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E-Book, Deutsch, 558 Seiten
Robinson Kalt wie das Grab
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-98952-685-3
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Kriminalroman | Die Yorkshire-Morde 11 - Ein fesselnder Ermittlerkrimi für Fans von Val McDermid
E-Book, Deutsch, 558 Seiten
ISBN: 978-3-98952-685-3
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Peter Robinson (1950-2022) wurde in Yorkshire geboren und lebte nach seinem Studium der englischen Literatur in Toronto, Kanada. Er wurde für seine Werke mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Edgar Allan Poe Award. Seine Bestseller-Reihe um Inspector Alan Banks feierte internationale Erfolge und wurde auch als Fernsehserie adaptiert. Bei dotbooks veröffentlichte der Autor die »Yorkshire-Morde«-Reihe um Detective Chief Inspector Banks. Band 1 »Augen im Dunkeln« ist auch als Hörbuch bei AUDIOBUCH erhältlich.
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Kapitel 1
»Mami! Mami! Komm her!«
Rosalind strich die Mischung aus Pilzen, Olivenöl, Knoblauch und Petersilie zwischen Haut und Fleisch des Hühnchens, wie sie es vor kurzem in einem französischen Kochkurs gelernt hatte. »Mami kann jetzt nicht«, rief sie. »Sie hat zu tun.«
»Aber Mami! Du musst kommen! Da ist unsere Püppi.«
Woher hat er nur diese ordinären Ausdrücke, fragte sich Rosalind. Jedes Jahr gaben sie ein kleines Vermögen für die beste Schule in Yorkshire aus, und trotzdem klang er wie ein vulgärer Bauernlümmel. Vielleicht würde sich das bessern, wenn sie wieder nach Südengland zogen. »Benjamin«, rief sie. »Ich hab’s dir doch gesagt. Mami hat zu tun. Daddy gibt heute Abend ein wichtiges Essen, und Mami muss es vorbereiten.«
Das Kochen machte Rosalind nichts aus – sie hatte sogar mehrere Kochkurse besucht und Spaß daran gehabt –, aber in diesem Moment wünschte sie, sie hätte sagen können, die »Köchin« bereite das Essen vor und Mami sei damit beschäftigt, ihre Abendgarderobe auszuwählen. Aber sie hatte keine Köchin, nur einmal pro Woche eine Putzfrau. Sie hätten es sich zwar leisten können, doch solche Extravaganzen erlaubte ihr Mann nicht. Ehrlich, dachte Rosalind manchmal, man könnte meinen, er sei in Yorkshire geboren, statt hier nur zu leben.
»Aber sie ist es!« beharrte Benjamin. »Unsere Püppi. Sie hat nichts an.«
Rosalind runzelte die Stirn und legte das Messer beiseite. Wovon redete er bloß? Benjamin war erst acht, und sie wusste aus Erfahrung, dass er eine blühende Fantasie hatte. Sie machte sich sogar Sorgen, dass ihn das später mal behindern könnte. Menschen mit zu viel Einbildungskraft, fand sie, neigen zu Untätigkeit und Tagträumen und kommen mit profitableren Aktivitäten nicht voran.
»Mami, beeil dich!«
Rosalind verspürte plötzlich leise Besorgnis, als änderte sich etwas in ihrem Universum für immer. Sie schüttelte das Gefühl ab, wischte sich die ölige Füllung von den Fingern, trank rasch einen Schluck Gin-Tonic und ging ins Arbeitszimmer, wo Benjamin am Computer gespielt hatte. Auf dem Weg hörte sie, wie sich die Haustür öffnete und ihr Mann verkündete, er sei wieder da. Früh. Sie runzelte die Stirn. Spionierte er ihr nach?
Aber erst mal wollte sie sehen, wovon Benjamin da eigentlich sprach.
»Siehst du«, sagte der Junge, als sie das Zimmer betrat. »Unsere Püppi.« Er deutete auf den Bildschirm.
»Red nicht so«, sagte Rosalind. »Ich hab’s dir schon öfter gesagt. Das ist ordinär.«
Dann sah sie hin.
