E-Book, Deutsch, 272 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Roehler Selbstverfickung
17001. Auflage 2017
ISBN: 978-3-8437-1662-8
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-1662-8
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Oskar Roehler, geboren 1959, ist Schriftsteller und Regisseur. Seine Romane erscheinen seit 2011 bei Ullstein. Oskar Roehler ist verheiratet und lebt in Berlin.
Autoren/Hrsg.
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Aschenbach musste noch bis nach Venedig, um die endgültige Wahrheit über sich herauszufinden. Gregor brauchte nur bis zu seinem Kühlschrank zu gehen, wo sich die gesammelten Schlaftablettenvorräte befanden, zehn Packungen à zwanzig Tabletten Zopiclon 7,5 mg. Er hatte sie sich unter verschiedenen Vorwänden bei diversen Ärzten beschafft. Meist hatte er gesagt, er müsse eine Werbung in Wien drehen und bräuchte sie, um zu schlafen. Dabei verachtete er die Werbung mehr als alles andere auf der Welt. Er würde nie eine Werbung drehen.
Mit den Tabletten wollte er sich eines Tages umbringen. Das war eine Lösung, bei der man wenigstens kein Bein verlor, weil man sich vor die U-Bahn warf.
Die Sache war einfach: Er war mittlerweile fast sechzig und spürte, bei allem, was war und nicht mehr war, dass er es nicht noch einmal schaffen würde, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen.
Er hatte auch sonst nicht allzu viel Ähnlichkeit mit Aschenbach. Weder war er geadelt worden, noch hatte man seine Texte in den Deutschunterricht aufgenommen. Er hatte sich wahrlich auch nicht zu solch geistigen Höhen aufgeschwungen wie Aschenbach oder gar ein neues Menschenbild entworfen. Er war auf dem Teppich geblieben. Er glaubte nicht an das Gute im Menschen.
Mein Leben ist schwer, dachte Gregor. Ich habe nur, was in meinem Kopf und auf meinem Bankkonto ist. Früher war mein Kopf voll und mein Bankkonto leer. Heute ist es umgekehrt. Das macht die Sache nicht einfacher.
Den gestrigen Tag hatte er mit dem verbracht, womit er in letzter Zeit ständig seine Tage zu verbringen pflegte: Nachdem er um fünf Uhr morgens durch einen abscheulichen Alptraum aus dem Schlaf gerissen worden war, trank er eine Stunde lang bitteren, schwarzen Kaffee. Anschließend rief er ein Taxi und ließ sich in einen Puff fahren, der um diese Zeit bereits offen hatte, um die nächste Stunde zu überbrücken.
Da sein gereizter Ischiasnerv einen Positionswechsel nicht ermöglichte, blieb er beim Vögeln einfach breitbeinig am Bett stehen und überließ es dem Personal des Stammhauses, den entsprechenden Körperkontakt herzustellen, indem es vor ihm auf alle viere ging und ihm schließlich mit einem geschickten Handgriff und etwas Gleitgel half, seinen gerechten Weg zu finden. Mal tiefer, mal weniger tief war sein Motto.
Mit reglosem Gesicht starrte er dabei in den großen Spiegel und beobachtete sich beim Vögeln. Er glich einer Mumie, die ruckartig ihr Becken vor- und zurückzucken ließ. Gelangweilt nahm er zur Kenntnis, dass die Nutte dabei ungerührt ein Kebab verschlang. Nach etwa einer halben Stunde gelang es ihm schließlich dennoch, zum Abschluss zu kommen.
Es war immer noch aberwitzig früh, als er den Puff verließ. Die Straßen waren wie leergefegt. Ängstlich schlich er durch den verkommenen Neuköllner Kiez. Er war viel zu gut angezogen. Die nervöse Unruhe, die ihn so frühmorgens auf die Straße getrieben hatte, prädestinierte ihn dazu, das perfekte Opfer eines Raubüberfalls durch schwulenfeindliche Jugendliche zu werden. Es waren noch zwei zermürbende Stunden zu überstehen, bis endlich die Möbelgeschäfte in der Lietzenburger Straße aufmachten.
