Roderigo | An der Seite der Sucht | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 210 Seiten

Reihe: griffbereit

Roderigo An der Seite der Sucht

Orientierung für Angehörige von Suchterkrankten

E-Book, Deutsch, 210 Seiten

Reihe: griffbereit

ISBN: 978-3-608-12415-6
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Suchterkrankungen verstehen, Hilfsangebote kennen
Große Zielgruppe: Angehörige sowie deren Therapeut:innen
Fundiert: Profisicht statt flacher Ratgeber
Anschaulich geschrieben: Fallbeispiele illustrieren die Problematik
Vermutlich gibt es eine Person in Ihrem Umfeld, um die Sie sich Sorgen machen, weil sie zu viel trinkt oder Drogen konsumiert. Und Sie fragen sich womöglich, ob diese Person süchtig ist.
Auch wenn der häufigste Rat, Abstand und Distanz zu halten, fundamental wichtig sein kann, zeigt die Realität: Angehörige brauchen mehr als Ratschläge rund um das Thema Coabhängigkeit. Genauso wichtig sind Information und Orientierung. Dieses Buch vermittelt aus der Perspektive eines Psychotherapeuten, was Sie über die Mechanismen von Sucht wissen sollten und wo Sie Hilfe erhalten können. Gefühle von Macht- und Hilflosigkeit werden so abgemildert und Sie können sich auf Ihren individuellen Weg begeben – an der Seite des Süchtigen oder in Distanz zu ihm.
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2 Wenn es keine Sucht ist, ist es dann kein Problem?
Ich möchte Ihnen Herrn B. und Frau F. und noch ein weiteres Beispiel an dieser Stelle noch etwas genauer vorstellen. Beginnen wir mit Herrn B. Abb. 2.1: Subklinisches Konsumverhalten Herr B. war zum Zeitpunkt des Therapiebeginns 39 Jahre alt und Vater zweier Kinder. Er arbeitete als Polizist und war verheiratet. Aufgewachsen war Herr B. bei seinen leiblichen Eltern mit einer jüngeren Schwester. Als er acht Jahre alt war, trennten sich die Eltern. Das Sorgerecht teilten sie sich, wobei die Kinder überwiegend bei der Mutter blieben, alle vierzehn Tage jedoch den Vater besuchten. Der Patient suchte die Praxis auf mit der Idee, eine »Selbstwertproblematik« zu haben, wie er es ausdrückte, es gab zahlreiche Erfahrungen, »nicht zu genügen«, »nicht erwünscht« zu sein oder »für andere eine Zumutung«. Dies galt einerseits für seine eigenen Erfahrungen als Kind und Jugendlicher in der Herkunftsfamilie und insbesondere der Schule, andererseits setzten sich diese Erfahrungen auch als Erwachsener fort, oder zumindest das Gefühl davon. Herr B. empfand diesbezüglich eine große Traurigkeit, es war ihm jedoch bereits gelungen, sich selbst zu stabilisieren. Dabei geholfen hatten ihm die Beziehung zu seiner Frau, einige wenige enge Freunde, seine berufliche Tätigkeit, die seinen Fähigkeiten entsprach und mit Anerkennung einherging, und nicht zuletzt seine eigene Vaterrolle. Wie zu Anfang des Kapitels beschrieben trank Herr B., genau wie seine Ehefrau, verhältnismäßig regelmäßig Alkohol, ca. drei- bis viermal pro Woche. Dabei betrugen die Trinkmengen unter der Woche meistens zwei bis drei Bier (0,33 l), am Wochenende zum Teil auch deutlich mehr, selten in Verbindung mit dem Konsum anderer Drogen, vor allem THC. Der Patient berichtete, dass seine Eltern beide jeweils neue Partner hätten. Er und seine Schwester seien bei der Mutter aufgewachsen und hätten jedes zweite Wochenende beim Vater verbracht. Der Vater habe seine neue Partnerin bereits kurz nach der Trennung von der Mutter des Patienten kennengelernt und lebe auch weiterhin mit ihr zusammen. Sowohl der Vater als auch die neue Partnerin hätten immer »gern gefeiert und getrunken«. Bei genauerer Betrachtung der biografischen Erfahrungen des Patienten wurde deutlich, dass der Vater eigentlich jedes Wochenende, an dem der Patient und die Schwester bei ihm waren, abends Alkohol getrunken hatte, freitags und samstags. Der Vater und die Partnerin seien dann meist nicht