E-Book, Deutsch, Band 9, 447 Seiten
Reihe: Die Yorkshire-Morde
Robinson Das blutige Erbe
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-98952-681-5
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Kriminalroman | Die Yorkshire-Morde 9 - Inspector Banks ermittelt in den Abgründen des Rechtsextremismus
E-Book, Deutsch, Band 9, 447 Seiten
Reihe: Die Yorkshire-Morde
ISBN: 978-3-98952-681-5
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Peter Robinson (1950-2022) wurde in Yorkshire geboren und lebte nach seinem Studium der englischen Literatur in Toronto, Kanada. Er wurde für seine Werke mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Edgar Allan Poe Award. Seine Bestseller-Reihe um Inspector Alan Banks feierte internationale Erfolge und wurde auch als Fernsehserie adaptiert. Bei dotbooks veröffentlichte der Autor die »Yorkshire-Morde«-Reihe um Detective Chief Inspector Banks. Band 1 »Augen im Dunkeln« ist auch als Hörbuch bei AUDIOBUCH erhältlich.
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Kapitel 1
Die Leiche des Jungen lehnte an einer mit Graffiti beschmierten Mauer in einer Seitengasse der Market Street. Sein Kopf war nach vorn geneigt, das Kinn lag auf der Brust, die Hände umklammerten den Bauch. Auf der Vorderseite seines weißen Hemdes war ein Blutrinnsal hinabgeflossen.
Detective Chief Inspector Alan Banks stand im Regen und sah zu, wie Peter Darby Aufnahmen vom Tatort machte und die Blitzlichter die Regentropfen im Hinabfallen einfroren. Banks war verärgert. Von Rechts wegen hätte er gar nicht hier sein sollen. Im Regen um halb zwei Uhr in einer Samstagnacht.
Als wenn er nicht bereits genug Probleme hätte.
Der Anruf hatte ihn in dem Moment erreicht, als er durch die Tür gekommen war, nachdem er sich in Leeds allein eine Aufführung der Perlenfischerin der Opera North angeschaut hatte. Allein, weil seiner Frau Sandra am Mittwoch eingefallen war, dass sich die Benefizveranstaltung, deren Gastgeberin sie für das Eastvaler Gemeindezentrum sein sollte, mit ihrem Abonnement überschnitt. Da Sandra von Banks erwartet hatte, zugunsten ihrer Veranstaltung auf die Oper zu verzichten, war es zum Streit gekommen, sodass Banks am Ende ohne sie gegangen war. Dass die beiden ihre eigenen Wege gingen, war in der letzten Zeit häufig vorgekommen, so häufig, dass Banks sich kaum noch erinnern konnte, wann sie das letzte Mal etwas gemeinsam unternommen hatten.
Die eingängige Melodie des Duetts »Au fond du temple saint« geisterte noch durch seinen Kopf, während er zuschaute, wie der junge Polizeiarzt Dr. Burns unter dem Zelt, das die Beamten der Spurensicherung über der Leiche errichtet hatten, mit seiner Vor-Ort-Untersuchung begann.
Police Constable Ford war während seines Streifenganges um elf Uhr siebenundvierzig am Tatort vorbeigekommen. Zuerst hatte er das Opfer lediglich für einen Betrunkenen gehalten, sagte er, der es nach der Sperrstunde nicht mehr bis nach Hause geschafft hatte. Immerhin lag eine zerbrochene Bierflasche auf dem Boden neben dem Jungen, er schien seinen Bauch zu halten und im Licht von Fords Taschenlampe hätte man das Blut leicht für Erbrochenes halten können.
Ford erzählte Banks, er wisse selbst nicht recht, was ihn schließlich ahnen ließ, dass er es nicht mit einem Betrunkenen zu tun hatte, der seinen Rausch ausschlief; möglicherweise war es die unnatürliche Reglosigkeit der Leiche gewesen. Oder die Stille: Er vernahm weder ein Schnarchen noch ein Zucken oder Murmeln, wie es bei Betrunkenen üblich ist, sondern nur die Stille unter dem Zischen und Prasseln des Regens. Nachdem er sich hingekniet und genauer nachgesehen hatte – nun, da war es ihm natürlich klar gewesen.
