universitätsabschluss mit Betonung auf der ersten Silbe realisiert. Während die Wörterbücher für Charisma Erstsilbenbetonung festschreiben, realisierten die älteren Versuchsteilnehmer zum überwiegenden Teil für dieses Lexem die Betonungen auf der zweiten Silbe. Andere Lexeme, wie Kaffee, scheinen sich danach eher im gegenläufigen Trend zu befinden, d. h. hier sind es die Jüngeren, die um die Hälfte Zweitsilbenbetonung realisierten, während die Ältesten stärker „KAFfee“ realisiert. Im Großen und Ganzen scheinen sich diese Trends sowohl für die deutschlandweite Erhebung als auch für die Untersuchung im stärker dialektal geprägten bayerisch-schwäbischen Raum zu decken. Nach der Studie ist der Wandel zur Erstsilbenbetonung in bestimmten Fremdwörtern auch bereits bei den sog. Modellsprechern in den Rundfunkmedien angekommen. Ein Problem stellt der Wandel bei den Rechtschreibnormen dar. Es handelt sich dabei nicht um einen natürlichen Wandel, sondern einen gelenkten, da die Normenänderungen in der Gegenwart vom „Rat für deutsche Rechtschreibung“ auf den Weg gebracht und danach politisch verfügt werden. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts gab es im deutschen Sprachraum keine einheitliche Rechtschreibung. Besonders der „Buchdruckerduden“ (1. Auflage 1903) führte dazu, dass es zu Vereinheitlichungen kam. Die Rechtschreibreform von 1996 hatte als Hauptziel, eine Vereinfachung der Schreibung herbeizuführen. Die Orientierung auf grammatische Kriterien bedingte, dass Bedeutungsunterschiede zur Schreibung weniger relevant wurden. Es wurde nun nicht mehr als nötig angesehen, in der Schreibung zwischen den Wortformen stehen lassen (Du kannst das Geschirr stehen lassen.) und bei übertragener Bedeutung stehenlassen (Er will sich einen Bart stehenlassen.) zu differenzieren. Die Regel, dass zwei aufeinanderfolgende Verben in der Regel getrennt zu schreiben sind, führt dazu, dass sie auch für den übertragenen Gebrauch empfohlen wird (Er will sich einen Bart stehen lassen.) Interessant ist, dass es auch außerhalb der amtlichen, offiziellen Schreibung in der Umgangssprache zeitweilig zum Nebeneinander von verschiedenen Formvarianten kommt (morphologischer Wandel), beispielsweise der Blog vs. das Blog, recycelen vs. recyclen. Sprachwandel zeigt sich auch an flexionsmorphologischen Veränderungen. So werden Fremdwörter in die deutsche Sprache integriert, indem sog. nicht native Eigenschaften abgebaut werden. Was damit gemeint ist, kann man am Beispiel Balkon gut sehen. Wenn die fremde Aussprache verwendet wird, kommt auch das fremde Pluralsuffix -s zum Einsatz: Balkon [balk??] oder [bal'k?~?] – Balkons [bal'k?~?s] oder [balk??s]. Bei der ans Deutsche angepassten Aussprache, die häufiger benutzt wird, verwendet man eher die native, silbische Pluralendung: Balkon [balko:n] – Balkone [balko:n?]. Bei Sprachratgebern kann man Fragen, wie die folgenden lesen: Wir sind uns unsicher: Muss es heißen: mit großem, erwähnenswertem Elan oder: großem, erwähnenswerten Elan? Diese Fragen weisen auf ein aktuelles syntaktisches Varianzphänomen hin, das von der Sprachwissenschaft teilweise als Übergang von der Parallel- zur Wechselflexion bezeichnet wird. Es bezieht sich auf Konstruktionen mit zwei koordinierten maskulinen oder neutralen Adjektiven ohne vorangehendes Artikelwort im Dativ Singular. Ein anderes Beispiel ist: nach langem schweren Leiden (Wechselkonstruktion) vs. nach langem schwerem Leiden (Parallelkonstruktion). Die Wechselkonstruktion kann man semantisch begründen, indem man davon ausgeht, dass schwer + Leiden eine semantische Einheit sind und von lang als Ganzes modifiziert werden [nach langem -> [schweren Leiden]]. Nach der traditionellen Auffassung wird dann kein Komma gesetzt. Parallelflexion legt eine...