Riess Herr Groll und die ungarische Tragödie
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-7013-6211-0
Verlag: Otto Müller Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
ISBN: 978-3-7013-6211-0
Verlag: Otto Müller Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Herr Groll, ein Rollstuhlfahrer, der sich mit windigen Geschäften durchbringt, und sein Freund der "Dozent", ein Privatgelehrter aus gutem Hause, recherchieren im Milieu der osteuropäischen Pornoindustrie. Das ermittelnde Duo stößt im nordungarischen Gebirge auf einen Pornoring, der in den Kasematten einer Burg mit der Produktion abseitiger Filme für einen speziellen Kundenkreis Millionen verdient und von höchster Stelle gedeckt wird. Rasch werden aus den Ermittlern Gejagte, die gemeinsam mit einem Roma-Mädchen und einem verrückten Mann namens Roebling auf einer rasanten Flucht durch die Tiefebene zu entkommen versuchen.
Riess' Roman ist fesselnd, witzig und poetisch. Groll und der "Dozent" decken nicht nur ein abscheuliches Verbrechen auf. In bekannter Manier befinden sich die beiden im Dauerstreit über diverse Welträtsel, wie den Einfluss der weiblichen Brust auf die Weltoffenheit und die Kunst des Stiegensteigens mit dem Rollstuhl. Ein ungewöhnliches, ein aufrüttelndes Buch.
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1. Kapitel Meine Großmutter war keine Kommunistin. Der Dozent ist kein Nazi. Josef ist kein Rollstuhl Spät am Morgen kam ich von meiner täglichen Runde durch das Wäldchen zurück. In der Nacht hatte es geregnet, und ich hatte den Geruch von Baumrinden und nassem Laub in der Nase. Meine Hände waren braun vom Erdreich, das auf den Treibreifen haften geblieben war. Ich hielt auf dem Gehsteig an und wartete ungeduldig darauf, daß Josefs schlammverschmierte Räder trockneten. Nur mit gereinigtem Rollstuhl dürfe ich in die Wohnung fahren, hatte die Haushälterin gesagt, sollte ich noch einmal den Wald in die Wohnung schleppen, werde sie kündigen. Ich drehte ein paar Runden, um die Reifen zu säubern, aber der Schmutz an den Vorderrädern haftete fest. Während ich darüber nachdachte, ob es ratsam war, angesichts meiner Schulden bei der Haushälterin einen Streit zu riskieren, trockneten die Räder soweit, daß ich mit einer Bürste die Schlammreste entfernen konnte. Zu diesem Zweck beugte ich mich vor, und ich wäre fast aus dem Rollstuhl gefallen, als ich das Telefon schrillen hörte. Ich riß Josef herum, stieß die Eingangstür auf und hastete in die Wohnung. Ich hoffte, der Anruf sei von meiner Freundin. Am Vorabend ihrer Abreise hatten wir uns wegen einer wichtigen Frage zerstritten. Sie hatte meine Passion für die Binnenschiffahrt als Überspanntheit abgetan, worauf ich ihr auseinandersetzte, daß die Binnenschiffahrt für die Entwicklung der Menschheit bedeutsamer als die Seeschiffahrt gewesen sei, denn wie seien die Menschen aus dem Binnenland an die Küsten gekommen, wenn nicht über Flüsse. Ich werde ihre Entschuldigung nach einigem Zögern akzeptieren, nahm ich mir vor. Als ich statt der Stimme meiner Freundin jene von Mister Giordano hörte, war meine Überraschung so groß, daß ich kein Wort herausbrachte. »Was ist mit Ihnen«, sagte Giordano, »sind Sie betrunken?« Bemüht, ihn vom Gegenteil zu überzeugen, rief ich: »Mister Giordano! Sie in Wien? Wo können wir uns treffen?