Ritter | Die Wiederkehr der Wunderkammer | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Ritter Die Wiederkehr der Wunderkammer

Über Kunst und Künstler
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-446-24585-3
Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Über Kunst und Künstler

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-446-24585-3
Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
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Das Kunstmuseum, eine der erfolgreichsten Erfindungen der europäischen Kulturgeschichte, durchlief eine dramatische Entwicklung. An seinem Beginn stand die Auflösung der Wunderkammer fürstlicher Provenienz. Erst in der Zeit der Französischen Revolution, als Vandalismus die Kunst bedrohte und Napoleons Kunstraub Gemälde und Statuen aus ganz Europa nach Paris brachte, fand es im Louvre zu einer vorläufigen Form. Am Beispiel der Museumsinsel in Berlin zeigt Ritter schließlich die kontroverse Geschichte des Museumsgedankens selbst. So sollte ausgerechnet die Integration von Gegenwartskunst - in diesem Fall jener des späten 19. Jahrhunderts - dem Museum als Hort und Symbol der Vergangenheitsbewahrung neues Leben einhauchen.

Henning Ritter, 1943 geboren, starb 2013 in Berlin. Von 1985 bis 2008 verantwortete er das Ressort Geisteswissenschaften der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Zuletzt veröffentlichte er Notizhefte (2010), für die er 2011 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde, Verehrte Denker (2013) und Die Schreie der Verwundeten (2013).
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DAS ENDE DES ALTEN SAMMELNS
  
