E-Book, Deutsch, 465 Seiten
Ritter Der andere Flügel des Adlers
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-347-75242-9
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Selbstentfremdung und die Welt der Krisen - Eine Naikan Betrachtung
E-Book, Deutsch, 465 Seiten
ISBN: 978-3-347-75242-9
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Unsere Welt hat eine 300jährige Erfolgsgeschichte hinter sich. Milliarden Menschen entkamen bitterster Not und leben heute in (wenn auch oft nur bescheidenen) Wohlstand.
Doch der wirtschaftliche Erfolg unserer Welt hat uns vergessen lassen, dass wir nicht nur Wirtschaft sind. Es geht nur mehr darum, unsere Individualität im gesellschaftlichen Rahem zum 'Erfolg' zu führen. Wir gleichen deshalb einem Adler, der sich völlig auf einen Flügel verlässt und deshalb ziellos im Kreis herumflattert.
Wir haben aber auch einen zweiten Flügel, den der Innerlichkeit. Erst wenn wir auch ihn einsetzen, spüren wir die Mitte in uns. Und können uns zu neuen Höhen des Menschseins aufschwingen.
Die meditative Übung Naikan/Innenschau lässt uns entdecken, dass wir mehr sind als Marionetten des wirtschaftlichen Erfolgs. Dass wir unsere Mitte finden, wenn wir unsere Ganzheit erfahren. Mit allem Licht und Schatten, wie C.G. Jung sagt.
Und Schatten, das ist vor allem unser Umgang mit unserer Erde. Den wir dringend verändern müssen.
Naikan ist eine in Japan von Ishin Yoshimoto entwickelte Methode der Selbstfindung und Selbstheilung. Naikan verbindet die Erkenntnis der westlichen Psychotherapie, dass unser jetziges Leben Ergebnis unserer Herkunft ist, mit der Transzendenzkraft der Meditation, in der wir zu uns selbst zurückfinden - jenseits der Rollen, die uns unser bisheriges Leben vorgeschrieben hat.
Geboren 1947 in Wien, aufgewachsen zwischen den Trümmern des letzten Krieges. Als Kind keine Fähigkeit zu glauben, immer unruhig, immer unterwegs, immer findend. Der Buddhismus gibt mir Halt und Richtung, aber auch viele "Mystiker" aus allen Religionen und Kulturen. Dann spricht "Es" zu mir und schenkt mir meine Lebensaufgaben - mein MenschSein zu entwickeln, mein DaSein zu nutzen, mein SelbstSein zu verstehen. 1975 gründe ich mit Freunden das Buddhistische Zentrum in Scheibbs, NÖ, 1978 lerne ich meinen Zen-Meister kennen, Seki Juho-Roshi, aber auch Naikan, das mich bis heute begleitet. Zen gibt mir heute den Rahmen vor, in dem sich meine Erkenntnisarbeit bewegt. Naikan führt mich in die Tiefe meiner Herkunft. Und meine Neugier lässt mich immer neue Felder des Denken und Handelns finden, in denen ich verwirkliche, was zu tun ist.
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Teil 2: Naikan Alles prüfe der Mensch, sagen die Himmlischen, Dass er kräftig genährt, danken für alles lern‘ Und verstehe die Freiheit, aufzubrechen, wohin er will. Friedrich Hölderlin 2.1 Naikan Innenschau Naikan kommt aus einer Erfahrungsdimension, die wir hier im Westen seit der Zeit der Aufklärung ein wenig aus den Augen verloren haben. Wobei ich nichts gegen diesen wichtigen Erkenntnisprozess unserer westlichen Kultur sagen will. Ich bin aber überzeugt, dass der Prozess der Aufklärung noch lange nicht abgeschlossen ist, sondern dass er im geistig-seelischen Bereich noch viel Weiterentwicklung (und Abstreifung von alten Denkmustern) benötigt. Denn das, was die Aufklärung uns als Ziel vermitteln will, braucht den zweiten Flügel des Adlers, den der Innerlichkeit, um ganz zu werden. Darauf weist ein Wort vom vielleicht wichtigsten Vertreter der Aufklärung hin, von Immanuel Kant: „(Es braucht) die Lauterkeit der Absicht, sich selbst gegenüber aufrichtig zu sein.