« »Reden Sie keinen Unsinn, was soll ich in der Provinz? Manhattan ist langweilig genug. Ich habe Arbeit für Sie!« Mein Blick folgte der Schlammspur der Reifen auf dem frisch gewachsten Boden. Meine Haushälterin wird mich zuerst verfluchen, und dann wird sie extra kassieren, schoß es mir durch den Kopf. »Hören Sie mich?« rief Giordano. »Was ist denn mit Ihnen los?« »Die Freude«, sagte ich. »Es ist nur die Freude.« »Halten Sie den Mund! Niemand freut sich, wenn ich anrufe.« »Wie Sie meinen, Sir.« »Ihre Großmutter stammt doch aus Ungarn«, fuhr Giordano fort. »Sie haben mir letztes Jahr von ihr erzählt, auf der Staten Island Ferry. Wir sind dreimal hin und retour gefahren, und ich brauchte kein einziges Mal zu zahlen.« »Die Tour wird mir immer unvergeßlich bleiben«, sagte ich. »Sie haben gebrüllt wie am Spieß, und ich hatte Mühe, den Steward davon zu überzeugen, daß Sie nicht im Drogenrausch sind«, entgegnete Giordano. »Was wollen Sie von meiner Großmutter?« »Nichts.« »Das ist gut«, sagte ich, »denn meine Großmutter ist seit vielen Jahren tot.« Ich solle den Mund halten und zuhören, beschied Giordano und fragte, wann meine Großmutter Ungarn verlassen habe. »Im Herbst 1921«, sagte ich. Ob dies der Kommunisten wegen geschehen sei. Ich verneinte, zu diesem Zeitpunkt sei die Räterepublik längst geschlagen gewesen; die Familie meiner Großmutter sei nicht vor Béla Kun, sondern vor der Influenza-Epidemie geflüchtet. Giordano gab sich damit nicht zufrieden, der Vater meiner Großmutter sei doch Eisenbahner gewesen, es könne immerhin sein, daß er mit den Kommunisten sympathisiert habe. Meine Großmutter habe nie etwas davon erwähnt, sagte ich geduldig. Giordanos Kommunistenhaß war mir nicht neu, es war ein Leiden, das auf den Kalten Krieg zurückging; ich wußte, daß die Anfälle schubweise kamen und mitunter sehr heftig ausfielen. Und wirklich wollte Giordano jetzt wissen, ob meine Großmutter damals Kommunistin war. Meine Großmutter sei Jahrgang 1913 gewesen, sagte ich, als Achtjährige werde sie sich wohl kaum für Politik interessiert haben. Kommunisten würden auch Kinder für ihre verderbliche Sache einspannen, beharrte Giordano und stöhnte auf, für mich die Bestätigung, daß der Anfall vorüber war. »Hören Sie mir genau zu«, sagte Giordano. »Vor mir liegt ein sonderbarer Hilferuf, er kam heute Nacht per Internet. In einem nordungarischen Nest namens Töröklak sitzt ein behinderter Mann in einem Heim. Er behauptet, in der Anstalt trügen sich fürchterliche Dinge zu. Lebte Ihre Großmutter nicht in dieser Gegend?« Ihr Heimatdorf sei Visegrád an der Donau gewesen, antwortete ich. Das aber sei nur eine Autostunde von Töröklak entfernt. »Sie werden dort hinfahren«, sagte Giordano. »Seien Sie vorsichtig, es kann sein, daß der Mann geisteskrank ist, es kann aber auch sein, daß er nur gezwungen ist, sich zu tarnen. Er nennt sich Roebling. Wie der Konstrukteur der Brooklyn Bridge. Und er droht, die Brooklyn Bridge zu zerstören, wenn wir niemanden in dieses Nest schicken. Recherchieren Sie die Story und schreiben Sie eine Reportage für die Oktobernummer. Weil es sich um einen Notfall handelt, gebe ich Ihnen zehntausend Zeichen.