Rodenberg | Bilder aus dem Berliner Leben | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 275 Seiten

Rodenberg Bilder aus dem Berliner Leben


1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-8496-3402-5
Verlag: Jazzybee Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 275 Seiten

ISBN: 978-3-8496-3402-5
Verlag: Jazzybee Verlag
Format: EPUB
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Julius Rodenber war ein deutscher Journalist und Schriftsteller. In den achtziger Jahren des vorletzten Jahrhunderts entdeckte der Berliner Feuilletonist Heinz Knobloch (vor allem bekannt durch seine Feuilletons in der Wochenpost) Julius Rodenberg für eine breitere Öffentlichkeit wieder und schrieb u. a. ein Essay als Nachwort zu einer von ihm initiierten Neuauflage der Bilder aus dem Berliner Leben.

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(Oktober 1883)

Auf dem Grundriß von 1778 war Berlin am Halleschen Tor zu Ende, und auf dem von 1831 führt das, was heute die großmächtige Belle-Alliance-Straße ist, den anspruchslosen Namen "Weg nach Tivoli". Tivoli war ein berühmtes, nach Pariser Muster im Jahre 1829 angelegtes und genanntes Vergnügungslokal am Kreuzberg, da, wo gegenwärtig die Brauerei gleichen Namens liegt. Aber hier war nicht mehr Berlin, sondern "Umgegend von Berlin"; man fuhr nach Tivoli, wie man heute nach Tegel oder Pichelswerder fährt. Im Jahre 1842 hieß die Straße, welche bis dahin "Weg nach Tivoli" geheißen hatte, die "Tempelhofer Straße": aber sie war, wie wir dem Buche von Fidicin ("Berlin, historisch und topographisch", 1843) entnehmen, nur "in der Nähe der Stadt mit Häusern besetzt". Die eigentliche Bebauung dieser Strecke, welche an Ausdehnung die Friedrichstadt übertrifft, fällt in die Periode von 1866–1875, und die Belle-Alliance-Straße, eine Geschäftsstraße voll regen Verkehrs, länger als die Linden und fast ebenso breit, bildet seitdem den Kern eines neuen Stadtteils mit vorstädtischem Charakter und sehr eigentümlich zusammengesetzter Bevölkerung. Gegen das Tempelhof er Feld ansteigend und zu beiden Seiten flankiert von den mäßigen Terrainerhöhungen, die man sich gefällt, den Tempelhofer Berg und den Kreuzberg zu nennen, macht sie mit ihren Bäumen, Kasernen, großen Läden und hohen Häusern einen sehr stattlichen Eindruck als die vornehmste dieses Quartiers. Aber man würde nicht vermuten, daß hinter ihr, am östlichen Abhange des Kreuzbergs, eine der reizendsten kleinen Straßen sich versteckt, und, wenn man den Eingang nicht kennt, sie nicht einmal finden. Hier ist nichts mehr von dem Lärm und der Arbeit der volkstümlichen Nachbarschaft. In aristokratischer Einsamkeit herrscht hier beschauliche Ruhe. Zierliche Häuser sind hier in schönen Gärten, ein Teich, auf welchem Schwäne schwimmen, ein kleiner Palast in den reinsten italienischen Formen, auf dessen Freitreppe man sich gern einen Kreis anmutiger Frauen, einen Scaliger, einen Medicäer dächte.

Zehn, zwanzig Schritte bringen uns wieder in die Wirklichkeit zurück, und zwar in eine, die auch ihre Überraschungen hat. Denn diese Vorstadt ist noch weit davon, vollständig ausgebaut zu sein, und hier kann man, wenn ich so sagen darf, Berlin wachsen sehen.