ausgegangen, sondern hätten zu Hause getrunken, entweder zu zweit oder mit Freunden. Der Patient habe diese Atmosphäre als sehr locker und gesellig, als eher »cool« erlebt und seiner Mutter vorgehalten, nicht gleichermaßen locker zu sein. Es habe keine Gewalt oder Aggression unter Alkoholeinfluss gegeben. Morgens hätten der Vater und die Partnerin lange geschlafen und der Patient und die Schwester hätten ferngesehen oder Computerspiele spielen »dürfen«. Der Vater und die Partnerin hätten die Tage im Anschluss dann meist verkatert auf dem Sofa verbracht. Erst im Gespräch wurde dem Patienten deutlich, dass er an diesen Wochenenden nur sehr wenig Zeit und Aufmerksamkeit von seinem Vater bekommen hatte. Dabei wurde ihm klar, wie sehr ihm diese gefehlt hat und mit wie viel Traurigkeit dieses Gefühl, dass etwas Wichtiges nicht da war, auch als Erwachsener noch verknüpft war. Es wurde dem Patienten außerdem bewusst, dass der Vater ihm diese Zeit und Aufmerksamkeit mutmaßlich nicht aus bösem Willen, Desinteresse oder Abneigung vorenthalten hat, sondern, weil er schlicht und ergreifend verkatert war. Neben der Traurigkeit führte diese Einsicht bei dem Patienten auch zu Ärger, weil eine Veränderung so »einfach« zu erzielen gewesen sei. Der Vater hätte für zwei Abende auf Alkohol verzichten und früher zu Bett gehen müssen. Relativ rasch hinterfragte der Patient dann die Auswirkungen des eigenen Alkohol- und Drogenkonsums auf das Familienleben und die Bedürfnisse und Wünsche der eigenen Kinder. Er nahm wahr, dass ein nicht geringer Teil seiner Reizbarkeit an stressigen Wochentagen möglicherweise auch damit zusammenhing, dass er am Vorabend Alkohol getrunken hatte und dadurch weniger belastbar und reizbarer war. Der Patient reduzierte seinen Alkoholkonsum daraufhin deutlich, trank unter der Woche nur noch höchst selten etwas und an Wochenenden nur zu ausgewählten, zuvor geplanten Aktivitäten, in dem Wissen, dass er am Folgetag dann weniger verfügbar für seine Kinder oder andere Personen sein würde. Ohne lange Analyse oder Besprechung möchte ich direkt ein zweites, neues Fallbeispiel anschließen: Frau K., eine 35-jährige, alleinstehend lebende Angestellte im öffentlichen Dienst, kam mit offensichtlich großem Leidensdruck in die Praxis. Sie berichtete, dass sie bereits seit fast einem Jahr krankgeschrieben sei und damit rechnen müsste, »ausgesteuert« zu werden. Sie fühle sich fast ausschließlich erschöpft und niedergeschlagen. Ihre Kraftlosigkeit und Erschöpfung seien körperlich spürbar, alle bisherigen medizinischen Abklärungen hätten diesbezüglich aber keine Ursachen ergeben. Sie nehme ein Antidepressivum, das ihr mehr Energie geben solle, davon spüre sie jedoch »nicht viel«. In der Vergangenheit habe sie ein anderes Antidepressivum genommen, das ihr ebenfalls nicht geholfen habe. Eines ihrer Hauptprobleme sei seit langer Zeit der Schlaf. Sie schlafe nach eigenen Maßstäben sehr schlecht, ca. vier bis fünf Stunden pro Nacht, und werde mehrfach pro Nacht wach. Tagsüber sei sie dann so müde, dass sie manchmal tatsächlich unversehens einschlafe. Sie habe in der Vergangenheit Cannabis geraucht, mehrere Jahre damit aufgehört, rauche nun aber wieder jeden Abend ein bis zwei Joints, weil sie hoffe, damit besser einschlafen zu können. Die Patientin fühlte sich offensichtlich ausgesprochen hilflos und verzweifelt. Aus Scham habe sie ihrem behandelnden Psychiater nicht erzählt, dass sie wieder begonnen habe, Cannabis zu rauchen. Mit der Patientin wurde zunächst besprochen, dass ihr Marihuana-Konsum, unabhängig davon, ob dieser auf eine Abhängigkeit hindeutete oder nicht, auf alle von ihr aufgezählten Schwierigkeiten einen potenziell negativen Einfluss haben könne, sei es unmittelbar oder mittelbar über den Faktor »Schlaf«. Der gleichzeitige Konsum von Cannabis und Antidepressiva kann die Wirkung von