“ In diesem Satz sind drei wichtige Faktoren formuliert: Lauterkeit, Absicht und Aufrichtigkeit sich selbst gegenüber. Im Naikan erfahren wir Lauterkeit54, wenn wir durchschauen, wie sich unser Geist immer wieder darum bemüht, unser Verhalten zu rechtfertigen und dafür zu sorgen, dass wir „gut dastehen“. Wenn wir das Erkennen und den Wunsch entwickeln, es hinter uns zu lassen, dann „läutern“ wir uns, indem wir Einsicht, Scham und Betroffenheit über unser Gebaren nicht mehr abwehren, sondern annehmen. Ebenso erkennen wir im Naikan unsere Zielrichtungen, also unsere Gestaltung der Zukunft durch Absichten. Wir erkennen durch Erinnerungen an tatsächlich gelebtes Verhalten, wie gut es uns gelingt, eine lautere Absicht umzusetzen oder, umgekehrt, was uns daran hindert, es zu tun. Daraus gebiert sich der Lerneffekt, den uns die Aufrichtigkeit schenkt. Wenn wir wirklich „hinschauen“, wenn wir also alle Einflüsterungen des Selbstbildes55, des Ichs oder Egos, oder unserer neurotischen Strukturen, beiseitelassen und erkennen, was tatsächlich ist, dann können wir innere Entwicklung forcieren. Dafür ist unser Gehirn und unser Bewusstwerdungsprozess da. Und damit nähern wir uns einem Erleben, das wir Ganzheit nennen. Die wir natürlich nur partiell erfahren können. Aber gerade im Naikanprozess erkennen wir durch sich neu entwickelnde neuronale Verbindungen zu ganz tiefen, bisher verborgenen Schichten unseres Gedächtnisses, unserer Erinnerungen, wie Ganzheit funktioniert und uns von Einsicht zu Einsicht zu der Erfahrung führt, ein wenig (phänomenologisch gesehen) „ganzer“ geworden zu sein. Der Geist In der Ganzheit erleben wir unseren Geist, wie er spontan formt und stillt. „Der Geist ist das Selbst.“ sagt Sören Kierkegaard. Was also ist der Geist? Diese Frage hat unendlich viele Menschen bewegt. Sie erforschten unser Sein und entwickelten Einsichten, Theorien, Philosophien oder Mythologien, die sie als Erklärungen und Handlungsanleitungen weitergaben. Letztendlich hält keine dieser geistigen Schöpfungen einer tiefgehenden Prüfung stand (sonst gäbe es nicht so viele davon, was die Philosophen Paul Feyerabend und Imre Lakatos zu ihrem Substrat „Anything goes“ führte, weil letztendlich alles der Erkenntnis dienen kann). Der chinesische Chan-Meister Huang Po formulierte es von der Meta-Ebene her so: „Es existiert nur der eine Geist und kein Teilchen von irgendetwas anderem, an das man sich klammern könnte.“ Geist ist demnach ein umfassender Erfahrungsschatz, in den wir gebettet sind und an dem wir teilhaben können. Weil wir Teil davon sind. Naikan will uns in diese Teilhabe zurück und uns aus den Geweben und Verwirrungen unserer Geistesinhalte herausführen: Zum Geist selbst, zur Quelle unseres Daseins und unserer Versuche, dieses Leben für uns zu nutzen. Dazu müssen wir die Quelle von dem reinigen, was uns von einer direkten Erfahrung des Geistes abhält: von unseren Vorstellungen, Erwartungen, Introjektionen, Ansprüchen, Opferhaltungen, von unseren Kränkungen, Traumatisierungen, schmerzvollen Erinnerungen, von Ideologien und religiösen Lehren, von Überzeugungen und Glaubenssätzen, von Irrlehren und Verschwörungstheorien, von Traumfiguren und Projektionsgebilden56. Wir müssen in die Erfahrung des reinen Geistes (japanisch: Kensho, Wesensschau) eintauchen. Diese Erfahrung teilen wir vermutlich mit vielen Menschen und vielen anderen Wesen dieser Welt. Wir kennen sie also schon. Sie zeigt sich im offenen Blick eines Neugeborenen, in der scheinbar „verlorenen“ Schau ins „Nichts“ eines Kindes oder eines „gedankenverlorenen“ Erwachsenen. Im Innehalten eines stillen Moments oder im Zurücklehnen während eines angeregten Gruppengesprächs, aus dem wir „aussteigen“ und die anderen wie aus der Ferne beobachten. Mir passiert es immer wieder, dass ich mich nach der Betrachtung eines Films völlig „leer“ fühle. In diesem offenen Wahrnehmen „von allem, was ist“ setze ich mich gerne in