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E-Book

E-Book, Deutsch, 448 Seiten

Ritter Notizhefte


10001. Auflage 2010
ISBN: 978-3-8270-7200-9
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 448 Seiten

ISBN: 978-3-8270-7200-9
Verlag: Berlin Verlag
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Die Lieblingsepoche des Autors ist fraglos das 18. Jahrhundert der Rousseau und Montesquieu, gerade wegen der Geständnisfreude, mit der es seine Leidenschaften bekennt. Vor allem aber interessiert ihn die geistige Konkurrenz zwischen den Epochen und Traditionen, das Unerledigte der Vergangenheit, ihre Lektionen; und die Gegenwart, als zuletzt kommende, wird um ihre scheinbare Überlegenheit gebracht, alle Perioden erhalten die gleiche Chance. Und so entsteht ein Gespräch zwischen den unabhängigsten Köpfen von der Aufklärung bis heute, von Montaigne bis Nietzsche und Darwin, von Büchner bis Canetti, Jünger und vielen anderen - ein Füllhorn voller immer wieder überraschender Lesefrüchte, Entwürfe, Maximen und Reflexionen; mit wiederkehrenden Motiven und Themen, wie etwa (unter dem Stichwort „Deutsche Dinge') die beständigen Eigenarten der Deutschen, die Rolle von Mitleid und Erinnerung in der heutigen Gesellschaft oder die Konkurrenz von Politik und Kultur in der deutschen Geschichte. Die Notizen bewegen sich zwischen der lakonischen Knappheit des Aphorismus und dem Kurzessay; Spontaneität und Zufall sind ihr Signum, und sie sind ungeplant, notiert in ein Heft, das jederzeit zur Hand war. Es sind, um mit einer seiner schönen Trouvaillen zu sprechen, „Denksteine, die um und um gewendet werden müssen' (Goethe), Gedanken im Wartestand, die darauf warten, dass Autor und Leser sich ihnen zuwenden, um Gebrauch von ihnen zu machen. Henning Ritters Notizhefte sind ein sehr persönlicher Beitrag zur Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Denken im Spiegel einer unvermutet aktuellen Vergangenheit.

Henning Ritter (1943 - 2013) war von 1985 bis 2008 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung verantwortlich für das Ressort »Geisteswissenschaften«. Zahlreiche Publikationen, u.a. als Herausgeber von Jean-Jacques Rousseaus Schriften und Montesquieus Meine Gedanken. Mes pensées - Aufzeichnungen; zuletzt veröffentlichte er »Nahes und fernes Unglück. Versuch über das Mitleid« (2004) und »Die Eroberer. Denker des 20. Jahrhunderts« (2008). Im Jahre 2000 wurde ihm die Ehrendoktorwürde der Universität Hamburg verliehen, er ist Träger des Friedlieb-Ferdinand-Runge-Preises und des Ludwig-Börne-Preises.
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Die Lehre vom Zufall ist die neue Lehre vom Schöpferischen.

»Wir sind geschaffen, einander anzusehen«, sagt der alte Degas.

»Es hätte Deutschlands Jahrhundert werden können«, sagte Raymond Aron im April 1979 in Berlin zu Fritz Stern, als sie gemeinsam zu einer Ausstellung aus Anlaß des hundertsten Geburtstags von Einstein, Hahn, von Laue und Meitner gingen. Aron habe dieses Scheitern bedauert. Die Erwartung selbst entspringt noch einer Denkweise des neunzehnten Jahrhunderts: dem Hegelschen Gedanken, daß der Weltgeist sich der verschiedenen Nationen als Durchgangsstufen seiner Verwirklichung bedient. Die späte Fassung dieses Gedankens bei Jacob Bernays, der das kommende »Weltalter« des Liberalismus als das deutsche sah, geht aus denselben Bedingungen hervor, die auch Aron ins Auge faßte. Deutschland schien über alle Voraussetzungen für eine erfolgreiche liberale Gesellschaft zu verfügen. Das übrige brauchte sich nur noch zu finden.

Der Kult der Authentizität im Zeitalter der Reproduzierbarkeit läuft hinaus auf eine Playback-Authentizität, die dem Reproduzierten das Siegel einer vorgetäuschten Echtheit verleiht, indem die Reproduktion mit einem untergeschobenen Hier und Jetzt angereichert wird. Es ist eine Verwechslungskomödie von Echt und Falsch, in der das Unechte die Gefühle auf sich zieht, die dem Echten gelten sollten. Die literarische Authentizität findet ihre Erfüllung in der erfundenen Selbstbiographie, in der Ausmalung eines erdachten Lebens.

