E-Book, Deutsch, Band 215, 64 Seiten
Reihe: Lore-Roman
Ritter Lore-Roman 215
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7517-8762-8
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dr. Kathrins Schweigepflicht
E-Book, Deutsch, Band 215, 64 Seiten
Reihe: Lore-Roman
ISBN: 978-3-7517-8762-8
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dr. Kathrin Lambert ist Ärztin geworden, um Menschen zu helfen, sie zu heilen. Und doch kann sie trotz aller Bemühungen nichts für den Menschen tun, der ihr am wichtigsten ist: ihre Mutter. Ihr Leben lang hat Frau Ingeborg dafür geschuftet, dass Kathrin studieren konnte, ist unsagbar stolz auf ihre Tochter - und jetzt, nach einem Unfall, ist sie durch eine unheilbare Rückenmarkslähmung dazu verurteilt, ihr Dasein bewegungsunfähig und ans Bett gefesselt in einer kargen Behausung zu fristen. Nur die Morphiumspritzen, die Kathrin Abend für Abend aus der Klinik mitbringt, erleichtern Frau Ingeborg für einige Stunden ihr Leiden. Nicht nur einmal äußert sie dann den Wunsch, Kathrin möge ihr doch einfach etwas mehr von dem erlösenden Gift verabreichen - endlich schlafen, für immer ... Doch Kathrin hat wie alle Ärzte einen Eid geschworen: 'Niemandem werde ich ein tödliches Gift verabreichen oder auch anraten, selbst wenn er mich darum bittet.' Wird sie den Schwur halten können?
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Dr. Kathrins Schweigepflicht
Roman um das Schicksal einer Assistenzärztin
Von Ina Ritter
Dr. Kathrin Lambert ist Ärztin geworden, um Menschen zu helfen, sie zu heilen. Und doch kann sie trotz aller Bemühungen nichts für den Menschen tun, der ihr am wichtigsten ist: ihre Mutter. Ihr Leben lang hat Frau Ingeborg dafür geschuftet, dass Kathrin studieren konnte, ist unsagbar stolz auf ihre Tochter – und jetzt, nach einem Unfall, ist sie durch eine unheilbare Rückenmarkslähmung dazu verurteilt, ihr Dasein bewegungsunfähig und ans Bett gefesselt in einer kargen Behausung zu fristen.
Nur die Morphiumspritzen, die Kathrin Abend für Abend aus der Klinik mitbringt, erleichtern Frau Ingeborg für einige Stunden ihr Leiden. Nicht nur einmal äußert sie dann den Wunsch, Kathrin möge ihr doch einfach etwas mehr von dem erlösenden Gift verabreichen – endlich schlafen, für immer ... Doch Kathrin hat wie alle Ärzte einen Eid geschworen: »Niemandem werde ich ein tödliches Gift verabreichen oder auch anraten, selbst wenn er mich darum bittet.« Wird sie den Schwur halten können?
Fast jeder Mensch schwört im Laufe seines Lebens einmal einen Eid. Vor Gericht, als Soldat, es gibt viele Möglichkeiten und Anlässe.
Auf jeden Fall schwört jeder Arzt den Eid des Hippokrates. Er schwört bei Apoll, dass er zum Heile der Kranken arbeiten will, so gut er es kann und weiß.
Er schwört: »Niemandem werde ich ein tödliches Gift verabreichen oder auch anraten, selbst wenn er mich darum bittet.«
Ein Arzt will helfen, deshalb ist er ja Arzt geworden.
Auch Kathrin Lambert hatte vor drei Jahren diesen Schwur nachgesprochen: »Ich will niemanden töten, auch wenn er mich darum bittet ...«
Vor einem Arzt hat man keine Geheimnisse, ihm kann man das Allerletzte anvertrauen, weil man weiß, dass er sein Wissen nur zum Nutzen und Frommen der Kranken anwendet. Deshalb der Eid des Hippokrates.
Und wenn ein Arzt dagegen verstößt ...?
***
Der Straßenbahnwagen rüttelte Kathrin Lamberts müden Körper hin und her. Mit geschlossenen Augen stand die junge Ärztin im Mittelgang und umklammerte automatisch die Haltestange, um nicht umzufallen.