Namentlich die nähere Umgebung des Kreuzberges nach Norden und Westen hin bietet noch solch einen Anblick. Hier sind Trottoirs ohne Straßen und, was noch ärger ist, Straßen ohne Trottoirs, Holzplätze, Kohlenplätze, dann wieder ein einzelnes Haus, ein Baugerüst, ein Bretterzaun und ein Stück Eisenbahn, ganz voll ausrangierter Wagen. Nähert man sich von einer dieser Seiten, etwa unter den alten Pappeln und Häusern der Möckernstraße, dann sieht der Kreuzberg aus wie eine Düne am Meeresstrand, unten ganz weiß, oben spärlich begrünt – man meint, man müßte die Segelstangen vorüberziehender Schiffe erblicken unter dem milden, grauen Abendhimmel. Knaben spielen im Sande, auch ein Reiter auf schwerfällig sich fortbewegendem Rosse ist da und dunkle Vertiefungen und Schluchten. Stark und lau weht der Abendwind und macht die Täuschung noch vollständiger. Rechts ist die Fortsetzung der Kreuzbergstraße und der Sandweg mit den Weidenbäumen, der nach Schöneberg führt. Wie manchmal bin ich ihn gegangen vor vielen Jahren! Aber hier hat sich noch nichts geändert, hier ist alles noch, wie es war. Nur drei Freunde, drei gute Gesellen im Leben, die mit mir gingen, ruhen jetzt dort oben, nicht weit voneinander, auf dem Schöneberger Kirchhof, dessen Mauer sich über dem ansteigenden Felde zeigt. Hier sind auch noch die beiden altmodischen Tanzlokale, in welche beim Vorübergehen hineinzuschauen uns damals so viel Vergnügen machte: "Zum Türmchen" und "Zum alten Türmchen" – letzteres über dem Dach mit einem veritablen, grün angestrichenen Türmchen, das wie ein Taubenschlag aussieht und vielleicht auch einer sein mag. Wieder ist es Sonntagnachmittag. Wieder ist hier die Drehorgel und das Marionettentheater; es wird gekegelt und getrunken. Plötzlich höre ich jemanden rufen: "Naucke!" Ich achte nicht darauf. Da fragt ein zweiter einen dritten: "Haste Naucken nich jesehn?", und ein vierter sagt: "Wo is Naucke?" Mein Gott, denke ich, wer mag der Mann sein, nach dem alle sich so teilnehmend erkundigen? Wer ist Naucke? Da steht vor dem Eingang "Zum alten Türmchen" ein kleiner Stillvergnügter, der sich fortwährend um sich selber dreht und dazu mit gerührter Stimme singt:

Naucke is nich mehr zu sehn,
Naucke is mich jar zu kleen.

Nun denn, so will ich mich darein ergeben; ich fürchte, mich zu blamieren, wenn ich weiter nach diesem interessanten Unbekannten forsche. Doch ein paar Tage später, beim Stralauer Fischzug und auf dem Erntefest im Schwarzen Adler zu Schöneberg – überall hör ich denselben Namen, überall ist Naucke, oder ist er vielmehr nicht; und ich überzeuge mich nun, daß es sich hier um eine jener Neckereien handelt, die oft so plötzlich, man weiß nicht woher, im Berliner Leben auftauchen. Vielleicht daß bei einer Landpartie eine liebende Gattin ihren Mann verloren hat, der sich des Namens Naucke erfreut. "Naucke!" ruft sie – "wo ist Naucke?" Ihr Schicksal erregt Teilnahme, man hilft ihr suchen, alle Bezirksgenossen schließen sich an – was anfänglich bitterer Ernst gewesen, wird allmählich fröhlicher Scherz, der Ruf wird populär, und lange noch, nachdem, so wollen wir hoffen, Frau Naucke ihren Mann wiedergefunden hat, klingt es durch ganz Berlin bis zum alten Türmchen in der Schöneberger Feldmark: "Wo ist Naucke?"

Von hier aus hat der Rücken des Kreuzbergs ganz den Heidecharakter, das heißt etwas Gras und viel Sand. Das Denkmal, welches früher auch im Sande stand, steht jetzt auf festem Unterbau, mit hohen, zinnengekrönten Mauern. Der Blick auf das unter einem violetten Abendhimmel flach daliegende Berlin imponiert nicht besonders: Man sieht Türme, Kuppeln, viele Häuser; man unterscheidet ganz in der Ferne die gegenüberliegenden Höhenzüge und weit weg links die Spandauer Heide und die Spandauer Forst; aber es gibt kein Bild, man hat nicht den Eindruck einer ungeheuren Stadt, in der Millionen Menschen wohnen. Nach der Seite von Tivoli hin sind viel dichte Laubmassen um den Hügel, und sie erwecken den Wunsch, dieses ganze, jetzt noch ziemlich öde Terrain in den Südpark umgeschaffen zu sehen, den man uns so lange schon verheißen und dem es in der Tat so mannigfache Vorzüge der Bodenformation entgegenbringt. Wer weiß, ein Wanderer, der nach mir kommt, wird ihn finden und beschreiben.

