E-Book, Deutsch, Band 15, 172 Seiten
Reihe: Krimi-Klassiker
Rodrian Krimi-Klassiker - Band 15: Über die Klippen
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-95520-723-6
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, Band 15, 172 Seiten
Reihe: Krimi-Klassiker
ISBN: 978-3-95520-723-6
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Irene Rodrian, 1937 in Berlin geboren, wurde u. a. mit dem Edgar-Wallace-Preis für ihren Krimi »Tod in St. Pauli« und dem Glauser Ehrenpreis für ihr Gesamtwerk ausgezeichnet. Seither hat sie sich mit zahlreichen Bestsellern in einer Gesamtauflage von über zwei Millionen und als Drehbuchautorin (»Tatort«, »Ein Fall für Zwei«) einen Namen gemacht. Irene Rodrian lebt heute in München. Bei dotbooks erschienen bereits Irene Rodrians Barcelona-Krimis über das Ermittlerinnen-Team Llimona 5 »Schöner sterben in Barcelona«, »Das dunkle Netz von Barcelona«, »Eisiges Schweigen« und »Ein letztes Lächeln« sowie die Reihe »Krimi-Klassiker«, die folgende Bände umfasst: »Tod in St. Pauli«, »Bis morgen, Mörder«, »Wer barfuß über Scherben geht«, »Finderlohn«, »Küsschen für den Totengräber«, »Die netten Mörder von Schwabing«, »Ein bisschen Föhn und du bist tot«, »Du lebst auf Zeit am Zuckerhut«, »Der Tod hat hitzefrei«, »... trägt Anstaltskleidung und ist bewaffnet«, »Das Mädchen mit dem Engelsgesicht«, »Vielliebchen«, »Handgreiflich«, »Schlagschatten«, »Über die Klippen«, »Bei geschlossenen Vorhängen«, »Strandgrab« und »Friss, Vogel, oder stirb«. Die Webseiten der Autorin: www.irenerodrian.de und www.llimona5.com Die Autorin im Internet: www.facebook.com/irene.rodrian
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1
Die Bucht war sanft geschwungen, goldgelber Strand unter grünen Palmen und ein türkisblaues Meer mit kleinen weißen Schaumkronen. Wolkenloser Südseehimmel. Das Mädchen trug nur einen winzigen Tanga. Sie war tief gebräunt, das nasse Haar lag eng am Kopf an, und an Kinn und Busen klebte ein bißchen Sand. Sie lachte und schien ihn direkt anzublinzeln. Er klappte das Magazin zu und legte es auf den Tisch zurück. Seine Finger hinterließen Schweißspuren auf dem glatten Hochglanzpapier. Er war sicher, daß das auch den anderen auffallen mußte und senkte den Blick. Natürlich beachtete ihn niemand. Die Frau strickte an etwas Weißlichem und der Brillenheini schneuzte sich inbrünstig. Vermutlich würde er sich anstecken. Er konnte sich nicht erinnern, jemals gesehen zu haben, daß die Instrumente richtig gesäubert wurden. Und dabei war so eine Grippe ja wohl noch das Harmloseste. Ihm wurde übel, und sein Magen hob sich vor Angst. Als er aufgerufen wurde, kam er kaum aus dem Stuhl hoch.
Die eine Wand war weiß, die andere grün gekachelt. Der verdammte Weißkittel begrüßte ihn über die Schulter hinweg, während er sich weiter die Hände abseifte. »Tag, setz dich schon mal hin.« Er trocknete sich ab. Rosa Schweinsfingerchen. Was fiel dem überhaupt ein, ihn immer noch zu duzen. Schließlich war er keine vierzehn mehr. Leider. Damals hatte er noch an die Südsee geglaubt, und Geyser hatte höchstens ein Loch gebohrt. Ralf legte sich auf den grauen Stuhl und zog die Beine an. Die Fußstütze war zu hoch und das Nackenpolster zu niedrig. Er war inzwischen über eins neunzig.
Die Sprechstundenhilfe war neu. Blonde Locken und ein dickes Kußmaul. Sie stellte den Stuhl für ihn ein und legte ihm das Lätzchen um. Kaltes Metall berührte ihn am Hals. Das Hemd hatte einen Schmutzrand am Kragen, und die Jeans stanken nach Schmieröl. Waren alle Knöpfe zu? Das Knopfloch vom zweiten war ausgeleiert. Wenn der zweite auf war, dann hielten die anderen auch nicht mehr. Was für eine Unterhose hatte er an? Die blaue mit den weißen Punkten und dem ausgeleierten Gummi. Gott! Er konnte sich doch jetzt nicht an den Schwanz fassen. Der lag da bloß und offen direkt unter dem Kußmaul. Seine Hände glitten am grauen Kunststoff ab. Er hatte vergessen, ein Taschentuch einzustecken. Rasiert hatte er sich auch nicht, weil die beiden Eiterpickel am Kinn sonst nie verheilten. Er schloß die Augen und riß den Mund auf. Metall klapperte gegen seine Zähne. Ein chemischer Geruch und Brennen am Zahnfleisch. Er schaute nur kurz hin. Die Spritze war gigantisch.
