E-Book, Deutsch, Band 4, 362 Seiten
Reihe: Die Yorkshire-Morde
Robinson Verhängnisvolles Schweigen
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-98952-507-8
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Kriminalroman | Die Yorkshire-Morde 4 - Ein Cold Case in den Dales
E-Book, Deutsch, Band 4, 362 Seiten
Reihe: Die Yorkshire-Morde
ISBN: 978-3-98952-507-8
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Peter Robinson (1950-2022) wurde in Yorkshire geboren und lebte nach seinem Studium der englischen Literatur in Toronto, Kanada. Er wurde für seine Werke mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Edgar Allan Poe Award. Seine Bestseller-Reihe um Inspector Alan Banks feierte internationale Erfolge und wurde auch als Fernsehserie adaptiert. Bei dotbooks veröffentlichte der Autor die »Yorkshire-Morde«-Reihe um Detective Chief Inspector Banks. Band 1 »Augen im Dunkeln« ist auch als Hörbuch bei AUDIOBUCH erhältlich.
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Kapitel 1
Es war das erregendste Gefühl auf der Welt. Seine Oberschenkel schmerzten, in seinen Waden pochte es, und er bekam kaum noch Luft. Aber er hatte es geschafft. Neil Fellowes, ein bescheidener Lohnbuchhalter aus Pontefract, stand auf dem Gipfel des Swainshead-Berges.
Nicht dass diese Leistung mit der von Sir Edmund Hillary zu vergleichen gewesen wäre, der Berg war schließlich nur 553 Meter hoch. Aber Neil wurde nicht jünger, außerdem hatten sich seine Kollegen in Baxwells Werkzeugmaschinenfabrik über ihn und seine Pläne lustig gemacht, eine Bergwanderung in den Yorkshire Dales zu unternehmen.
»Berge?«, hatte Dick Blatchley, einer der Witzbolde aus der Postabteilung, gehöhnt. »Das wird ‘n Absturz, bevor du oben bist, Neil.« Und die anderen hatten sich gebogen vor Lachen.
Doch jetzt, als er hier oben in der dünnen Luft stand und sein Herz tief in seiner Brust hämmerte wie die Kolben der Dampfmaschinen in der Fabrik, war er derjenige, der zuletzt lachte. Er schob seine metallgerahmte Brille hoch und wischte sich den Schweiß vom Nasenrücken. Danach rückte er die Riemen seines Rucksacks zurecht, die ihm in die Schultern schnitten.
Über eine Stunde war er geklettert; keine zu gefährliche Angelegenheit, keine steilen Anstiege, nichts, wozu man besonders ausgerüstet sein müsste. Eine Bergwanderung war eine Art demokratischer Erholung: nur einfache, harte Arbeit. Und es war ein idealer Tag für eine Wanderung. Die Sonne blitzte immer wieder zwischen den dichten weißen Wolken hindurch, während eine kühle Brise für eine angenehme Temperatur sorgte. Perfektes Frühlingswetter an diesen letzten Maitagen.
Er stand in dem struppigen, unebenen Gras, umgeben von Heidekraut und einer Handvoll Schafe – und die hatten ihm bereits den Rücken zugekehrt und hoppelten in sicherer Entfernung davon. Hier oben war er der König, er setzte sich auf einen verwitterten Kalksteinfelsen und genoss dieses Gefühl.
Am Fuße des Berges konnte er gerade noch die nördlichen Ausläufer des Dorfes Swainshead ausmachen, von wo er losgewandert war. Jenseits des Baches erkannte er problemlos die weißgetünchte Fassade des White Rose, außerdem das moosbedeckte Steindach des Greenock-Gasthauses, wo er nach der gestrigen Wanderung in Wharfedale eine angenehme Nacht verbracht hatte. Bevor er an diesem Morgen losgezogen war, hatte er sich dort auch an einem Frühstück mit Bratwurst, Speck, Blutwurst, geröstetem Brot, gegrillten Pilzen, Tomaten, zwei Spiegeleiern, Tee, Toast und Marmelade gelabt.