Die Berge von Berlin! Wer wird ernsthaft an sie glauben? Aber sie sind nun einmal da, und sie heißen so, wenn auch ein künftiges Geschlecht sie vielleicht nur noch an der etwas stärkeren Hebung oder Senkung der Straße erkennen mag wie beim Pfefferberg in der Schönhauser Allee. Hier indessen ist noch etwas von der alten Romantik; und wer vom Kreuzberg nieder- und über die Belle-Alliance-Straße hinweg den Tempelhofer Berg hinansteigt, der kann sich in die glückliche Vorzeit versetzt wähnen. Es ist dies auch noch ein rechtschaffener Sandhügel mit allen Attributen eines solchen. Bei jedem Schritte, den man vorwärts tut, sinkt man ein oder rutscht hinunter. Rechts, am Rande des Hügels, ist die berühmte Bock-Brauerei, links ist eine andere Brauerei und ein Hof mit vielen Tonnen, geradeaus ist eine Gruppe von Pappeln, eine Windmühle, eine Fabrik mit ein paar hohen Schornsteinen – und Berlin ist zu Ende. Dieses Haus dort drüben ist das letzte Haus von Berlin.

Aber unermeßlich gegen Südwesten, vom Tempelhofer Revier bis zur Luisenstadt, dehnt sich ein neues Berlin aus; und ich erinnere mich noch, daß ich dort im Sande des Köpenicker Feldes ging, wie ich hier im Sande der Tempelhofer Felder gehe. Jetzt sind überall Straßen – und was für Straßen, und was für ein beständiges Wogen der Menschen in ihnen! Welche Plätze, welche Brücken! Weit und luftig ist hier die Gegend am Johannistisch und am Urban, in dessen Nachbarschaft, auf die "Schlächterwiese" des Cottbuser Feldes – vor elf Jahren, im Sommer 1872, noch ein Rüben- und Kartoffelfeld – in jener Zeit der Wohnungsnot der Exodus der "Obdachlosen" stattfand, die sich hier Hütten bauten. Welch ein Anblick kann phantastischer sein als jetzt, wenn man in diesen neuen Gegenden, am Plan- und Waterloo-Ufer und der prächtigen Bärwaldbrücke vorbei, bis zum Kohlenufer wandelt, bei der einbrechenden Dunkelheit die Feuer der Gasfabriken, unter den alten Baumgruppen, am Wasser und im warmen Dunste des Sommerabends; oder, der Nacht und dem frischen Ostwind entgegen, an einem dunkelblauen Himmel, über einer Fläche, halb noch unbebautes Land und halb schon weißliches Häusermeer, als ob es Bergzüge wären oder Wolkenmassen, den Vollmond aufsteigen zu sehen, groß und golden? Oder sich in das Unbekannte Häusergewirr zu verlieren, in dem man sich nur nach der Richtung zu orientieren vermag, in das Dunkel von Straßen, von deren Namen und Existenz man bisher nichts gewußt und die doch alle regelrecht gebaut sind und in denen aus Bierlokalen und "Destillationen" überall das Spiel von Klavieren heraufklingt?

Zwischen den Kolossen mit vier oder fünf Stockwerken und unzähligen Fenstern, so daß man meint, fünfhundert Menschen müßten darin wohnen können, begegnet man hier zuweilen einem kleinen Bijou von Haus, einstöckig, traulich, nur für eine Familie – das Haus, welches ein Fabrikant dieser Gegend sich in der Nähe seiner Fabrik und der Mitte seiner Arbeiter gebaut...



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