Alles war aus und egal. Geyser trug eine Brille, in den spiegelnden Gläsern sah Ralf seinen offenen Mund und die schwarze Zahnlücke. Blut. Das Schleifgeräusch und so ein Geruch von verbranntem Horn. Geyser hatte einen Mitesser neben der Nase. Außerdem waren seine Haare schlecht geschnitten. Das Mädchen duftete nach Pfefferminz. Kleine Kuhlen an den Mundwinkeln und schneeweiße Zähne. Die brauchte nie auf den Folterstuhl. Seine Oberlippe fühlte sich steif und pelzig an. Als er ausspucken durfte, mußte er sich mit dem Handrücken nachwischen. Sie gab ihm ein Papiertaschentuch und beugte sich dann wieder mit dem Gurgelschlauch über ihn. So nah, als wollte sie ihn küssen.
Sie hieß Anja und hatte ihn Blut spucken sehen. Sie wußte, daß sein rechter Schneidezahn nur ein Plastikhütchen über einem schwarzen Stummel war. Er würde nie wieder im Leben einer Frau in die Augen sehen können. Seine Hände zitterten so, daß er den Schlüssel nicht ins Schloß bekam, und als er den Sturzhelm aufsetzte, merkte er nur zufällig, daß ihm der Rotz aus der Nase lief. Spüren konnte er es nicht.
Verstümmelt. Er war verstümmelt. Wenn Monika ihn mal wieder küßte, um Olaf zu ärgern, dann stieß sie mit der Zunge gegen den Plastikzahn. Und außer Monika küßte ihn sowieso keine. Er quetschte sich zwischen einem Bus und einem Lieferwagen hindurch und hoffte fast auf den befreienden Crash. Aus und fertig. So wie Jossy. Dem hatten sie nach seinem Unfall den ganzen Kiefer neu einhängen müssen. Der küßte jetzt mit Kukident. Wenn überhaupt. Oder er nahm die Beißer raus vorher. Vielleicht fanden das die alten Böcke geil, denen er für’n Fuffi einen runterholte. Jossy stand auf Ballermänner. Jeden Nickel gab er dafür aus. Seine Sammlung füllte drei Kisten, und jede einzelne Waffe wurde regelmäßig geputzt und geölt. Bei einem Villenbruch in Grünwald hatte er einen Vorderlader und zwei alte Duellpistolen erwischt. Es hatte ihn Monate gekostet, die passende Munition aufzutreiben. Die Pistolen waren schön, matt silbern mit fein ziselierten Perlmuttgriffen, aber Jossy würde sie verkaufen, sobald sie nicht mehr heiß waren. Geil fand er die anderen Dinger. Handgranaten, eine scharfe Tellermine, ein russisches Schnellfeuergewehr und zwei israelische Mini-MGs. Er hatte beste Kontakte. Zum Bund genauso wie zu den Untergrundarabern. Wenn er nur gewollt hätte, er hätte ein Vermögen machen können. Statt dessen hauste Jossy in einem Kellerloch mit seinen Kisten und seinem Waffenöl. Alles bei ihm stank nach dem Zeug. Olaf behauptete, Jossy würde sich zum Einschlafen die Tellermine zwischen die Arschbacken klemmen. Ralf überholte den Laster und erstickte fast an der dickblauen Auspuffwolke. Es begann zu regnen.
Sommer. Brütende Hitze schon am frühen Morgen. Sie waren an den Baggersee gefahren. Jossy, Hocko, Macke und Olaf mit Monika. Und er mit der aufpolierten Honda, die ihm der Alte zum Geburtstag hingestellt hatte. Es war ein guter Tag. Der Alte hatte ihm frei gegeben und einen Blauen in die Hand gedrückt. Ralf hatte einen Moment lang gefürchtet, er würde sentimental werden und ihn umarmen, aber er hatte ihn nur in den Rücken geboxt. »Der geht vom Südseekonto weg, mach ihm keine Schande.«
Ralf hatte für das Geld die Kühlbox vollgepackt. Cola und Bacardi, Gin, Tonic und Batita de Coco. Hocko brachte eine Decke und einen Kasten Bier mit, Jossy ein halbes Dutzend Brathähnchen vom Wienerwald, alle in verschiedenen Tüten. Er mußte vor den Kneipen gelauert und sie alten Mütterchen weggerissen haben. Macke hatte einen Supermarktkorb dabei, voll bis oben hin. Schlankheitskäse und Klopapier. Babyfraß, Mülltüten, Orangen und Backpulver. Der absolute Hauptgewinn, sie lachten, bis ihnen die Tränen kamen und warfen die Klorollen durch die Luft. Von weitem sah das aus wie Faschingsschlangen. Alle rosa.