« So viel Platz hatte Giordano mir noch nie offeriert. Sofort verlangte ich zwanzigtausend Zeichen. Ich solle aufhören, Zeilenhonorar zu schinden, es bleibe bei zehntausend, sagte Giordano. Ich erkundigte mich, ob die amerikanischen Behörden von der Sache informiert seien. Ich hatte keine Lust, mich in den nordungarischen Gebirgen herumzutreiben. An Ungarn interessieren mich nur die Binnenschiffahrt, die rollstuhlgerechte Tiefebene und die Fischsuppen. »Lassen Sie mich mit den Stümpern von der CIA in Ruhe«, wehrte Giordano ab. »Wozu habe ich Korrespondenten?« Er gab mir zehn Sekunden Bedenkzeit und fragte nach drei Sekunden, wie ich mich entschieden hätte. Selbstverständlich sagte ich zu. Giordano zahlt schlecht, aber er zahlt prompt, und was noch wichtiger ist: Durch ihn komme ich hin und wieder nach New York. »Ich habe nichts anderes erwartet«, sagte Giordano. »Für die Spesen komme ich auf, aber nur im Rahmen des Ortsüblichen. Und seien Sie nicht ironisch, ich will keine Ironie, ich will Fakten. Und übermitteln Sie mir den Text diesmal per E-Mail. Sie haben doch mittlerweile einen Internet-Anschluß?« »Selbstverständlich«, log ich. Ich besaß nicht einmal einen Küchenmixer. Ich habe meiner Freundin einmal vorgerechnet, daß ich für den Gegenwert eines Computers ein halbes Jahr lang zum Heurigen gehen kann. Bevor dieses Verhältnis sich nicht auf eine Woche reduziert, können Computer mir gestohlen bleiben. »Fahren Sie sofort los, die Sache eilt«, sagte Giordano. Ich sei am Nachmittag zur Eröffnung einer Rampe geladen, erwiderte ich, und könne daher erst morgen reisen. »Was für eine Rampe?« fragte Giordano. »Eine Rampe für einen Badeteich. Ich habe die Planungen überwacht.« »Vergeuden Sie nicht Ihre Zeit mit solchem Unsinn«, sagte Giordano. »Ich bin seit dreißig Jahren nicht mehr geschwommen und lebe immer noch.« Ich hörte ihn husten und fluchen. Der Husten wurde immer stärker. Giordano ist ein starker Raucher. Als er sich wieder gefangen hatte, sagte er: »Und erfinden Sie keine Märchen, wie in Ihrer Story über Lissabon!« »Sir, jedes Wort meiner Reportage ist wahr!« Meine Beine begannen zu zucken, ich klemmte das Telefon zwischen Schulter und Kopf und versuchte, sie mit den Händen ruhigzustellen. »Sie behaupten in Ihrem Artikel, daß es auf dem Tejo eine prosperierende Binnenschiffahrt gibt«, höhnte Giordano. »Ich war neulich in Lissabon, und ich habe kein einziges Binnenschiff gesehen.« Das sei ausgeschlossen, widersprach ich. Zweimal täglich würde ein Motorgüterschiff Lissabon passieren und Hausmüll im Meer versenken. »Das nennen Sie ein prosperierendes Business?« »Sir, der Müll wird immer mehr, bald wird eine dritte Fahrt notwendig sein!« »Halten Sie den Mund! Sie sollen nur berichten, was Sie gesehen, nicht, was Sie irgendwo gelesen haben. Noch etwas!« »Sir!« »Trinken Sie nicht so viel.« Er legte auf. Ich versuchte meine Beine zu beruhigen, die sich in schweren Krämpfen selbständig gemacht hatten. Immer wenn ich mich aufrege, bekomme ich Spasmen in den Beinen. Die Ärzte machen das verletzte Rückenmark dafür verantwortlich. Die Jahre im Rollstuhl haben mich aber eines Besseren belehrt: Die Krämpfe sind eine normale Reaktion auf Gehässigkeiten der Umwelt, und es spielt dabei keine Rolle, ob ich trinke. Ich nahm den Reisepaß aus einer Lade des Vorzimmerkastens und versah die Campingtoilette im Kofferraum meines Wagens mit Chemikalien und Wasser. Meiner Haushälterin...