Von der Wunderkammer
zum Museum


»Wir haben interessante Sachen gesehen«, vermerkte Goethe lakonisch, nachdem er die Braunschweiger Sammlungen besichtigt hatte. Er gehörte zu dem Publikum, das sich seit der Öffnung des Kunst- und Naturalienkabinetts der braunschweigischen Herzöge im Jahre 1754 dort einfand. Es waren Neugierige mit weitem Rayon, die sich für antiquarische Raritäten und Naturkunde, für »artificialia« und für »naturalia«, für Kunst und Kuriositäten gleichermaßen zu interessieren vermochten. Die braunschweigische Sammlung bot von all diesem und von unübersehbar vielen anderen unterhaltenden und belehrenden Sachen in Schränken und Schubladen genug, um in das europäische Itinerar der Kavaliersreisen und der Grand Tour aufgenommen zu werden.
Lessing war hier, auch sein Kontrahent Goeze, auch James Boswell 1764 auf der durch sein Tagebuch dokumentierten Reise durch Deutschland, auch der junge Hamilton, der große Sammler und noch größere Verkäufer von selbstentdeckten Altertümern – das Britische Museum kaufte seine berühmte Vasensammlung komplett für eine bedeutende Summe. In Braunschweig fand er den Weg zu einem prospektiven Abnehmer, dem er später seine herculaneischen Altertümer und antiken Vasen anbieten konnte. Hamiltons Besuch ist denkwürdig auch deswegen, weil sein Sekretär eine so eindrucksvolle Extravorstellung der Gelangweiltheit vor den exquisiten Objekten bot, daß sich die Nachricht davon bis heute erhalten hat.
Als Goethe 1784 die Sammlung besuchte, war er alles andere als ein gelangweilter Betrachter. Er gehörte zu dem Kreis von Kennern, der nach Objekten Ausschau hielt, die für die eigenen Interessen und Forschungen bedeutsam waren. Worum ging es in diesem Fall? An seinen Freund Merck hatte Goethe vor seiner Reise geschrieben: »Ich will auch in Braunschweig dem ungeborenen Elefanten in das Maul sehen und mit Zimmermann ein wackeres Gespräch führen. Ich wollte, wir hätten den Fötus, den sie in Braunschweig haben, in unserm Kabinette, er sollte in kurzer Zeit seziert, skeletiert und prepariert sein.« So konnte nur ein naturkundlicher Experte sprechen, der sich von den Objekten, die anderen kurios erschienen sein mochten, einen Gewinn an Einsicht versprechen durfte – und sei es einen Hinweis auf den Zwischenkieferknochen beim Elefanten.
Der Braunschweiger Naturforscher Zimmermann, der eine Monographie über den seiner Auffassung nach drei Monate alten Elefantenembryo verfaßt hatte, mußte für Goethe der ideale Gesprächspartner sein, dessen Interesse durch den Anblick des eingelegten Tiers zweifellos nicht befriedigt werden konnte. Weniger am Seltenheitswert war ihm gelegen als an den Auskünften, die allenfalls das sezierte Tier zu geben vermöchte. Wie andere Sammlungsbesucher brauchte auch er gelehrten Rat, um aus dem Gesehenen Nutzen zu ziehen. Die Gegenstände der Kunst- und Naturaliensammlung sprachen nicht für sich selbst. Man mußte Kenntnisse gewinnen über ihren wahren Wert, ihre Seltenheit, die abenteuerlichen Wege, die sie durchlaufen hatten, und über die gelehrten Bewandtnisse.
Die Sammlungen selbst warfen unabsehbare und nie gelöste Probleme der Ordnung und Klassifikation auf, in Braunschweig nicht anders als in den anderen Kunst- und Wunderkammern, die seit der frühen Neuzeit für den Stil des gelehrten Sammelns in Europa bestimmend geworden waren. Der Ruf der berühmtesten Sammlungen beruhte auf Objekten von fast mythischer Qualität. Der Sammler, der sich einen Namen machen wollte, mußte etwas Unvergleichliches besitzen, in Braunschweig war dies das im Dreißigjährigen Krieg in Mantua geraubte sogenannte Mantuanische Onyxgefäß, angeblich Salböl von König Salomon oder auch der deutschen Kaiser enthaltend, geschmückt mit antiken Göttergestalten im seltenen Hochschliff, die zu endlosen Erklärungen Anlaß gaben – ein mythisches Objekt, das sein Prestige der Ungewißheit seiner Herkunft verdankte und noch am Ende des Zweiten Weltkriegs dazu gedient haben soll, wegen seines hohen Wertes die Beschießung des Schlosses abzuwenden.
In Sammlungen dieser Art herrschte jene Unübersichtlichkeit, deren Bewältigung Generationen von meist aristokratischen Sammlern überall in Europa in Atem hielt, bis Archäologie, Geschichte und Naturkunde zu verläßlichen Datierungen gelangten. Jedes Objekt war nach einer Vielzahl von Kriterien einzuordnen, und jede Klassifikation erzeugte wiederum neue unbestimmbare Stücke, die in kein Schema gezwängt werden konnten und wie die Monstren am Rande des Erdkreises die Ränder der Sammlungen bevölkerten. Berühmt sind deswegen jene kuriosen Aufzählungen geworden, die wie Auszüge aus einer phantastischen Zoologie oder Archäologie wirken. Die Kuriosität schlug die Betrachter in ihren Bann.