Bei der Gasse handelte es sich um einen kaum zwei Meter breiten Gang zwischen zwei Häuserreihen am Carlaw Place. Er wurde oft als Abkürzung zwischen der Market Street und dem westlichen Teil von Eastvale benutzt. Jetzt hatten sich Schaulustige hinter dem Absperrband der Polizei am Eingang der Gasse versammelt; die meisten drängten sich unter Schirmen, unter den Regenmänteln stachen Pyjamaknöpfe hervor. In vielen Häusern entlang der Straße waren trotz der späten Stunde die Lichter angegangen. Mehrere uniformierte Beamte hatten sich auf der Suche nach jemandem, der etwas gesehen oder gehört hatte, unter die Menge gemischt oder klopften an Türen.
Die Mauern der Gasse boten etwas Schutz vor dem Regen, aber nicht viel. Banks spürte, wie das kalte Wasser seinen Nacken hinabtropfte. Er schlug den Kragen hoch. Es war Mitte Oktober, die Jahreszeit, in der das Wetter ständig zwischen warmen, nebligen, milden Tagen, die direkt Keats Versen entnommen zu sein schienen, und peitschenden orkanartigen Winden wechselte, die einem einen stechenden Regen ins Gesicht trieben, der dem Hagel aus Pfeilen glich, welche die Blefuskier auf Gulliver abgefeuert hatten.
Banks sah, wie Dr. Burns das Opfer auf die Seite drehte, die Hosen herunterzog und rektal die Körpertemperatur maß. Er hatte bereits selbst einen Blick auf die Leiche geworfen, und es schien, als hätte jemand den Jungen zu Tode geschlagen oder getreten. Das Gesicht war so schlimm zugerichtet worden, dass man kaum mehr sagen konnte, als dass es sich um einen jungen weißen Mann handelte. Sein Portemonnaie war verschwunden, ebenso Schlüssel oder Kleingeld oder was auch immer er in seinen Taschen gehabt hatte; und so gab es keinerlei Hinweis darauf, wer er war.
Wahrscheinlich hatte es als Kneipengerangel begonnen, vermutete Banks, oder vielleicht hatte das Opfer mit seinem Geld herumgewedelt. Während er Dr. Burns beobachtete, der das zerschundene Gesicht des Jungen untersuchte, stellte sich Banks vor, wie es passiert sein könnte: Der verängstigte Junge, der vielleicht davonrennt, als ihm bewusst wird, dass außer Kontrolle gerät, was ganz harmlos begonnen hat. Wie viele sind hinter ihm her? Wahrscheinlich mindestens zwei. Vielleicht drei oder vier. Er rennt im Regen durch die dunklen, verlassenen Straßen, platscht durch Pfützen, ohne seine nassen Füße wahrzunehmen. Ist ihm klar, dass sie ihn töten werden? Oder hat er einfach nur Angst, verprügelt zu werden?
Wie auch immer, er sieht die Gasse, glaubt es zu schaffen, glaubt, türmen zu können und wohlbehalten nach Hause zu kommen, doch es ist zu spät. Er wird niedergeschlagen oder zum Straucheln gebracht, er sinkt zu Boden, und plötzlich wird sein Gesicht auf den regennassen Stein gedrückt, auf die Kippen und den Unrat. Er kann Blut, Staub und Laub schmecken und spürt mit der Zunge einen angeschlagenen Zahn. Und dann fühlt er einen heftigen Schmerz in der Seite, einen weiteren im Rücken, in seinem Bauch, seiner Leiste, dann treten sie gegen seinen Kopf, als wäre es ein Fußball. Er versucht zu sprechen, zu bitten, zu flehen, aber er bekommt kein Wort hervor, sein Mund ist voller Blut. Und schließlich verliert er die Besinnung. Kein Schmerz mehr. Keine Angst mehr. Nichts mehr.
Vielleicht war es so passiert. Andererseits könnten sie ihm auch aufgelauert haben, könnten die Gasse an beiden Seiten versperrt und ihn umzingelt haben. Einige von Banks’ Vorgesetzten fanden, er hätte zu viel Fantasie, obwohl er der Meinung war, dass sie immer hilfreich gewesen war. Die meisten Leute wären überrascht, wenn sie wüssten, wie viel von dem, was sie für sorgfältige, logische Polizeiarbeit hielten, im Grunde auf nichts anderes zurückzuführen war als auf eine Vermutung, eine Ahnung oder eine plötzliche Eingebung.