Gestern hatte sie wieder Nachtdienst gehabt, dann musste sie den ganzen Tag arbeiten, und jetzt, es war schon spät, die Dunkelheit längst hereingebrochen, fuhr sie erst nach Hause.
»Goethestraße ...«
Kathrin schreckte aus ihrem Dahindämmern auf und drängte sich zum Ausgang.
Die frische Luft auf der Straße tat der jungen Frau gut. Sie sog sie in tiefen Zügen in ihre Lunge, ihr Kopf wurde wieder ein wenig klarer, und etwas von der bleiernen Müdigkeit, die ihren Schädel zusammenpresste und das Denken erschwerte, verschwand.
Die Bahn fuhr kreischend um die Ecke, als Kathrin mit schnellen Schritten die Straße hinuntereilte. Hohe graue Mietshäuser, deren Fenster zum Teil noch mit Pappe vernagelt waren, ab und zu eine Ruine, die gespenstisch leer zum Himmel ragte, auf den Trümmern Unkraut, das hier prächtig gedieh und den Schutt und den Schmutz gnädig verdeckte.
Kathrin beachtete ihre Umgebung nicht. Sie wollte nach Hause, schlafen, vergessen.
Die Haustür quietschte in den Angeln. Niemand machte sich die Mühe, die Scharniere zu schmieren, denn das Haus war keinem mehr ein Heim, nur ein Dach über dem Kopf, nichts weiter.
Kathrin wohnte im vierten Stock, hatte dort ein Zimmer mit ihrer Mutter zusammen, einen immer dunklen Raum, dessen einziges Fenster auf die teerbestrichene Wand des Nachbarhauses zeigte. Aber sie musste froh sein, dass sie wenigstens dieses Zimmer hatte. Andere wohnten noch viel schlechter, und ihre Mutter brauchte Ruhe und Pflege, vor allem Pflege.
Die junge Frau presste ihre Handtasche fest unter den linken Arm, als sie mit der rechten Hand den Schlüssel ins Schloss führte. Der durchdringende Geruch nach Kohl schlug ihr auf dem kleinen Flur entgegen, von dem die Zimmer abgingen, fast alle von Familien bewohnt, die die Küche gemeinsam benutzten.
Vierundzwanzig Stunden Dienst lagen hinter ihr, sie war zum Umfallen müde und musste jetzt doch ein frisches und zuversichtliches Lächeln auf ihr Gesicht legen, sie musste Frohsinn ausstrahlen, sich zusammenreißen, um das Zimmer betreten zu können.
Es war ärmlich eingerichtet, aber peinlich sauber. Kathrins erster Blick fiel wie immer auf das Bett, auf ihre Mutter, die bei ihrem Eintritt den Kopf gedreht hatte und ihr entgegenschaute.
Die junge Ärztin stellte ihre Tasche auf den Holztisch, zog ihren Mantel aus und hängte ihn sorgfältig auf einen Bügel. Es war ihr einziger Mantel, und sie mochte nicht an den Winter denken, für den er viel zu dünn war.
»Wie geht es dir, Muttchen?«
Sie zwang sich zur Munterkeit, als sie an das Bett trat und über die fahlen blaugeäderten Hände strich, die sich nicht hoben, um sie zu begrüßen.
»Gut«, flüsterte die Frau, deren Haar schlohweiß war.
Ihre blutleeren Lippen hoben sich kaum von der fahlen Haut ab, bewegungslos lag sie im Bett und schaute zu ihrer Tochter empor.
Ein Flehen lag in diesem Blick, und Kathrin beantwortete die nicht ausgesprochene Frage durch ein Kopfnicken. Sie wandte sich hastig um, und ihre Lippen zuckten, als würde sie gleich zu weinen beginnen, als sie ihre Handtasche öffnete und eine Ampulle herausnahm.
Jeden Tag wiederholte sich diese Szene: Als Erstes gab sie der Mutter eine Spritze – Morphium, das kostbare, lebenszerstörende Medikament, das nicht half, sondern nur linderte.
