E-Book, Deutsch, 426 Seiten
E-Book, Deutsch, 426 Seiten
ISBN: 978-3-647-90100-8
Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
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Klaus G. Deissler im Gespräch mit Mara Selvini Palazzoli: Ein systemischer Beginn (1979)
Vorbemerkungen aus damaliger Sicht
Work innovatively toward synthesis of new ideas, but expect no
encouragement until after you have made a success.
(Harley C. Shands)
Während meines Besuches im »Centro per lo studio della Famiglia« in Mailand habe ich am 10.04.1979 für KONTEXT – Informationsblätter der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Familientherapie e. v. (DAF) das folgende Interview geführt.
Nach den Gründen für dieses Interview gefragt, möchte ich Folgendes voranschicken: Im deutschen Sprachraum herrschen durch verschiedene Entwicklungsprozesse bedingt psychoanalytische und/oder psychiatrische Denk- und Handlungsmodelle vor, die man in ihrer Überzahl vom therapeutischen Ansatz her als »sozial-atomistisch« bezeichnen kann. Diese Modelle zeichnen sich dadurch aus, dass sie hinsichtlich des Verständnisses menschlicher Probleme »ego-zentri-petal« angelegt sind. Dies heißt verkürzt gesprochen: Gemäß dem zugrunde liegenden »medizinischen Modell« werden fast alle menschlichen Probleme als Probleme von Individuen angesehen; (diese Betrachtungsweise herrscht zurzeit in allen psychosozialen Berufsgruppen vor). Durch dieses geistige Konstruktionsprinzip werden Individuen losgelöst von ihrem natürlichen – das heißt ökosystemischen – Kontext betrachtet und damit künstlich »isoliert«; darüber hinaus werden die betreffenden Individuen hinsichtlich psychiatrischer »Gesundheits-/Krankheitslehre« kategorisiert und schließlich – je nach therapieprognostischem Wert der psychiatrischen Kategorie – therapiert oder »verwahrt«.
Dieses Vorgehen hat verschiedene Konsequenzen: Es verschleiert die gesellschaftliche Funktion des Kategorisierenden, blendet das gesamte systemische Wirkungsgefüge, welches die Basis der jeweiligen Probleme darstellt, aus und stellt damit eine Selbstbehinderung psychotherapeutischer Arbeit dar.
Ich hoffe, durch dieses Interview wird deutlich, dass es echte (!) Alternativen zu dem kurz skizzierten »medizinischen Modell« gibt – und welcher ungeheuren Anstrengungen es bedarf, solche Alternativen umzusetzen und sie in der Praxis durchzuhalten: Das Mailänder Modell stellt für mich eine der wenigen zukunftsweisenden systemischen Alternativen dar.
Zu den formalen Aspekten des Interviews möchte ich folgende Informationen geben: Die Fragen wurden von Herrn Hans-Friedrich Kraa (Marburg) ins Italienische übersetzt und direkt an Frau Selvini gerichtet; Frau Selvini antwortete in englischer Sprache – Zusatzfragen wurden ebenfalls in Englisch gestellt. Die Rückübersetzung und Redaktion wurde vom Interviewer selbst vorgenommen. Die Gesamtdauer des Interviews betrug circa anderthalb Stunden.
Abschließend möchte ich mich bei der »Familientherapeutischen Arbeitsgemeinschaft Marburg (fam) e. V.« für die Beteiligung an den Dolmetscherkosten bedanken.
Klaus G. Deissler
Vorbemerkungen aus heutiger Sicht
Indem ich versuchte, den in meiner Einführung »Transkontextuelle Aktivitäten – systemische Anfänge« beschriebenen Weg zu gehen, erfuhr ich 1978 eher zufällig von einer Tagung, die vom Fachbereich Sozialwesen in Kassel organisiert wurde. Als ich auf dem Programm zwei Namen las, wusste ich, dass ich diese Tagung unbedingt besuchen wollte: Es handelte sich bei den beiden um Franco Basaglia, weltbekannt für seine Aktivitäten bei der Auflösung psychiatrischer Krankenhäuser in Italien, und Mara Selvini Palazzoli (1916–1999)3, die ebenfalls aus Italien stammte und sich anschickte, die bekannteste »systemische« Familientherapeutin der Welt zu werden: Es war ihr anscheinend zusammen mit ihrem Team gelungen, ein systemisch-familientherapeutisches Verfahren zu entwickeln, das bei jugendlichen »anorektischen« sowie »psychotischen« Patienten erfolgreich angewendet werden konnte. Auf der Tagung selbst wurde ich mit einem Entscheidungsdilemma konfrontiert: Die Veranstalter hatten es fertiggebracht, die Vorträge der beiden zum gleichen Zeitpunkt stattfinden zu lassen. Ich musste mich also entscheiden. Da mein Herz zwar für beides, jedoch mehr für die Praxis der Psychotherapie als für Psychiatriepolitik schlug, wusste ich schnell, dass ich mich für Selvini Palazzoli entscheiden würde.
Da saß ich nun und lauschte fasziniert dem Vortrag dieser kleinen, energiegeladenen, italienischen Professorin für Kinder- und Jugendpsychiatrie, die sich von ihrem Universitätsjob verabschiedet und mit Pioniergeist ein »systemisches« Familientherapieteam gegründet hatte. Das, was sie von ihrer familientherapeutischen Praxis erzählte, schien mir noch faszinierender als ihre Veröffentlichungen und so neuartig und revolutionär, dass ich mich entschloss, mehr von ihrer Praxis zu erfahren. Aber wie konnte ich das anstellen?