So waren in Braunschweig auf Schränke und Fächer verteilt eine Conchyliensammlung, die Mineralien und damit verbunden (weil auch aus der Erde geholt) die »antiquen Sachen«, mathematische, mechanische und »andere curieuse Sachen«, Dinge, die wegen ihres Materials geschätzt waren, wie »allerhand künstliche Arbeit von Agat und Bernstein wie auch Christal«, »unterschiedliche Curiositäten von Metall gegossen, wie auch Elfenbein und Holtz geschnitzt«, aber auch Mumienteile, hölzerne Musikanten und dazu eine Stockgeige oder ein aus Venedig mitgebrachtes Modell einer Gondel und schließlich Straußeneier und Kokosnußpokale.
Wenn all das eine schöne Ordnung ergab, welche Verwirrung mußte dann durch Merkwürdigkeiten entstehen, die jeder Rubrizierung widerstanden: »eine quantité Seegras aus Indien«, »ein Stück Holz von einem holländischen Schiffe, so von den bekannten Würmern gefressen«, eine Kröte, eine sogenannte Pipa, aus Surinam, ein Eisvogel in durchsichtigem Bernstein, eine in ihrem Netz sitzende Spinne aus Elfenbein. Daß solche Aufzählungen nicht endeten, war der Traum des Kuriositätensammlers, der an der Fülle des Ähnlichen interessiert war. Eine Insekten- oder Vogelsammlung mußte viele hundert Arten umfassen und vielerlei Exotisches enthalten, die Gemmensammlung mußte viele Schubfächer füllen, es mußten Vasen, Uhren, Instrumente und Ethnographica gleich zu Dutzenden sein. Und ständig drängten, seitdem der überseeische Handel blühte, neue naturkundliche und ethnographische Rara und Rarissima in die Ordnung ein, die auf sie nicht vorbereitet war und unter dem Druck des Neuen knirschte.
In Braunschweig wird bis zum 22. August 2004 in der Burg Dankwarderode, einem alten Platz der Kunst- und Naturaliensammlungen und nur wenige Schritte vom Braunschweiger Löwen entfernt, die Hinterlassenschaft der fürstlichen Sammler gezeigt. Der umfassend unterrichtende Begleitband zu der Ausstellung leistet, was einst die Sammler nur unzulänglich vermochten: fundiert Auskunft zu geben über jedes Stück und über die Sammlungsgeschichte. Geworben wird damit, daß die Gründung des Kunst- und Naturalienkabinetts im Jahre 1754 ein Meilenstein auf dem Weg zum Museum sei, das sich hier rund fünfzig Jahre früher abzeichne als in Paris, London oder Berlin.
Eines der Merkmale des modernen Museums, die Öffnung für ein Publikum, scheint in Braunschweig in der Tat zu einem relativ frühen Zeitpunkt erfüllt gewesen zu sein, früher als beim berühmten Fridericianum in Kassel 1779. Wie einst die Kunstkammer mit ihren Rara und Rarissima prunkte, so schmückt sich Braunschweig nun mit einem Datum der Museumsgeschichte. Die Wahrheit ist aber wohl eine andere. In Braunschweig wurde damals eine alte Sammlung ohne wesentliche Veränderung ihrer Bestände und ihrer Ordnung für ein begrenztes Publikum geöffnet. Von einer Museumsgründung im modernen Sinn, wie in Paris, London oder Berlin, kann deswegen hier nicht die Rede sein.
Dafür hätte es der Abkehr vom Stil des alten Sammelns bedurft, der sich in Braunschweig vielmehr noch einmal kräftigte, als im Zusammenhang mit der Öffnung für das Publikum eine Stabilisierung der alten Ordnung eintrat, die sich in Europa seit der Spätrenaissance überall durchgesetzt hatte und mit der um 1800 das neue Kunstmuseum aufräumte. Die Zerstörung der alten Sammlungen war so gründlich, daß sie vollkommen vergessen wurden, bis Julius von Schlosser sie 1907 in seinem Buch über die Kunst- und Wunderkammern wiederentdeckte.
Während andernorts seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts die Auflösung der Einheit der Kunst- und Naturalienkabinette voranschritt, konnte in Braunschweig das alte, doppelgesichtige Kabinett über die Jahrhundertwende hinweg gerettet werden – eine beispielhafte Leistung einer konservativen Kunstpolitik. Statt im Jahre 1754 etwas Neues zu beginnen, verteidigten die braunschweigischen Herzöge also etwas Altes, Überholtes, das zu diesem Zeitpunkt schon zum Untergang verurteilt zu sein schien. Nun standen sie damit nicht allein.
Auch ein so großer Gelehrter wie Leibniz propagierte unermüdlich die Fortentwicklung des »theatrum naturae et artis«, des gemeinsamen Hauses von Kunst und Naturkunde. Er versprach sich davon Belebung vor allem des wissenschaftlichen Interesses, es war eine wissenschaftspädagogische Idee, die sich ebenso an die Mäzene wie an das allgemeine Publikum richtete. Die Braunschweiger Herzöge konnten sich rühmen, daß sie den Empfehlungen des großen Leibniz mustergültig Folge leisteten. So zeigten sie denn auch im Eingangsraum des Kabinetts Porträts des Philosophen und des großen Linné, der die biologische Klassifikation auf sichere Beine gestellt hatte.
Die Kur der Trennung der antiquarischen und historischen, der natur- und kunstgeschichtlichen Bestände hat man sich in Braunschweig seinerzeit nicht zugemutet. Es sollte alles vereint bleiben. Eine...


Ritter, Henning
Henning Ritter, 1943 geboren, starb 2013 in Berlin. Von 1985 bis 2008 verantwortete er das Ressort Geisteswissenschaften der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Zuletzt veröffentlichte er Notizhefte (2010), für die er 2011 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde, Verehrte Denker (2013) und Die Schreie der Verwundeten (2013).



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