Eine der nachhaltigsten Wirkungen der Dreyfusaffäre ging von dem erbärmlichen Eindruck aus, den der Oberst Dreyfus machte, der nicht verstand, wie ihm geschah, und darin an K. in Franz Kafkas »Prozeß« erinnert. Clemenceau und andere haben berichtet, daß dies wie ein Schock wirkte über die Aushöhlung eines stolzen Volkscharakters durch die Anstrengung, sich in die moderne Gesellschaft einzuordnen. Die Wehrlosigkeit des Opfers schockierte die Juden Europas, als sie auf ihren Dreyfus blickten. Wie bei Herzl setzte in diesem Augenblick eine Besinnung ein. Auf der einen Seite standen diejenigen, die bereit waren, den Preis für die Aufnahme in die moderne Gesellschaft zu entrichten. Sie opferten ihren Stolz und die Charakterstärke, mit der sich die Juden viele Jahrhunderte lang in widrigen Umgebungen erhalten hatten. Auf der anderen Seite standen diejenigen, die den Ruf vernahmen, aufzuwachen und sich an ihren alten Stolz zu erinnern. Sie folgten Theodor Herzl.

Beiden gegenüber gab es eine Schicht, die den Preis der Modernität für unausweichlich hielt und ihn dennoch nicht zahlen wollte: Das war die Schicht der kleinen Leute, die eine ihnen verheißene Zukunft zum Greifen nahe sahen, aber nicht wußten, wie sie dorthin gelangen konnten. Sie glaubten einen Ausweg darin zu finden, daß sie sich jene entwurzelten und anpassungsbereiten Juden zu Opfern ausersahen. Indem das Kleinbürgertum deren Vernichtung phantasierte, gelang es ihm, den unerträglichen Aspekt seiner eigenen Lage erträglicher zu machen. In der grausamen Tat entfesselten sie noch einmal jene vormoderne und gegen die Moderne gerichtete Wildheit, deren endgültige Preisgabe von der modernen Gesellschaft gefordert wurde. In die Zukunft drängen, nicht wissen, wie man dahin gelangen kann, und alles zerstören, was einen auf diesem Weg behindern könnte, das sind die Voraussetzungen für die Barbarei.

Wissenschaft kann zwischen Wichtigem und Unwichtigem nicht unterscheiden.

Der Kränkung der Eitelkeit des Menschen durch Darwins Theorie geht eine von ihm selbst erlittene Kränkung voraus: die Enttäuschung seines Kinderglaubens, den er sich über die Zeit hatte bewahren wollen und der endgültig zerbrach, als eines seiner Kinder starb. Lange Zeit hatte Darwin seinen radikalen Materialismus mit einer konventionellen frommen Haltung vereinbaren können und tat als Autor seiner Werke alles, um solche frommen Kompromisse nicht unmöglich zu machen. Vielleicht war der Schock durch den Tod des Kindes deshalb so heftig, weil er nicht Darwins eigentliche Überzeugung, sondern die Fassade traf, die er an deren Stelle errichtet hatte.

Am Ende war seine Stellungnahme radikaler als Nietzsches »Gott ist tot«. Denn dieses Wort geht nicht wesentlich über die Ansicht der Materialisten hinaus, die Gott nicht finden können und allenfalls die Ausflucht zulassen, er stecke im Detail. Die von Darwin gewonnene Einsicht ist ungewöhnlicher, denn sie hält die Schöpfung einem Gott nicht für zumutbar. Allerdings liegt darin auch ein philisterhafter Zug, wenn man Gott nicht zumuten mag, was die Natur beispielsweise in manchen Befruchtungsvorgängen zeigt. Da wirkt Darwins Gott wie ein braver Landpfarrer. Darwins Einsicht, ernster gewendet, schließt den Nachweis der Unmöglichkeit ein, die Natur überhaupt in eine moralische und religiöse Ordnung einzufügen. Sie ist in manchen ihrer Erscheinungen so abstoßend, daß es sich verbietet, sie für die Schöpfung Gottes zu halten.

Der junge Stendhal denkt sich ein Verfahren aus, alles aufzuzeichnen, was man denkt. Da der Mensch rascher denkt, als er spricht, stellt er sich einen Menschen vor, der ebenso schnell sprechen kann wie denken und fühlen und der einen Tag lang alle seine Gedanken und Gefühle ausspricht, so daß ein unsichtbarer Stenograph, der ebenso schnell schreiben könnte, alles aufzeichnet. Wenn dieser Stenograph nun alles in gewöhnliche Schrift übertrüge, hätte man das vollständige Charakterbild eines Menschen an einem einzigen Tag. Es wäre so ähnlich, wie es nur sein kann. Würde man in dieser Weise über alle Tage eines Jahres das präzise Protokoll eines Menschen aufnehmen, dann würde sich durch Wiederholung allmählich eine Struktur erkennen lassen, die von der Vollständigkeit der Darstellung dispensiert.