Er stand auf, um das ganze Panorama zu betrachten, begann im Westen, wo die Berge allmählich wie in gefrorenen Wellen zum Meer hin abfielen. Im Nordwesten lagen die runden Hügel des Lake Districts. Neil freute sich, dass er Striding Edge bei Helvellyn und gelegentliche Sonnenschimmer auf den Seen Windermere und Ullswater erkennen konnte. Dann blickte er nach Süden, wo die Landschaft in die Pennines überging, dem Gebirgszug, den man das Rückgrat Englands nennt. Der Fels war dunkler dort, hier und da stachen Vorsprünge aus Mühlsteinstaub aus dem glitzernden Kalkstein hervor. Kilometerweit erstreckte sich eine wilde, bedrohliche Moorlandschaft bis nach Derbyshire. Und im Südosten, in der Talsohle, die von hier nicht zu erkennen war, lag schließlich Swainsdale.
Was Neil allerdings am meisten erstaunte, war ein schmales, bewaldetes Tal am östlichen Abhang, genau unter ihm. Die Reiseführer hatten für die Route, die er sich ausgesucht hatte, keine besondere Sehenswürdigkeit erwähnt, und er hatte sie ja gerade deswegen ausgewählt, damit niemand seine Einsamkeit störte. Anscheinend waren die meisten Leute darauf aus, Steingräber, alte Bleiminen und historische Gebäude zu suchen.
Zusätzlich zu seiner Lage und Abgeschiedenheit war das Laubwerk des Tals ungewöhnlich. Es muss sich um eine Lichttäuschung handeln, dachte Neil, denn im Gegensatz zu der frühlingshaften Frische und Farbe der Bäume ringsherum schienen die Blätter der Eschen, Birken und Ahorne unter ihm rostfarben, orange und erdbraun getönt zu sein. Dieses Tal schien ihm geradewegs Tolkiens Herr der Ringe entsprungen zu sein.
Neil überlegte. Es würde zwei, drei Kilometer mehr und eine ungeplante Kletterpartie zurück bedeuten, andererseits sahen die Hänge nicht sonderlich steil aus, und an den schattigen Ufern des Baches könnte er vielleicht einige interessante wilde Blumen entdecken. Also rückte er noch einmal den Rucksack zurecht und zog aus ins verlockende Tal.
Schon bald wich der struppige Untergrund einem weichen Grasboden. Als Neil den Wald erreichte, wirkten die Blätter aufgrund des hindurchscheinenden Sonnenlichtes wesentlich grüner. Der Geruch von Bärlauch erfüllte seine Nase und benebelte ihn. In der leichten Brise wogten Glockenblumen hin und her.
Den Bach hörte er, bevor er ihn zwischen den Bäumen sah, ein leiser, sprudelnder Ton – freudig und heiter. Nicht nur aus der Ferne, sondern auch mittendrin hatte das Tal ganz eindeutig etwas Magisches. Es war üppiger als die Umgebung, die Farne und Sträucher wucherten saftiger und voller, als hätte Gott diesem Flecken Erde eine besondere Gnade zuteilwerden lassen.
Neil befreite sich von seinem Rucksack und legte ihn ins dichte Gras am Ufer. Während er seine Brille abnahm, beschloss er, einen Moment auszuspannen und vielleicht einen Kaffee aus der Thermoskanne zu trinken, bevor er seinen Weg fortsetzte. Er legte seinen Kopf auf den Rucksack und schloss die Augen. Er dachte an nichts mehr, nahm nur noch den berauschenden Bärlauchduft wahr und die Klänge der Natur um ihn herum: das Lied des Baches, den kühlen Hauch des Windes, der durch die wilden Rosen und Geißblätter wehte, und das Trällern der Feldlerchen, die sich singend der Sonne entgegenschraubten und leicht wie Federn wieder hinabschwebten.
Ausgeruht und tatsächlich mit einem Gefühl wie neugeboren, rieb sich Neil die Augen und setzte seine Brille wieder auf. Als er sich umschaute, entdeckte er eine wilde Blume im Gehölz jenseits des Baches. Von seinem Platz aus betrachtet, schien sie gut dreißig Zentimeter hoch zu sein, mit rotbraunen Kelchen und blassgelben Blütenblättern. Im Glauben, es könnte sich um einen seltenen Frauenschuh handeln, entschloss er sich, hinüberzugehen und sich die Pflanze genauer anzusehen. Der Bach war nicht besonders breit, außerdem gab es genügend zufällig platzierte Steine im Wasserbett.