Zuerst war sie nur schockiert, das Bild einer nackten Frau auf dem Bildschirm zu sehen. Wie war Benjamin nur auf diese Website gestoßen? Er begriff ja nicht mal, was er da gefunden hatte.
Als sie sich dann über seine Schulter beugte und genauer hinschaute, schnappte sie nach Luft. Er hatte Recht. Was sie da sah, war ein Bild ihrer Tochter Emily, nackt wie am Tag ihrer Geburt, aber mit erheblich mehr Kurven, einer Tätowierung und einem Büschel blonder Schamhaare zwischen den Beinen. Das war ihre Emily, da gab es keinen Zweifel; das tränenförmige Muttermal auf der Innenseite ihres rechten Oberschenkels war der Beweis.
Rosalind fuhr sich durch die Haare. Was sollte das alles? Was war hier los? Rasch warf sie einen Blick auf die URL oben am Bildschirm. Rosalind hatte ein fotografisches Gedächtnis, würde die Webadresse also nicht vergessen.
»Siehst du«, sagte Benjamin. »Das ist unsere Püppi. Aber warum hat sie nichts an, Mami?«
Da geriet Rosalind in Panik. Mein Gott, er durfte das nicht sehen. Emilys Vater. Er durfte das auf keinen Fall sehen. Es würde ihn zerstören. Schnell griff sie nach der Maus, aber bevor ihre Finger die Seite wegklicken konnten, verriet ihr die tiefe Stimme hinter ihr, dass es zu spät war.
»Was ist denn?«, fragte er milde, legte die Hand väterlich auf die Schulter seines Sohnes.
Gleich darauf hörte Rosalind ihn scharf einatmen und wusste, dass er die Antwort bekommen hatte.
Seine Hand verkrampfte sich, und Benjamin zuckte zusammen. »Du tust mir weh, Daddy.«
Aber Chief Constable Jeremiah Riddle achtete nicht auf den Schmerz seines Sohnes. »Mein Gott!«, japste er und zeigte auf den Bildschirm. »Sehe ich das richtig? Ist sie das wirklich?«
Detective Chief Inspector Alan Banks stand über seine Reisetasche gebeugt und überlegte, ob er die Lederjacke oder die Windjacke mitnehmen sollte. Beide zusammen gingen nicht mehr rein. Er war sich nicht sicher, wie kalt es sein würde. Vermutlich nicht viel anders als in Yorkshire, nahm er an. Höchstens ein paar Grad wärmer. Aber im November wusste man ja nie. Schließlich entschied er sich, doch beide mitzunehmen. Er faltete die Windjacke zusammen, legte sie auf die bereits eingepackten Hemden, drückte kräftig und zog den widerstrebenden Reißverschluss zu. Für ein Wochenende kam es ihm fast zu viel vor, aber es passte doch alles in die nicht allzu schwere Reisetasche. Die Lederjacke würde er auf der Fahrt anziehen.
Jetzt musste er nur noch ein Buch und ein paar Kassetten auswählen. Vermutlich würde er sie nicht brauchen, aber er fuhr nicht gern irgendwohin, ohne etwas zu lesen und Musik dabei zu haben, falls es zu Verzögerungen oder Notfällen kam.
Diese Lektion hatte er auf die unangenehme Tour gelernt, als er eines Samstags vier Stunden lang in der Notaufnahme eines großen Londoner Krankenhauses warten musste, bis man ihm die Wunde neben seinem rechten Auge mit sechs Stichen nähen konnte. Die ganze Zeit hatte er das Gazestück gegen die Schläfe gedrückt, um die Blutung zu stoppen, und den endlosen Strom von Drogenopfern, Selbstmordversuchen, Herzinfarkten und Verkehrsunfällen an sich vorbeiziehen sehen. Ihm war klar gewesen, dass ihre Verletzungen viel schlimmer waren und dringender behandelt werden mussten als sein kleiner Schnitt, aber er hätte sich bei Gott gewünscht, in diesem schmuddeligen Wartezimmer etwas anderes lesen zu können als den »Daily Mirror« vom Vortag. Sogar das Kreuzworträtsel war schon ausgefüllt. Mit Tinte.
