Robijn | Kongo Blues | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

Robijn Kongo Blues

Kriminalroman
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-96054-187-5
Verlag: Edition Nautilus GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Kriminalroman

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

ISBN: 978-3-96054-187-5
Verlag: Edition Nautilus GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



'Mit leiser Traurigkeit und fesselnder Empathie führt uns Kongo Blues direkt in das schmerzvolle Innere des Kolonialismus.' Francesca Melandri Morgan ist Jazzpianist und verdient sein Geld mit gelegentlichen Konzerten in Brüsseler Bars. An seine Kindheit in den Tropen kann er sich kaum erinnern. Als er am ersten Tag des Jahres 1988 von einem Silvesterkonzert nach Hause kommt, findet er eine elegante junge Frau im schwarzen Abendkleid schlafend in der Nähe seines Hauses liegen. Sie würde erfrieren, wenn er sie liegenließe, also denkt er nicht lange nach und trägt sie vorsichtig in seine Wohnung. Sie schläft tief und fest, und als er sie vorsichtig ablegt, fällt ein Umschlag mit einer Million Belgischer Franc aus ihrer Tasche. Als sie am nächsten Morgen zu sich kommt, verrät sie nicht, wer sie ist. Sie geht, aber sie kommt wieder und zieht mit zwei Koffern bei ihm ein, angeblich, weil in Brüssel alle Hotels ausgebucht sind. Ist ihr Zusammentreffen womöglich gar nicht so zufällig, wie es schien? Morgan beginnt, Erkundigungen über Simona einzuholen ...

Jonathan Robijn, geboren 1970 in Gent, studierte Soziologie und Psychologie und arbeitete für Ärzte ohne Grenzen, er schreibt Kurzgeschichten und Romane; sein Debüt 'De stad en de tijd' war 2013 für den Gouden Boukenuil nominiert. 'Kongo Blues' ist sein erster Roman, der auf Deutsch erscheint.