unseren Garten zur Meditation57. Denn die Meditation ist die Domäne des reinen Geistes. Im Samadhi-Zustand der „absoluten“ Ruhe, des umgeschaltet seins auf die Sphäre des Parasympathikus, erleben wir, wie der Geist einfach Geist ist und sonst nichts. Das ist seine Natur. Er hat keine Eigenschaft in unserem Sinne. Alles, was wir in ihn hineindenken, ist unsere Erfindung. Es ist wie in einem leeren Raum. Wir nehmen nur seine Leerheit wahr. Dann denken wir: Das wird unser Wohnzimmer. Und stellen Möbel hinein, hängen Bilder an die Wand und montieren Vorhänge. Dann sinken wir mehr oder weniger zufrieden auf die Couch. Um später über dies oder das unzufrieden zu werden. Was hat das alles mit der Leere des Raums zu tun? Sie ist nur da und ermöglicht alles. Mit dem Geist ist es ähnlich. Wir können alles in ihn hineinprojizieren. Es hat aber nichts mit dem zu tun, was der Buddhismus Shunyata nennt, Leere, leer von jeder Eigenschaft. Ein leerer Raum ist ein offener Raum. Wir schätzen offene Räume wie Meditationshallen, den Strand am Meer, das Innere von hohen Sakralbauten, den Blick von einem Berggipfel, den unverstellten Himmel. Unser Geist kann sich in dieser Wahrnehmung weiten, fixiert sich nicht, wird ebenfalls offen. Ein leerer Geist bedeutet einfach nur Offenheit. Er ist still und klar. Alles kann passieren. Aber dieser offene Geist hat noch eine Botschaft für uns: Offenheit bedeutet Ungebundenheit. Ungebundenheit bedeutet innere Ruhe. Innere Ruhe bedeutet ein Leben in Gelassenheit. Sie bedeutet einen unbewegten Geist, in den ich nach jeder Erregung zurückkehren kann. Um dort jenen Geisteszustand zu erleben, an den uns das stille Lächeln jeder Buddhafigur erinnern will. Einfach nur glücklich sein auf eine stille, unbedingte Art. Eine Gedichtzeile von Han Shan58 illustriert diesen Zustand auf einfühlsame Weise: „Die Dinge kommen/gehen lassen
wie ein Boot ohne Leine.“ Das ist ein Ziel von Naikan: Uns den unbewegten Geist und das Glück der Gelöstheit erleben zu lassen. Das passiert, wenn all unsere Opferfantasien, jeder Groll, jede Dumpfheit oder Vernebelung schweigen. Für diese Erfahrung hat Ishin Yoshimoto, der Begründer von Naikan, die Methode entwickelt. Er hat diese Erfahrung selbst gemacht (siehe Kapitel 2.3 Die Geschichte von Naikan) und dann 25 Jahre nach einer zeitgemäßen Form gesucht, um sie allen Menschen zugänglich zu machen. Dabei hat sich herausgestellt, dass Naikan nicht nur den Weg zum reinen Geist frei macht. Schon auf dem Weg dorthin lösen sich durch Teilerkenntnisse, tiefgehende Einsichten und der daraus entstehenden Entstressung des Körpers viele Probleme geistiger und auch gesundheitlicher Natur. Das ist aus der Metasicht von Naikan vollkommen klar. Jeder Stressmacher, der uns verlässt, öffnet ein Tor zu innerer Homöostase, zur Balance von Organaktivität und Geistesaktivität. Aber wir wissen dabei oft nicht, was uns passiert. Und suchen eine Erklärung, anstatt die Entwicklung dankbar entgegenzunehmen. Durch die Introjektionen unserer Umwelt suchen wir aber oft die Heilung nur im Außen oder akzeptieren innere Heilungsprozesse erst, wenn sie im Einklang mit unserem Selbstbild oder unseren oder fremden Überzeugungen stehen59. Manchmal, wie schon früher erwähnt, sind wir sogar eher bereit zu sterben als alles zu tun, was Hervorbringung von Gesundheit (Salutogenese60) von uns fordert. Wenn wir unserem Geist in seinen klaren, ungetrübten Momenten zuhören und vertrauen, ihn „lesen“, dann würde er uns in diese Salutogenese führen61. Biographie-Arbeit Naikan ist ein Element der neuen Zeit, die mit Sigmund Freud begonnen hat. Und Yoshimoto-Sensei hat darüber hinaus aus seiner ErleuchtungsErfahrung erkannt, dass in der Betrachtung unserer Lebensgeschichte nicht nur ein Schlüssel zur Heilung unserer...