Aber morgen würde er mit seiner Tochter Tracy über ein langes Wochenende nach Paris fahren – Galerien, Museen und Spaziergänge, üppige Mahlzeiten in kleinen Restaurants am linken Seineufer, hier und da ein Bier an den zinkbeschlagenen Theken in Montmartre mit Blick auf die Passanten. Tracy und er wollten den Eurostar nehmen, den Banks dank eines Sonderangebots in der Zeitung fast umsonst hatte buchen können. Schließlich war November, und die meisten zogen Lanzarote einem feuchten Wochenende in Paris vor. Er würde vermutlich kaum Musik oder Bücher brauchen, außer vor dem Schlafengehen, allein in seinem Zimmer, aber er beschloss, lieber vorzusorgen.
Banks trug die Reisetasche nach unten und kramte ein paar Ersatzbatterien aus der Schublade in der Anrichte. Zusammen mit dem Walkman steckte er sie in die Seitentasche, dazu die Kassetten, auf die er die CDs von Cassandra Wilson, Dawn Upshaw und Lucinda Williams überspielt hatte. Drei unterschiedlichere Frauenstimmen und Stilrichtungen ließen sich vermutlich nirgendwo sonst auf der Welt finden, aber er mochte sie alle und auch die große Stimmungsbandbreite, die sie abdeckten. Er ließ den Blick über das Bücherregal wandern und griff nach Simenons Maigret und die hundert Galgen. Normalerweise las Banks keine Kriminalromane, aber der Titel war ihm ins Auge gefallen, und jemand hatte ihm mal gesagt, er hätte eine Menge mit Maigret gemeinsam. Außerdem, so nahm er an, spielte das Ganze in Paris.
Als Banks mit dem Packen fertig war, goss er sich zwei Finger breit Laphroaig ein und entschied sich für die CD Waltz for Debbie von Bill Evans. Dann setzte er sich in den Sessel neben der Leselampe, stellte das Glas auf die Armlehne und legte die Füße hoch, während »My Foolish Heart« zögernd vorankam. Ein paar Torfstücke brannten im Kamin und passten sich mit ihrem Geruch dem rauchigen Geschmack des Islay Malt an.
Aber aus dem Kamin zog zu viel Rauch ins Zimmer. Banks überlegte, ob er einen Schornsteinfeger brauchte, weil vermutlich seit langer Zeit kein Feuer mehr entzündet worden war. Er hatte keine Ahnung, wie er einen Schornsteinfeger finden sollte, wusste nicht mal, ob es so ein exotisches Wesen überhaupt noch gab. Ihm fiel ein, wie fasziniert er als Kind gewesen war, wenn der Schornsteinfeger kam und seine Mutter alles im Zimmer mit alten Laken abdeckte. Banks durfte zusehen, wie der seltsame, mit Ruß bedeckte Mann die Verlängerung an seiner langen, dicken Bürste anbrachte und sie in den hohen Schornstein schob, musste aber aus dem Zimmer gehen, bevor die eigentliche Arbeit begann. Später, als er las, dass während der viktorianischen Zeit kleine Jungs nackt in die Schornsteine geschickt wurden, hatte er sich gefragt, ob ihr Schornsteinfeger so was wohl auch gemacht hatte. Doch dann wurde ihm klar, dass der Mann nicht alt genug war, damals schon gelebt zu haben, egal, wie uralt er dem ehrfurchtsvollen kleinen Jungen vorgekommen war.
Banks entschied, dass mit dem Schornstein alles in Ordnung war und der Wind vermutlich den Rauch zurückdrückte. Er hörte ihn um die dicken Mauern heulen, mit dem losen Fenster oben im Gästezimmer klappern, den Regen gegen die Scheiben peitschen. Da es in letzter Zeit viel geregnet hatte, konnte Banks auch das Rauschen von Gratly Falls vor dem Cottage hören. Das war kein beeindruckender Wasserfall, nur ein paar flache Stufen, keine mehr als einszwanzig oder einsfünfzig hoch. Sie verliefen quer durchs Dorf, dort, wo der Bach von den Dales herunterfloss, bevor er bei Helmthorpe in den Swain mündete. Aber die Musik des Wassers veränderte sich ständig und war eine große Freude für Banks, besonders...