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1
Als Morgan am Neujahrsmorgen gegen sieben Uhr von der Bäckerei De Graaf heimging, sah er sie, zusammengesackt an der Wandbegrünung vor Smolders’ Fahrradwerkstatt. Sie hatte die Knie angezogen, die Arme über Kreuz, ihr Kopf ruhte darauf. Sie trug ein kurzes Kleid und schwarze Nylonstrümpfe, hochhackige Riemenschuhe, einen dicken Mantel und eine schwarze Mütze mit einem Wort darauf, es endete mit »-onix«. Trotz der Kälte hatte sie keine Handschuhe an. Angela. Er erkannte sie sofort, wie sie da zwischen den Kletterpflanzen saß und auf ihn wartete. Ihre Schultern, ihre Hände, in all den Jahren hatte sie sich kaum verändert. Die Straße, die parallel zur Bahnstrecke verlief, war zu dieser frühen Stunde wie leergefegt, die eine Hälfte der Stadt feierte noch den Beginn des neuen Jahrs, die andere Hälfte schlief bereits. In der Ferne konnte man Rangierarbeiten im Bahnhof hören und das Geräusch eines Generators, der eine Wasserpumpe antrieb. In der Luft hing, wie stets, nur der Gestank von Braunkohle, in den sich der Geruch nächtlicher Vergnügungen mengte. Morgan war überrascht, aber er ging weiter, ohne sich nach ihr umzusehen, er nahm an, dass sie in der Silvesternacht zu viel getrunken hatte, was ihr ähnlich sah, doch nach fünfzig Metern drehte er um und lief zurück. Man las in der Zeitung immer wieder von Alkoholikern, die auf einer Parkbank der Kälte zum Opfer gefallen waren. Jedes Jahr gab es einige Betrunkene, die erfroren. Er beugte sich zu ihr herab und berührte ihre Schulter. Zarte, herabhängende Schultern, die traurig wirkten, trotz des dicken schwarzen Mantels, der sie umhüllte. Mit einer Hand umklammerte sie das Knie, die andere Hand war geschlossen, als verstecke sie etwas vor ihm. Wollte sie ihn überraschen? Versteckte sie den Fingerhut, den sie manchmal nachts sein Rückgrat hatte entlanggleiten lassen? Oder die Stimmgabel, die sie an Stellen zum Schwingen gebracht hatte, wo nur er sein Ohr haben durfte? Sie reagierte nicht. Aus der Mütze lugten ihre kornblonden Locken hervor, durch die er so häufig mit den Fingern gefahren war. »Hallo?« Sie atmete ruhig. Es begann zu schneien. »He«, sagte er mit der beruhigenden Stimme eines Mannes, der sich durch nichts und niemanden aus der Fassung bringen lässt, »soll ich einen Krankenwagen rufen?« Keine Reaktion. Er wohnte ein paar Häuser weiter, hundert Meter von der Stelle, wo sie saß, zusammengekauert. Er hatte im ersten Stock eines alten Stadthauses ein Zimmer gemietet, das so klein war, dass er nur selten Gäste empfing. Schon die Vorstellung, »Gäste zu empfangen«, musste einen zum Lachen bringen. Er hatte alles Stück für Stück in Sozialkaufhäusern und auf Trödelmärkten zusammengekauft: einen niedrigen Couchtisch aus Plastik, einen gelben Kunstledersessel, das Bett hatte ein buntes Untergestell, wie man es vielleicht aus Filmen kennt, einen Esstisch, von dem die Farbe abblätterte, vier unterschiedliche Stühle, einen Schrank. Und neben dem Klavier ein Regal mit Schallplatten, die die gesamte Musikgeschichte der letzten zwanzig Jahre umspannten. In dieser Gegend waren die Häuser noch bezahlbar, zweifellos wegen des Lärms der nahe gelegenen Eisenbahn, dieses typischen Denggg, Denggg, Denggg der Reisenden. Smolders behauptete immer, es sei etwas ruhiger geworden in der Gegend, seit die Fabrik geschlossen war, es führen weniger Züge und die größte Plage seien nun die streunenden Katzen und die Junkies, die sich das Areal teilten. Die Nachbarn kannten einander mit Namen, außer Morgan, ihm waren die Nachbarn egal, er kannte nur Herrn Vermeersch, den Hausbesitzer, dessen wichtigste Eigenschaft darin bestand, seine Mieter in Ruhe zu lassen, solange sie regelmäßig bezahlten und es auf seinem Grund nicht zu gröberen Gesetzesverstößen kam. Den jungen Mann, der unten ein regelrechtes Bordell betrieben hatte, hatte er mit einigen knappen, wohlgewählten Worten vor die Tür gesetzt. Herr Vermeersch duldete alles, solang es die Grenzen des Anstands nicht verletzte, er stellte keinerlei Fragen. Er war wohl dreißig, vielleicht sogar jünger, Ende zwanzig, immer sportlich gekleidet, unrasiert und mit einem Haarschnitt, von dem die Prinzen nur träumen konnten. Er stand nie unangemeldet vor der Tür, grüßte freundlich, wenn er Morgan im Treppenhaus begegnete, und klagte nur selten über die schwindelerregende Menge von Gerümpel, das sich im Hof hinter dem Haus stapelte, wenn der Sommer zu Ende ging, oder die gelegentlich recht ausschweifenden nächtlichen Aktivitäten einiger Mieter. Manche davon lebten über Jahre im selben Zimmer, andere blieben nur ein paar Wochen. »Hallo?«, sagte er jetzt etwas lauter. »Es schneit. Du kannst hier doch nicht sitzen bleiben.