Frau Ingeborgs scharfe Züge entspannten sich allmählich, als das Medikament zu wirken begann. Ihr rasselnder Atem wurde gleichmäßiger, sie verzog den Mund sogar zur Andeutung eines Lächelns.
»Danke«, flüsterte sie.
Fast ein Dreivierteljahr hatte sie im Krankenhaus gelegen, auf Kathrin Lamberts Station, und dann hatte sie entlassen werden müssen, weil man das Bett brauchte.
»Ich verstehe, was in Ihnen vor sich geht, Kollegin«, hatte der Chef, Professor Schiller, anteilnehmend gemeint und Kathrin seine Hand auf die Schulter gelegt. »Aber es muss sein, die Betten sind so knapp, und ... Sie wissen selbst am besten, dass wir Ihrer Frau Mutter nicht helfen können. Sie kann zu Hause ebenso gut liegen wie hier.«
Kathrin begann hastig, das Zimmer zu säubern, mit dem Staubtuch in der Hand wischte sie über die Möbel.
»Du arbeitest zu viel, Kathrin«, klagte Frau Ingeborg mit brüchiger Stimme.
Früher hatte sie anders gesprochen. Früher ... wie lange lag das schon zurück! Das war zu der Zeit, als die Mutter für Kathrin arbeitete, ihr das Studium ermöglichte, mit ihr zusammen von der Zukunft träumte.
Aber da war sie noch gesund gewesen – und jetzt gelähmt. Ihr Rückenmark war verletzt worden, und es gab keine Möglichkeit, es wieder zu heilen.
War das ein Leben? Vierundzwanzig Stunden am Tag lag sie hier im Bett, allein mit sich und ihrer Verzweiflung, die immer größer wurde, denn Frau Ingeborg wusste um ihren Zustand ganz genau Bescheid.
Kathrin war Ärztin geworden, und nur die Mutter allein wusste, mit wie vielen Opfern und Entbehrungen ihr Studium erkauft worden war.
Der Vater war viel zu früh gestorben, Frau Ingeborg hatte arbeiten müssen, und weil sie nichts gelernt hatte, blieb ihr nur übrig, für einen kargen Lohn Büroräume zu säubern.
Aber sie wusste wenigstens, wofür sie lebte, sie hatte ein Ziel. Kathrin war begabt, und Frau Ingeborg erinnerte sich noch gut an ihren Stolz über die spielerische Leichtigkeit, mit der ihre Tochter das Abitur gemacht hatte.
Und sie hatte es geschafft: Kathrin Lambert, ihre Tochter, war Ärztin geworden ...
Im Zimmer war es inzwischen ganz dunkel. Kathrin drehte den Lichtschalter herum, aber die Birne an der Decke flammte nicht auf.
»Stromsperre, Kind«, erklärte Frau Ingeborg. »Hast du schon gegessen?«
Kathrin nickte. Oberschwester Luise sorgte dafür, dass sie aus der Gemeinschaftsküche mitversorgt wurde, es war eine große Erleichterung für sie, dass sie nach ihrer Heimkehr nicht mehr zu kochen brauchte. Das, was sie auf Marken bekam, konnte sie für die Mutter lassen, und es war trotzdem noch wenig genug.
Eine halbe Stunde später lag sie im Bett, und während Frau Ingeborg keinen Schlaf finden konnte, hatte Kathrin kaum noch die Kraft, die Decke hochzuziehen, da war sie schon eingeschlafen.
Frau Ingeborg schaute zur Seite, den Kopf konnte sie noch drehen, sie sah, dass die Decke von Kathrins Schulter heruntergeglitten war. Das Kind würde frieren, und sie ... sie konnte sich nicht zu ihr hinüberbeugen und die Decke in die Höhe ziehen, wie sie es früher immer getan hatte.
Warten, das war das einzige, was ihr geblieben war. Ein Leben lang Arbeit und Mühe für ihr Kind, und dann, als sie glaubte, es geschafft zu haben, da war plötzlich alles ganz anders. Es war schwer für Frau Ingeborg, nicht mit dem Schicksal zu hadern.
Die Geräusche im Hause verstummten allmählich.
Es wird nach Mitternacht sein, wusste die alte Frau, denn vorher gab es...