Antidepressiva verändern und beeinträchtigen (Vaughn et al. 2021), regelmäßiger Konsum von Cannabis kann Schlafprobleme befördern und nicht etwa lindern (Drazdowski et al. 2021) und der Konsum von Cannabis hat starke Zusammenhänge zu depressiven Symptomen ganz allgemein. Im Gespräch mit der Patientin wurde deutlich, dass ihre Schwierigkeiten bereits bestanden, als sie noch kein Cannabis konsumierte. Das Kiffen war also nicht die Ursache ihrer Schwierigkeiten, gleichwohl konnte besprochen werden, dass es für jede der genannten Schwierigkeiten mutmaßlich eher erschwerend als erleichternd wirkt. Eine Therapie unter diesen Umständen wäre, als würde man versuchen, einen Marathon mit einem Sack Zement auf den Schultern zu laufen, ohne Bewusstsein dafür, dass man diesen Sack überhaupt trägt. Ein an sich schon schwieriges Unterfangen würde durch den Faktor Cannabis noch einmal zusätzlich erschwert. Ohne das Bewusstsein für diese zusätzliche Belastung würde es mutmaßlich zu noch mehr Frustrationserleben, Selbstvorwürfen und Versagensgefühlen kommen. Es ist aber kein Wunder, dass es einem mit einem Sack Zement auf den Schultern nicht gelingt, einen Marathon zu laufen. Es ist auch keine Leistung, das zu probieren, es macht die Knochen kaputt und stellt eine vollkommen unnötige Last dar. Es wäre eher ein Zeichen für Blödheit als für besondere Stärke. Die potenzielle Leistung besteht darin, sich des Zusatzgewichtes bewusst zu werden, es abzulegen und dann ein zu den eigenen Wünschen und Möglichkeiten passendes Training zu beginnen. Natürlich hinkt das Bild an einigen Stellen. Sollte es sich doch um einen süchtigen Konsum von THC handeln, ist das Ablegen des Sackes keineswegs so einfach, aber der zentrale Aspekt wird durch diese Allegorie nachdrücklich vermittelt: Suchtmittelkonsum kann uns behindern, auch wenn wir nicht süchtig sind. Eine ambulante Psychotherapie, die zunächst einmal gegen die Effekte des Drogenkonsums »antherapieren« muss, ergibt keinen Sinn. Eine Therapie, die auf der Erfahrung von Selbstwirksamkeit nach einer Veränderung der Konsumgewohnheiten aufbauen kann, aber sehr wohl. Selbstwirksamkeit beschreibt die Überzeugung, selbst auf sein eigenes Befinden Einfluss nehmen zu können (Bandura 1977). Es mag unklar sein, ob der Vater von Herrn B. möglicherweise alkoholabhängig war oder Frau K. süchtig nach Cannabis ist oder nicht, aber beide Beispiele vermitteln einen Eindruck davon, wie sich Substanzkonsum auswirken kann, ohne dass die Frage nach der Abhängigkeit im Vordergrund stehen muss. Die Auswirkungen können Generationen überdauern. Der Vater von Herrn B. hat die Möglichkeit verpasst, ein Gegengewicht zu dem Abwertungserleben zu bilden, das vielfältig auf seinen Sohn einprasselte. Der Vater vermittelte keine aktive Abwertung, aber durch seine relative Abwesenheit und durch Alkohol und Schlafmangel mutmaßlich aufgezehrte Aufmerksamkeitsressourcen eben doch den Eindruck von Desinteresse. Das Framing als »Coolness« oder Lockerheit hilft dem Jugendlichen dabei, in der Bindung zum Vater bleiben zu können, führt bei eigenem Konsum jedoch erst recht zu einer...


Roderigo, Till
Till Roderigo, Dr., psychologischer Psychotherapeut (VT) in eigener Praxis.
Zuvor ca.10 Jahre in verschiedenen Kliniken überwiegend im Bereich Sucht/Entgiftung für Alkohol, Medikamente und illegale Drogen. Promotion im Bereich Placebo-Forschung. Supervisor und Prüfer für die Ausbildung von Psychologischen Psychotherapeut:innen.

Till Roderigo, Dr., psychologischer Psychotherapeut (VT) in eigener Praxis.
Zuvor ca.10 Jahre in verschiedenen Kliniken überwiegend im Bereich Sucht/Entgiftung für Alkohol, Medikamente und illegale Drogen. Promotion im Bereich Placebo-Forschung. Supervisor und Prüfer für die Ausbildung von Psychologischen Psychotherapeut:innen.


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