Die eigentliche Aufgabe des Tages bestand darin, eine helle Cargo-Hose aus dünnem Leinen zu finden, die unten weit geschnitten war und im Schritt ähnlich viel Platz hatte wie die Nike-Jogginghosen aus der Techno-Ära. Er hatte einen ganz bestimmten Schnitt vor Augen.
Am Wittenbergplatz kam auf einmal die Panik. Sie kam in Wallungen, bei denen ihm schwarz vor Augen wurde. Gregor musste sich an einem Laternenmast festhalten. Ein Wachmann, ein kleiner, südländischer Gorilla, der vor dem Eingang des KaDeWe patrouillierte, hatte ihn bereits auf dem Kieker, aber Gregor war es egal, was dieser Arsch von ihm dachte.
Wovor hatte er eigentlich so eine Angst? Dass er die Cargo-Hose nicht finden würde? Dass es den Schnitt nicht mehr gab? Er wusste, dass er nicht aufgeben würde, die Hose zu suchen, auch wenn er dabei den ganzen Tag verplempern würde. Das war die Krux. Er würde wieder Dinge tun, die absolut sinnlos waren. Weil er es sich in den Kopf gesetzt hatte. Obwohl ihm jegliche Lust dazu fehlte. Es war das gleiche Prinzip wie bei den Nutten. Er ging, obwohl er überhaupt keine Lust dazu hatte, wie ferngesteuert in einen Puff, nur weil Montag war, lustlos wie zu einer Routineuntersuchung.
Es wäre fast schon beruhigend gewesen, zu denken, dass es daran lag, dass er ein Gewohnheitsmensch war und ihm mittlerweile der Wille fehlte, schlechte Gewohnheiten abzulegen (wie das Trinken, wie seine cholerischen Anfälle, etc.). Bei seinem Alter, immerhin ja fast sechzig, wäre das entschuldbar gewesen. Aber das Schlimme, der Aberwitz, der ihm den Schweiß auf die Stirn trieb, bestand darin, dass er nichts Besseres mehr zu tun hatte, als zur Nutte zu gehen oder eine Cargo-Hose zu kaufen. Diese plötzliche Einsicht war es, die ihm den kalten Angstschweiß auf die Stirn trieb. Er seufzte und wischte sie sich mit dem Handrücken ab.
Der als Wachmann getarnte Gorilla starrte immer noch vom Eingang des KaDeWe zu ihm rüber. Gregor löste seinen Griff von der Laterne und schwankte absichtlich direkt auf ihn zu. Der Gorilla erwachte aus seiner finsteren Trance und baute sich vor ihm auf.
»Siehst du nicht, dass noch geschlossen?!«, pöbelte er in gebrochenem Deutsch.
Gregor setzte sein feines, überlegenes Lächeln auf und musterte das Exemplar erst einmal. Es sah von nahem noch mehr wie ein Halbaffe aus, klein, gedrungen, niedrige Stirn, engstehende, böse glotzende Augen. Gregor musste lachen, so stereotyp war seine Erscheinung.
»Was!?«, rief der Mann heiser und starrte ihn drohend und hasserfüllt an.
Gregor bekam Lust, ihn zu foltern. Er stellte sich vor, ihn in einem kleinen, engen Käfig zu halten, natürlich nackt. Sich auszumalen, was er dann mit ihm machen würde, da war seiner Phantasie keine Grenzen gesetzt. Er nahm sich vor, diesbezüglich noch einmal American Psycho und Die 120 Tage von Sodom zu konsultieren.