Während ihrer Vortragspause sah ich Mara Selvini Palazzoli allein in einem Innenhof hin- und hergehen – ich wunderte mich, dass sie so vereinsamt schien und nicht umringt war von Fachleuten, die mehr von ihr und ihrer systemischen Praxis erfahren wollten. Sollte ich der Einzige sein, der sie als familientherapeutisch Engagierter ansprechen konnte? Ich fand den Mut nicht dazu, es in dieser Pausensituation zu tun.
Nachdem Selvini ihren Vortrag beendet hatte, entschloss ich mich, zu ihr zu gehen und sie einfach zu fragen, ob ich sie in ihrem Institut besuchen und interviewen dürfe, da ich von ihrem Ansatz begeistert sei. Zu meinem Erstaunen bejahte sie beide Fragen und schien sich sogar darüber zu freuen.
Der Rest war eine Frage der Terminabstimmung, der vorbereitenden Telefonate und schließlich eines einwöchigen Besuchs beim Mailänder Team, bei dem ich meist hinter der Einwegscheibe saß, die familientherapeutischen Gespräche verfolgte, der Teamreflexion hinter der Einwegscheibe zuhören und die Abschlussintervention samt der Wirkungen auf die jeweilige Familie hören und sehen konnte.
Obwohl ich eines Übersetzers bedurfte, um die gesprochenen Worte zu verstehen, war es für mich ein selten intensives Lernerlebnis, das die Weichen für meine weitere praktische Arbeit und mein Engagement im systemischen Feld stellte.
Aus diesen Erfahrungen folgte auch eine langjährige berufliche Freundschaft mit den männlichen Mitgliedern des damaligen Mailänder Teams: Gianfranco Cecchin und Luigi Boscolo, die mir weitere Kontakte zu Kolleginnen im In- und Ausland und damit weitere therapeutische Lernerfahrungen, persönliche und berufliche Freundschaften und eigene Beiträge zur Entwicklung der systemischen Therapie ermöglichten. Zu den von Cecchin und Boscolo ermöglichten Kontakten gehörten zum Beispiel die Heidelberger Arbeitsgruppe um Helm Stierlin4, Tom Andersen aus Norwegen5 sowie Harry Goolishian6 und Harlene Anderson7 aus den USA.
Das Interview, das ich im Rahmen meines Besuchs des Mailänder Instituts mit Mara Selvini Palazzoli führte, ist auf den folgenden Seiten abgedruckt.
Klaus G. Deissler
KLAUS G. DEISSLER: Frau Selvini, Sie sind eine der bekanntesten Familientherapeuten Europas, wie sind Sie zur Familientherapie gekommen?
MARA SELVINI PALAZZOLI: In einer bestimmten, ganz anderen Weise als meine Kollegen – nicht nur zur Familientherapie, sondern auch zur Psychiatrie: Ich war Internist, ein Praktiker der Allgemeinmedizin an der Universität von Mailand; dort sah ich zum ersten Mal anorektische Patienten und ich bemerkte in den 1950er Jahren, dass es unmöglich war, diese Patienten medikamentös zu behandeln und dass es sich dabei sicherlich um psychologische Probleme handeln würde.
Nachdem ich mich auf die Innere Medizin spezialisiert hatte, beschloss ich aus diesem Grund, mich auf Psychiatrie zu spezialisieren und mich in Psychoanalyse auszubilden – lediglich, um die Anorexie zu verstehen, weil ich an diesem Problem sehr interessiert war.
Ich wurde psychoanalytisch ausgebildet bei Professor Benedetti in Basel; er kommt aus Sizilien und leitet das Institut für Psychotherapie in Basel. – 1963 schrieb ich mein erstes Buch: »Anorexia Mentale«9, das von Feltrinelli verlegt wurde – Feltrinelli war immer mein Verleger. Danach gründete ich eine Gruppe hier in Mailand; diese wollte Psychotherapie in das psychiatrische Krankenhaus einführen – natürlich mit dem psychoanalytischen Modell ausgerüstet.
In den Jahren 1964–65 geriet ich in eine Krise, weil ich den Eindruck gewann, dass die Psychoanalyse kein gutes Instrument sei; zu wenig Patienten konnten behandelt werden, die Behandlung war sehr teuer und die Ergebnisse waren mager, ärmlich. Ich habe damals circa 60 anorektische Patienten behandelt: Die Ergebnisse waren nicht sehr gut, sie entsprachen nicht den enormen Anstrengungen und dem Zeitaufwand, den ich diesen Patienten widmen musste. Aber der »Tropfen«, der meine volle Krise auslöste, war eine Serie sehr interessanter Aufsätze, die von Lyman Wynne und Margaret Thaler Singer 1963 veröffentlicht wurde. Ich las diese Aufsätze jedoch erst 1965. Der Titel dieser Aufsätze lautete »Thought disorder and family relations of schizophrenics«10. Nachdem ich diese Aufsätze gelesen hatte, begann ich alle Aufsätze zu lesen, die damals veröffentlicht wurden und die Familien von Schizophrenen betrafen: Ich geriet also in eine entscheidende Krise, und innerhalb einer sehr kurzen Zeit entschied ich, dass es für mich nicht mehr aufrichtig war, Psychoanalytikerin zu sein, weil ich überzeugt war, dass der Weg falsch war. Deshalb entschloss ich mich innerhalb einer Woche, meinen Beruf aufzugeben; ich wollte lediglich die Fälle beenden, die ich begonnen...