Sie fraßen und soffen, und irgendwann war Macke blau genug, um für einen Kuß von Monika in das eisige Wasser zu springen. Monika hatte sich bis auf einen winzigen schwarzen Spitzenslip ausgezogen und in die Sonne gelegt. Ihre Haut war körnig weiß, und der Gürtel ihrer engen Jeans hatte einen roten Striemen auf den Hüften hinterlassen. Sie hatte zu kurze Beine, plumpe Knie und nicht mal einen dicken Busen. Sie war auch nicht wirklich hübsch mit ihrer langen Nase und den vorstehenden Backenknochen. Ralf verstand nie, was Olaf an ihr fand. Vielleicht war sie toll im Bett, schwer vorzustellen. Sie war viel zu kalt dazu. Berechnend und gemein. Vielleicht war es das. Obwohl Olaf doch wirklich jede hätte haben können.
Olaf war schön. Groß, schmalhüftig und breitschultrig wie ein Gott. Olaf war Gott. Mit glänzend schwarzem Haar und funkelnden Augen und einem breiten Mund, den er breit fletschte, wenn er gut gelaunt war, und den er links einen Millimeter hochzog, wenn er vorhatte, einem den Fetten Frieder zu machen. So nannte er das fast zärtlich, und sein hochgezogener Mundwinkel konnte einen glauben lassen, daß er lächelte. Wenn man ihn noch nicht kannte. Ralf hatte es bisher nur einmal erlebt, daß einer dumm genug gewesen war, bei der ersten Andeutung nicht kniefällig das Weite zu suchen. Eric hieß er und kam gerade sonnengebräunt aus Ibiza. Er war älter als Olaf, zwanzig oder drüber. Blond, riesig und fett. Er machte Monika an, auf so eine herablassende Art, als würde die es schon für’n Freibier machen. Monika musterte ihn kurz und meinte nur cool. »Der sieht selber aus wie’n Fetter Frieder.« Sie waren alle im DUHN, ihrer Stammdisco. Olaf hing am anderen Ende der Theke und schaute nicht herüber.
Eric packte Monika an die Bluse. »Vielleicht bei einer ganz schweren Grippe. Da schwört meine Mutter drauf bei Grippe. Hühnersuppe.« Olaf setzte sein Glas ab, Macke grinste geil, Hocko machte einen Schritt nach vorn. Ralf hätte sie gern gewarnt, Monika konnte nicht wissen, wer der Typ war, aber Ralf kannte ihn. Ein Dealer mit jeder Menge Connections, Leute, die für ihn schafften, er selber clean bis in die Hornhaut. Moos und Macht. Monika hatte davon keine Ahnung. Sie beugte sich vor und zog ihm die Hose auf. »Na ja, aus der Erbse kann man sich nicht mal ne Suppe kochen.« Eric schlug zu. Direkt mit der Faust von unten gegen ihr Kinn. Monika stieg ein Stück an und knallte dann platt auf den Boden. Olaf war im gleichen Moment da und hielt Hocko zurück. Lächelnd. Überlaß ihn mir, den Fetten Frieder. Und Hocko trat zur Seite.
Eric war älter, schwerer, und er konnte boxen. Olaf hatte ein bißchen Karate drauf und ein Rasiermesser in der Hand. So ein altmodisches Ding mit Holzgriff und krummer Klinge. Keiner sah, was wirklich passierte. Nicht mal Ralf, der direkt vorne stand. Eric jaulte plötzlich auf, hielt sich die Hand zwischen die Beine und starrte auf das Blut. Es quoll in kleinen Fontänen aus dem offenen Hosenlatz, sprang vor und sprühte bis zu Monika. Die anderen begannen zu kreischen. Sirenen, Unfallwagen, Polizei. Olaf gab alles zu. Nichts weiter geschah. Ralf begriff es erst viel später. Olaf hatte gewußt, was da lief. Daß Eric ein Dealer war, den die Bullen nicht festnageln konnten. Der hier braungebrannt rummachen konnte, obwohl jeder ihn kannte. Monika...