»Du bist ein Untermensch, weißt du das?«, flüsterte Gregor so leise, dass der andere ihn nicht verstehen konnte. »Deine Stirn ist so niedrig wie die eines Affen. Wo soll da nur der Intellekt eine Chance haben, hm?«
Der Primat starrte böse zurück. Er machte den Eindruck, als wolle er am liebsten sofort zuschlagen. Aber das durfte er ja nicht. Er war schließlich Wachmann und hatte einen Job zu verlieren. Gregor beobachtete genussvoll das Kräftezerren in dessen Innern. Hier konnte man gut den dünnen Firnis der Zivilisation studieren.
»Na, geht’s dir gut?«, fragte Gregor sanft.
»Was?!«, bellte der andere erneut.
»Was, was…«, äffte Gregor ihn nach.
»Verschwinde!«, presste der Wachmann hervor.
»Toller Job, gratuliere«, antwortete Gregor und sah voller Widerwillen an ihm herab. »Du solltest dankbar sein und nett zu den Kunden. Aber vor allem solltest du dir erst mal deinen Bart abrasieren. Oder bist du ein Taliban, oder was?«
Der Atem des Wachmanns ging sichtlich schneller. Er machte Anstalten, Gregor zu stoßen, hielt aber kurz davor inne, denn im selben Moment kam zum Glück ein Anzugträger um die Ecke, der offenbar zum KaDeWe gehörte. Der kleine Gorilla grüßte den Angestellten und beeilte sich, ihm die Tür aufzumachen. Dabei verbeugte er sich leicht und stieß ein scheinheiliges »Guten Morgen, mein Herr!« hervor, das unglaublich gezwungen klang, als hätte man es ihm eingebläut, da er es freiwillig nie sagen würde.
Scheinheilig war es, weil diese Höflichkeitsformel keinerlei Verbundenheit und Freundschaft zum Ausdruck brachte, sondern das Gegenteil davon, Distanz und ein tief verwurzeltes Misstrauen. Sie diente einzig und allein dazu, seine Ablehnung hinter einem Minimum an Höflichkeit zu verbergen.
Gregor hatte diese altmodische Floskel aus dem neunzehnten Jahrhundert schon öfter aus dem Munde solcher Leute gehört, von Kellnern, Ladenbesitzern. Sie sagten sie immer, wenn sie einen nicht mochten, nuschelten sie finster in ihren Bart, ohne einen anzusehen. Doch wer hatte ihnen beigebracht, im 21. Jahrhundert »mein Herr« zu sagen? Ihr Vater in Kreuzberg? Ihre Mutter in Neukölln?
Was sagte es überhaupt über diese Spezies Mensch aus? Dass sie immer noch in einem patriarchalischen Herr/Knecht-Verhältnis gefangen waren, wie zu Hause auch? Dass sie deshalb schreckliche Minderwertigkeitskomplexe hatten und bei der geringsten Kränkung dessen, was sie ihren dummen Stolz nannten, zu allem fähig waren?
Gregor lachte gequält. Es musste schon ziemlich schlimm um das Verhältnis zwischen seinesgleichen und jenen bestellt sein, wenn so ein Auftritt einen solchen Wust unerfreulicher Gedanken in ihm freisetzen konnte.
»Mein Herr, mein Herr!«, äffte er den Primaten nach, inklusive Verbeugung, und ging dann weiter, während ihm dieser böse hinterherstarrte.
Nach wenigen Schritten fiel ihm auf, dass seine Hände vor Wut zitterten und ihm sein Herz bis zum Hals klopfte. So sehr hasste er diese Art von Typen, ihre falsch verstandenen, männlichen Ehrbegriffe, besagte Minderwertigkeitskomplexe, ihre Missgunst, die ganze Scheiße, den diese Idioten mit ihrem Deutschenhass und ihren Ressentiments gegen alles, was der westlichen Kultur angehörte, im Kopf hatten. Sie lebten wahrscheinlich tatsächlich noch in einem finsteren Mittelalter, wie man es ihnen nachsagte.
Er schüttelte angewidert den Kopf, um den ganzen gedanklichen Mist abzuschütteln, mit dem ihn dieser Mensch vergiftet hatte. Der Hass auf diese Affen war da, er war lange gewachsen durch...