E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Röhrig Die Ballade vom Fetzer
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-492-98835-3
Verlag: Piper Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Historischer Roman
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-492-98835-3
Verlag: Piper Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Tilman Röhrig, geboren 1945, lebt in der Nähe von Köln. Der ausgebildete Schauspieler ist seit über vier Jahrzehnten als freier Schriftsteller tätig. Die größten Erfolge brachten ihm seine historischen Romane, die allesamt Bestseller und vielfach übersetzt wurden. Für sein literarisches Werk erhielt der Autor, dessen lebendige Lesungen begeistern, zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem den Großen Rheinischen Kulturpreis.
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Vorwort
Held, Vorbild, Rebell und Robin Hood – Schinderhannes alias Johann Bückler – ein Sohn des Hunsrücks muss sich, ob er will oder nicht, irgendwann in seinem Leben mit dem Idol Schinderhannes auseinander setzen. Was blieb mir also übrig? Nach dem Studium von acht einschlägigen Büchern war mir der Held verdächtig, weil er selbst den brutalsten Überfall nur aus Übermut verübt haben sollte. Erst ein »aktenmäßiger Bericht« aus dem Jahre 1804 rückte mein Bild von diesem Gesetzlosen wieder in ein normales Licht. Mein Plan stand fest, nun endlich ein Buch über den wahren Johann Bückler mit all seinen Fehlern zu schreiben, auch wenn ich geliebtes Volksgut zerstören müsste.
Nach der Verhaftung des Schinderhannes am 16.Juni 1802 in Frankfurt erwähnte der Chronist einen der Mitgefangenen, er hieß »Fetzer«. Fußnote: Mathias Weber, berüchtigter Räuberhauptmann der Rhein- und Ruhrdepartements. »Fetzer« – dieser Name machte mich neugierig.
In der Universitätsbibliothek stand der über fünfzig Bände umfassende »Rheinische Antiquarius«. Da niemand den Fetzer kannte, suchte ich unter »Schinderhannes« und gelangte zum sechsten Band der zweiten Abteilung. Bei der Verhaftungsszene las ich: »Fetzer, Fußnote: Siehe Band drei in der dritten Abteilung«. Endlich, einundsechzig Seiten nur Mathias Weber, ein Bericht in alter Sprache, mal »ruchlos«, mal »kühn«, schließlich endete das Leben des Fetzers auf dem Alter Markt. Er war der Letzte, der in Köln öffentlich hingerichtet wurde. Ich kaufte einen großen Karteikasten aus Holz, um darin das Leben des Fetzers zu sortieren. 1778 war er in Grefrath geboren worden, und 1803 endete er auf der Guillotine. Es waren nur 25Jahre, ein leicht überschaubarer Lebensweg – in ein paar Monaten ist das Buch fertig, dachte ich.
Drei Wochen lang ordnete ich die Überfälle, teilte die Jahre ein, schrieb Orte und Namen auf, Köln, Düsseldorf, Neuss und Neuwied waren mir geläufig, aber wo waren Im Hörstchen, Auf der Altenkirch, Rottchen, Bürich, Fetthennen und Auf der Klinke? Anruf beim Landschaftsverband in Köln. Dort die Auskunft, ein Beamter im Rheinischen Amt für Landes- und Volkskunde an der Universität Bonn könnte vielleicht weiterhelfen. Aber der hatte noch nie etwas vom Fetzer gehört. Fast empört berichtete ich über den Mathias Weber. Er lachte mich aus, als ich nach einem Buch fragte, in dem ich mal eben die mir unbekannten Ortsnamen nachschlagen könnte. »Bringen Sie mir eine Liste, ich werde versuchen, Ihnen zu helfen.« Als ich das Institut zum ersten Mal verließ, drückte der Pförtner nicht auf den Summer. Er kam zur Tür und durchsuchte meine Aktentasche. »Hier gibt es alte Bücher, die sollen auch hier bleiben«, war seine Erklärung.
Die Aufstellung wurde lang, zum Schluss waren es sechsunddreißig Orte, die ich nicht kannte und auch nicht im Autoatlas finden konnte. Der Beamte warf einen kurzen Blick auf die Liste, dann nickte er freundlich und zeigte auf sechs Mappen mit alten Karten und vier dicke Bücher. »Vielleicht finde ich darin einen Hinweis, dann werde ich versuchen, ihn auf moderne Karten zu übertragen, dann nehmen wir einen topografischen Plan und dann …«, es kam noch ein »dann«, dann erst würde ich die genaue Ortsangabe wissen. Der Pförtner erkannte mich wieder, als er meine Tasche in der Hand hatte, er sah nicht mehr hinein.