Stendhal entwirft ein Zukunftsbild der Malerei, das einer Utopie nahe kommt: »Es ist denkbar, daß es in ein paar Jahrhunderten eine Schule der Malerei gibt, die in ihrer Zeichnung der gegenwärtigen französischen Schule gleicht, das Licht wie der Venezianer sieht und schließlich noch alle Nuancen der Leidenschaft zum Ausdruck bringt: jungfräuliches Sujet.« Er hat sich geirrt. Anstatt die Eigenschaften der verschiedenen Schulen zu addieren, hat die Malerei sie subtrahiert.

Für Stendhal ist klar, daß im Geschmacksurteil immer ein agonaler Antrieb steckt, der Versuch, das Urteil eines anderen zu verdrängen, sich an seiner Stelle zu behaupten. Deswegen lassen sich Geschmacksurteile letztlich nicht vergleichen, es gibt zwischen ihnen keinen Kompromiß. Entscheidend ist die Übereinstimmung des Urteilenden mit sich: die Echtheit des Geschmacksurteils. Aus dieser Vorstellung ergibt sich die Idee der »happy few«: »Es gibt in Europa vielleicht acht oder zehn Personen, die genauso urteilen wie ich. Ich liebe sie, ohne sie zu kennen.« Die Welt ist aufgeteilt in die wenigen, die gleich empfinden, und die vielen, die anders empfinden.

Zu den überraschendsten Feststellungen der jüngsten Historiographie gehört die These, daß das achtzehnte Jahrhundert als ein christliches Jahrhundert erscheinen könne. Die Verkündigung sei intensiv gewesen, die Christianisierung erfolgreich und die Priester hätten großen Einfluß gehabt. Das würde die Intensität der Herausforderung erklären, mit der die Philosophen der christlichen Kirche entgegentraten. Auch die pünktliche Entsprechung, mit der sich nichtchristliche Rituale an die Stelle der christlichen setzten, würde dann auf die Lebendigkeit des christlichen Rituals verweisen, das auf sein allgemeines religiöses Skelett reduziert und sogar den ideologischen Zwecken der revolutionären Politik angepaßt werden konnte.

Auf die Geschichte von unten, die eine erste Form unschuldiger Geschichte sein wollte, folgt die Geschichte der Opfer. Schon bei Jacob Burckhardt findet sich (an Friedrich von Preen, 13. Juli 1877) ein kräftiges Wort gegen die Täter und für die, die wir »Opfer« nennen würden: »Und die Leidenden und Duldenden dürfen nie den Tätern so recht eines über die Schnauze schlagen, und wenn ein solcher Täter endlich einmal richtig in die Klemme gerät, erscheint etwa gar ein Täter von oben und hält eine rettende Rede.« Wohl als erster faßt Burckhardt eine Geschichte der Leidenden ins Auge. Darin liegt ein Vorbehalt gegen das Geschichtliche, ein tiefer Pessimismus und eine Verachtung der Geschichte. Oft sieht man nur die Ablehnung der Geschichtsphilosophie, die eine Narbe der theologischen Anfänge Burckhardts und seiner von ihm selbst unterdrückten philosophischen Interessen war. Aber in Wirklichkeit war Burckhardt Philosoph – trotz seiner Schmähungen der Philosophie. Die düstere Abrechnung der Dinge war seine Philosophie.

Marcel Duchamp erfindet ein Verfahren, beliebiges in Kunst zu verwandeln. Es gelingt ihm ohne Alchemie und ohne zu den Dingen etwas hinzuzutun. Die Dinge bleiben, was sie sind, und werden doch etwas ganz anderes. Das eröffnet ein Feld unbeschränkter Möglichkeiten, das er allerdings nicht ausschöpft. Er verhält sich zu den Dingen vielmehr wie ein Asket. Das Verfahren ist scheinbar einfach und doch schwer nachzuahmen. Duchamp unterscheidet sich von seinen Nachahmern durch eine besondere Disziplin und Intelligenz. Das zeigt auch seine Zusatzerfindung: die Reproduktion von Werken, die keineswegs Originale im herkömmlichen Sinne sind. Viele Jahre lang hat Duchamp nur bestimmte Arten von...


Ritter, Henning
Henning Ritter (1943 - 2013) war von 1985 bis 2008 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung verantwortlich für das Ressort »Geisteswissenschaften«. Zahlreiche Publikationen, u.a. als Herausgeber von Jean-Jacques Rousseaus Schriften und Montesquieus Meine Gedanken. Mes pensées - Aufzeichnungen; zuletzt veröffentlichte er »Nahes und fernes Unglück. Versuch über das Mitleid« (2004) und »Die Eroberer. Denker des 20. Jahrhunderts« (2008). Im Jahre 2000 wurde ihm die Ehrendoktorwürde der Universität Hamburg verliehen, er ist Träger des Friedlieb-Ferdinand-Runge-Preises und des Ludwig-Börne-Preises.



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