Als er sich der Blume näherte, drängte sich ein anderer Geruch auf, der wesentlich strenger und gesättigter war als der von Bärlauch oder feuchter Erde. Er verstopfte seine Nase und drang bis in die Bronchien vor. Neugierig, woher der Geruch stammen könnte, schaute er sich um, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken. Neben der Blume, bei der es sich mit Sicherheit um einen Frauenschuh handelte, lagen ein paar von einem Baum heruntergefallene Äste und blockierten seinen Weg. Um einen besseren Blick zu haben, begann er sie zur Seite zu ziehen.
Doch er kam nicht sehr weit. Dort, nur notdürftig verborgen, lag die Quelle des Gestanks: eine menschliche Leiche. In dem kurzen Augenblick, bevor er sich umdrehte, um sich in die Sträucher zu erbrechen, bemerkte Neil zwei Dinge: Die Leiche hatte kein Gesicht, und sie sah aus, als würde sie sich bewegen – ihr Fleisch schien buchstäblich zu krabbeln.
Er blieb noch einen Moment, um sich im Bach das Gesicht zu waschen und den Mund auszuspülen, ließ seinen Rucksack, wo er war, und rannte so schnell er konnte zurück nach Swainshead.
Ekelhaft, dachte Katie Greenock und hob schleunigst ihre Nase, während sie den Abfalleimer aus Zimmer drei leerte. Man sollte eigentlich meinen, die Leute würden sich schämen, solche Dinge für jeden sichtbar liegen zu lassen. Gott sei Dank sind sie heute Morgen abgereist. Die beiden hatten die ganze Zeit etwas Schmieriges an sich: So wie die sich am Frühstückstisch küssten und betatschten, wie sie immer erst so spät aus ihrem Zimmer verschwanden und so früh schon wieder zurückkehrten. Sie glaubte nicht einmal, dass sie verheiratet waren.
Seufzend fegte Katie eine aschblonde Haarsträhne weg und leerte den Eimer in den schwarzen Plastiksack, mit dem sie von Zimmer zu Zimmer ging. Sie war schon vollkommen erschöpft. Ihr Tag begann um sechs Uhr in der Früh, und an sorglose, ländliche Morgenstunden mit Vogelgezwitscher und Tau war für sie nicht zu denken, für sie gab es nichts als harte Arbeit.
Zuerst musste sie das Frühstück zubereiten und alles genau aufeinander abstimmen, damit die Eier sich nicht schon abgekühlt hatten, wenn der Speck fertig war, und damit der Tee genau in dem Moment frisch war, wenn die Gäste sich entschlossen, nach unten zu kommen. Bei dem Saft und dem Müsli konnten sich die Gäste selbst bedienen, sie musste die Dinge nur frühzeitig bereitstellen – allerdings auch nicht zu früh, damit die Milch nicht warm wurde. Der Toast dagegen durfte so sein, wie er wollte – kalter Toast schien Teil der englischen Frühstückstradition zu sein. Trotzdem freute sich Katie jedes Mal darüber, wenn sie es schaffte, ihn genau zur richtigen Zeit warm zu servieren. Bedankt hatte sich dafür natürlich noch nie jemand.
Dann musste sie die warmen Speisen servieren und dabei noch jedem Gast ein Lächeln schenken, ungeachtet ihrer Quengelei über das Essen und der Angewohnheit ihrer ach so süßen Kleinen, alles, was sie sahen, auf den Fußboden fallen zu lassen oder an die Wände zu werfen. Außerdem wurde sie oft um Rat gefragt, wie und wo man den Tag verbringen könnte. Diesen Teil nahm ihr manchmal Sam ab und unterbrach dafür seinen üblichen, morgendlichen Vortrag über aktuelle Ereignisse, mit denen er die Besucher unterhielt, ob sie nun darum gebeten hatten oder...