Banks schüttelte seinen Gedankengang ab und widmete sich wieder der zu erledigenden Arbeit. Dr. Burns kniete noch vor dem Jungen und leuchtete mit einer kleinen Taschenlampe in seinen Mund. Für Banks sah er aus wie ein Pfund rohes Hackfleisch. Er wandte sich ab.
Also eine Kneipenprügelei? Obwohl die normalerweise nicht tödlich endeten, waren Prügeleien an einem Samstagabend nichts Ungewöhnliches in Eastvale. Besonders dann, wenn ein paar Jungs aus den umliegenden Dörfern kamen, die heiß darauf waren, den arroganten Städtern ihre körperliche Überlegenheit zu demonstrieren.
Sie reisten schon früh an, um am Nachmittag ein Spiel von Eastvale United oder der Rugbymannschaft anzuschauen, und wenn sie nach der Sperrstunde aus den Pubs geworfen wurden, waren sie für gewöhnlich aufgestachelt, provozierten die anderen in den Schlangen der Fish-and-Chips-Imbisse und pöbelten streitsüchtig jeden Erstbesten an. Es lief immer nach dem gleichen Muster ab: »Was gibt es zu glotzen?« – »Nichts.« – »Ich bin nichts, oder was?« Nach Möglichkeit hielt man sich da besser heraus.
Um Mitternacht waren die meisten Säufer allerdings bereits nach Hause verschwunden, es sei denn, sie waren in einen von Eastvales zwei Nachtclubs weitergezogen, wo man für ein geringes Eintrittsgeld eingelassen wurde, einen ungenießbaren Hamburger erhielt, unablässig mit ohrenbetäubender Musik beschallt wurde und, was am wichtigsten war, die Möglichkeit hatte, bis um drei Uhr am Morgen wässriges Lagerbier herunterzukippen.
Nicht dass Banks kein Mitgefühl für das Opfer hatte – schließlich war der Junge irgendjemandes Sohn –, doch diesen Fall würde man wohl nur dann lösen, dachte er, wenn man durch die einschlägigen Pubs zog und herausfand, wo er getrunken und wen er gegen sich aufgebracht hatte. Das war vielleicht eine Aufgabe für Sergeant Hatchley, bestimmt aber keine für einen durchnässten Chief Inspector, der immer noch Bizets einschmeichelnde Melodien im Ohr hatte und dessen einziger Wunsch es war, in ein warmes Bett neben eine Frau zu kriechen, die wahrscheinlich immer noch kein Wort mit ihm sprechen würde.
Dr. Burns beendete seine Untersuchung und kam zu ihm. Burns übernahm die Untersuchungen am Tatort immer dann, wenn der zuständige Pathologe, Dr. Glendenning, nicht verfügbar war. Für diese Arbeit sah er wesentlich zu jung und unschuldig aus – mit seinem runden Gesicht, den freundlichen, etwas derben Zügen und dem kastanienbraunen Haarschopf ähnelte er im Grunde eher einem Bauern –, doch er war schnell mit den verschiedenen Arten vertraut geworden, mit denen ein Mensch seinen Mitmenschen ins Jenseits befördern konnte.
»Tja, sieht eindeutig so aus, als wäre er zu Tode getreten worden«, sagte er und steckte ein schwarzes Notizbuch in seine Tasche. »Beschwören kann ich es natürlich nicht, das muss Dr. Glendenning bei der Obduktion bestätigen, aber es sieht ganz danach aus. Soweit ich nach erster Untersuchung sagen kann, hängt ein Auge praktisch aus der Augenhöhle, die Nase ist zu Brei geschlagen, zudem gibt es mehrere Schädelfrakturen. An einigen Stellen könnten Knochensplitter in das Gehirn eingedrungen sein.« Burns seufzte. »In gewisser Weise ist es ein Glück für den armen Kerl, dass er tot ist. Wenn er überlebt hätte, wäre er für den Rest seines Lebens als einäugiger Krüppel...