« Immer noch keine Reaktion. Sie ihrem Schicksal überlassen? Das brachte er nicht übers Herz. Er sah es schon in der morgigen Zeitung stehen: »Junge Frau erfroren. Nachbarn haben angeblich nichts gesehen.« »Und Sie, mein Herr?« Das rote Lichtchen oben an der Kamera, das Mikrofon in Brusthöhe, er sah es schon vor sich. Er stellte die Tüte mit dem Brot ab, packte die junge Frau unter den Armen und richtete sie auf. Ungeachtet der frühen Morgenstunde rief sie in ihm die Erinnerung an einen Stapel an der frischen Luft getrockneter Wäsche hervor, derselbe Geruch wie damals. Sie war schlank und etwas größer als er, und als sie seinen Griff um ihre Taille spürte, schlang sie die Arme um ihn. Es war wohl ein Reflex, unwillkürlich, wie wenn das Knie sich streckt, weil der Arzt mit einem Hämmerchen dagegenschlägt. Mit viel Mühe gelang es ihm, sie die Treppe hinaufzuschleppen, ohne sie oder das Brot fallen zu lassen und ohne die anderen Bewohner des Hauses aufzuwecken. Als er den Zimmerschlüssel suchte, entglitt ihm die junge Frau beinahe doch noch. Kurz darauf lag sie auf dem Bett. Wenige Augenblicke später drehte sie sich auf die Seite und zog die Beine an. Er nahm ihr Schuhe und Mütze ab. Ihre Widerspenstigkeit – da war sie wieder, er bemerkte sie in ihren blonden Haaren, die viel länger waren, als es unter der Mütze den Anschein gehabt hatte, an der makellosen weißen Haut, den dünnen Augenbrauen, den feinen Lippen mit Resten von Lippenstift in den Mundwinkeln, der spitzen Nase und dem Streifen auf der linken Wange, offensichtlich ein Abdruck des Mantels, auf dem ihr Kopf gelegen hatte. Auf ihren Wangen hatte die Kälte einen blassroten Ton hinterlassen, und auch ihre zarten Finger waren rot von der Kälte, die Klavierfinger, die so oft über die höchsten Akkorde geglitten waren, während er sich der unteren Oktaven angenommen hatte. Was ihn aber am meisten erstaunte, war die Sorglosigkeit, mit der sie dort auf dem Bett lag. Ein junger Vogel, der eben etwas verfrüht seiner Mutter aus dem Nest gepurzelt war, das war’s, woran sie ihn erinnerte. Sie atmete tief ein und aus. Kein Alkoholgeruch. Er fand im Schrank eine Decke und breitete sie über sie. Gerade als er sich abwenden wollte, um endlich zu frühstücken oder den Rettungsdienst anzurufen oder aus dem Fenster zu schauen, den Schneeflocken zuzusehen und dabei zu überlegen, was er mit ihr anstellen sollte, fiel ein Briefumschlag auf den Boden. Ein einfacher, länglicher weißer Umschlag ohne Briefmarke, ohne Empfänger oder Absender, aber viel dicker als die Briefe, die er bekam. Eigentlich bekam er nie Briefe, nur Rechnungen. Er bückte sich, um den Umschlag aufzuheben. Er war nicht zugeklebt. Es waren 10.000-Franc-Scheine darin, vier Bündel, auf der Banderole eines Bündels las er: 25 x 10.000 Bfr. Vier Bündel, hundert 10.000-Franc-Scheine, eine Million, in einem weißen Briefumschlag, in der Manteltasche eines Mädchens, das vielleicht zwanzig war und am Neujahrstag an einer Mauer eingeschlafen war, während es zu schneien begann. Na klar, dachte er, Silvester, da braucht man Geld. Sie bemerkte nichts, sie schlief. Er sah, dass die Manteltasche, in der sich das Geld befunden hatte, mit einem Knopf verschlossen wurde, und ihm war klar, dass der Knopf auf dem Weg von Smolders’ Fahrradwerkstatt zu seinem Zimmer aufgegangen sein musste. Er verschloss den Umschlag wieder, steckte ihn in die Manteltasche und schob den Knopf durch das Knopfloch. Es war schon beinahe Mittag, als sie endlich aufwachte. Sie setzte sich auf und schüttelte, wie es sich für einen Jungvogel gehört, mit einem unwillkürlichen Schauder das Gefieder aus. Morgan hatte den ganzen Vormittag dagesessen und sie genau angesehen, hatte Züge an ihrem Körper und in ihrem Gesicht wahrgenommen, die ihm auf den ersten Blick entgangen waren, hatte andächtig ihrem Atem gelauscht und sich gefragt, wie es möglich war, dass jemand, der Angela so ähnlich sah, auf einmal in seinem Bett gelandet war. Sie hatte tief geatmet, ruhig und unbesorgt. Ein- oder zweimal hatte sie ein Geräusch gemacht, ein sanftes, klägliches Geräusch, ein Stöhnen, aber nicht beunruhigend oder erschreckend, wahrscheinlich hatte sie von ihrer Vogelmama geträumt. Die blassrote Färbung war von ihren Wangen gewichen, sie hatte eine leicht gebräunte Haut, die die hohen...


Jonathan Robijn, geboren 1970 in Gent, studierte Soziologie und Psychologie und arbeitete für Ärzte ohne Grenzen, er schreibt Kurzgeschichten und Romane; sein Debüt "De stad en de tijd" war 2013 für den Gouden Boukenuil nominiert. "Kongo Blues" ist sein erster Roman, der auf Deutsch erscheint.



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