Zu Hause arbeitete ich an meiner Kartei weiter. Zu jedem mir bekannten Überfall notierte ich die Beute. Von Dukaten bei Eseln und Talern bei kleinen Mädchen hatte ich schon als Kind gehört, Gulden kannte ich nur aus Holland und Francs aus Frankreich. Aber der Fetzer erbeutete mit seiner Bande Sonnenpistolen, Laubtaler, Brabanter Kronen, Karolinen, Kölner Gulden und Kaiserliche Golddukaten. Er freute sich über zwanzig Goldpistolen mehr als über hundert Taler. Im Übrigen bezahlte er den Branntwein in den Kölner Wirtshäusern mit Stuber, Fettmännchen, Blaffert, Mariengroschen, und wenn er nur noch Kleingeld hatte, mit vielen Kopfstücken. Der Beamte im Bonner Historischen Institut verwies mich an einen Kollegen. Vorsichtig geworden, fragte ich ihn bei meinem Besuch, was ein Blaffert sei. »Ein Reichstaler spezies hat achtzig Albus oder sechzig Stuber oder dreißig Kaiserliche Groschen oder zwanzig Blaffert.« Ein Fachmann – ich blieb. Er schickte mich mit drei alten Büchern in den Lesesaal, und ich versuchte, alle Währungen auf eine Währung umzurechnen. Nach drei Tagen hatte ich alles in Taler umgesetzt:
Reichstaler spezies |
1Lütticher Golddukaten | 3,5 |
1Lütticher Goldgulden | rd.2,0 |
1Brabanter Soverain d’or | rd. 11,2 |
1Kaiserlicher Golddukaten | rd. 10,0 |
1Brabanter Krone | rd.2,0 |
1Silberner Preußischer Taler | rd.1,2 |
1Holländischer Golddukaten | rd. 10,0 |
1Holländischer Reichstaler | rd.1,8 |
1Gold Karolin od. Sonnenpistole | rd.7,9 |
1Goldpistole | rd.6,3 |
Für einen Reichstaler spezies konnte man kaufen: entweder achtzig Brote oder 171Pfund Fleisch oder 32Pfund Butter. Ein Handwerksmeister nahm an einem Tag rund dreißig Stuber, also einen halben Reichstaler ein. Eine mehrköpfige Familie konnte von einem Reichstaler gut eine Woche lang leben. Der Fetzer erbeutete bei einem einzigen Überfall mehr als tausend, bei einem anderen sogar mehr als siebzehntausend Taler. Unfasslich. Noch unfasslicher, dass er und seine Bande diesen Reichtum innerhalb weniger Wochen wieder ausgegeben hatten.
Nach sechs Tagen wieder zurück zu dem Institutsbeamten, der mich mit Lineal und Zirkel ausrüstete und mir erklärte, wie man auf einer Karte einen Ort genau lokalisieren kann. Er hatte mir die gesuchten Dorf- und Flurnamen in heutige Bezeichnungen übersetzt, nur einzeichnen musste ich sie selbst. Der Marktplatz des ersten Ortes, den ich bestimmte, lag genau unter dem Kaarster Autobahnkreuz. In den folgenden vierzehn Tagen fuhr ich noch achtmal nach Bonn. Der Pförtner fragte mich teilnahmsvoll, wann ich mit meiner Diplomarbeit fertig werden würde. Ich zuckte die Schultern und seufzte.
Kaum hatte ich das Orts- und Münzproblem gelöst, als ich die »Aktenmäßige Geschichte der Räuberbanden um 1800« fand. Nach dieser Lektüre schnitt ich neue Blätter für den Karteikasten, die Anzahl der Überfälle war jetzt auf das Doppelte angestiegen. Weil einige Begebenheiten sich völlig von den Berichten im »Antiquarius« unterschieden, beschloss ich, Zeitungsberichte aus der Zeit nach der Französischen Revolution und Stadtbeschreibungen zu suchen. In Museen und Archiven von Köln, Neuss, Düsseldorf, Aachen und Koblenz ging ich bald wie ein Student ein und aus. Einige der Historiker begrüßten mich immer wieder mit: »Ah, da kommt ja der Mann, der über den Kölner Schinderhannes schreibt!« Ich gab es nicht auf, zu betonen, dass der Fetzer viermal so viele Überfälle wie der Schinderhannes und überhaupt viel mehr … Ich wurde parteiisch.
Um vielleicht einen Tauf- oder gar einen Heiratsantrag des Mathias Weber zu finden, musste ich im Brühler Schloss mit einer Lupe die alten handgeschriebenen Kirchenbücher von 1775 bis 1800 studieren, aber der Fetzer war wohl nicht in die Kirche gegangen.
In Köln kundschaftete ich das Bordell aus, in dem er die größten Überfälle geplant hatte. Am Ende stand es fest, das Haus der berüchtigten »Düwels Trück« hatte in der Schwalbengasse gestanden, auf einem Grundstück, das heute der Kirche gehört.
Mit kriminalistischem Spürsinn versuchte ich den Stellen, über die in den »Aktenmäßigen Berichten« mit »Wie durch ein Wunder …« oder »Kurzum, es gelang ihm, …« hinweggegangen wurde, auf den Grund zu gehen. Im Neusser Stadtmuseum wurde mir eine Kiste gezeigt, die der Fetzer bei seinem legendären Raubzug in das Neusser Rathaus aufgebrochen hatte. Die Figur des Heiligen Quirinus und die silberne Weltkugel werden heute noch vermisst. Diese Spur konnte ich auch nur bis Krefeld verfolgen. Den genauen Hergang seiner Flucht aus dem hohen Mühlenturm in Neuss konnte ich rekonstruieren, sogar den gefährlichen Sprung in die Tiefe: Er muss in den Moder aus Kot und Abfallen unterhalb der Stadtmauer gefallen sein, sonst hätte er den Sturz aus sieben Meter Höhe nicht unverletzt überstanden.
Wenn man mich jetzt fragt, was für ein Wetter zu Pfingsten 1796 oder am 20.Oktober 1798 war: Es hat, wie ich durch Berichte aus alten »Intelligenzblättern« zuverlässig erfahren habe, geregnet.
Nach fünfmonatiger Suche und rund zweitausendfünfhundert Autokilometern hatte ich zwei Karteikästen gefüllt und war mir sicher, jetzt alle nur möglichen Quellen erschöpft zu haben, ich konnte endlich mit dem Buch beginnen. Jeden Überfall, den ich beschreiben wollte, kannte ich jetzt beinahe so, wie er durchgeführt worden war. Ganz sicher bin ich bei Wirtshäusern, Straßen, Wegen und...