Riedle | In Dschungeln. In Wüsten. Im Krieg. | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 447, 264 Seiten

Reihe: Die Andere Bibliothek

Riedle In Dschungeln. In Wüsten. Im Krieg.

Eine Art Abenteuerroman
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-8412-3168-0
Verlag: Aufbau digital
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Eine Art Abenteuerroman

E-Book, Deutsch, Band 447, 264 Seiten

Reihe: Die Andere Bibliothek

ISBN: 978-3-8412-3168-0
Verlag: Aufbau digital
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Als schreibende Reporterin war die Erzählerin auf allen Kontinenten der Erde unterwegs. In Dschungeln. In Wüsten. Im Krieg. Nun verabschiedet sie sich von einer Welt, die einmal die eigene war.Aus dem Radio erfährt Gabriele Riedles Erzählerin vom gewaltsamen Tod des berühmten britischen Kriegsfotografen Tim H. in Libyen. Nicht lange zuvor war sie mit ihm als schreibende Reporterin unterwegs im Bürgerkriegsland Liberia. Anlass für sie, von ihm zu erzählen, von seinem Leben und von seinem Sterben, aber auch von ihren eigenen Erfahrungen in allen möglichen Winkeln der Erde, in Afghanistan und im Dschungel von Papua-Neuguinea, im Inneren der Mongolei und im Kaukasus, von den Höhen des Himalaya und der Reise nach Liberia.In ihre Erzählung fließen die Bilder und Beschreibungen der Welt, die die internationalen Berichterstatter den Medienhäusern in Hamburg und in Manhattan liefern – diejenigen, die unsere globale Gegenwart deuten. Ihre Berichterstattung in Bildern und Texten unterliegt ästhetischen und ökonomischen Zwängen, die vom Zustand der Welt und der Krise der westlichen Zivilisation künden.Gabriele Riedle hat selbst über 20 Jahre Erfahrung als Reporterin. In Dschungeln. In Wüsten. Im Krieg. Ist jedoch originäre Prosa, eine kunstvolle Literatur, die zu ihrer eigenen Stimme kommt, weit weg vom Reportage-Realismus, voller eindrucksvoller Bilder. Das Nachdenken ihrer Ich-Erzählerin und ihr persönlichstes Erleben kombiniert sie in einem mäandernden Bewusstseinsstrom in weit ausschwingenden musikalischen Sätzen.Und die Autorin hieße nicht Gabriele Riedle, wenn die Reisen durch Raum und Zeit nicht auch durch die Zettelkästen der Weltliteratur führten, durchweht vom »Hegelschen Weltgeist«.Sie nennt ihr Buch »eine Art Abenteuerroman« und knüpft damit spielerisch an eine Tradition an, die sie jedoch zugleich hinter sich lässt.In In Dschungeln. In Wüsten. Im Krieg. lässt Gabriele Riedle eine Frau sprechen in einem durch und durch männlichen Genre. Das weltumspannende Romanabenteuer ist hochaktuell nicht nur im Blick auf die Mechanismen, die zu den Fälschungen des Spiegel-Reporters Relotius führten, sondern auch angesichts der Verunsicherung des Westens nach dem Rückzug aus Afghanistan, mit dem der Roman endet.
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II.
ICH SASS


Ich saß. Ich saß und saß und saß, und erst erholte sich der Atem, dann erholten sich die Knie, die Leber regenerierte sich und auch das Denken, und irgendwann war ich fast wie neugeboren, so kam es mir jedenfalls vor, und bevor ich meine Verirrungen fortsetzte, nachdem Tim ja sozusagen schon zerschellt war, but actually, he had been shelled, that’s what had happened to him, saß ich weiter und saß und saß, auch wenn das meine Erzählung jetzt erst einmal nicht viel weiter bringt, aber so viel Zeit muss sein, und bevor wir die Einheit des Ortes und womöglich auch der Zeit endgültig hinter uns lassen, bedarf es jetzt, wie vor jeder neuen Reise, noch eines letzten Blicks auf die Karte, genauer gesagt auf die 171. Auflage des Diercke-Weltatlas von 1973 mit braunem Leineneinband und goldener Prägung, in dem die Stadt, in der ich saß, noch immer Berlin (West) hieß, und dieselbe Stadt, die gleiche Stadt, die andere Stadt gleich rechts daneben hieß für alle Ewigkeit, oder wenigstens, solange ich diesen Atlas benutzte, Berlin (Ost).

Der Diercke-Weltatlas war das Kartenwerk aus meiner Schulzeit, ein neueres besaß ich nicht, die Grundlage meines Wissens über die geographischen Gegebenheiten und die Zusammenhänge der physischen Welt, braun, grün, blau, Höhen, Tiefen, Wasser, Ackerbau, Tundra, Sümpfe, Wald, Erdgasleitungen in Form von Linien, die aussahen wie Stacheldraht. Steinkohle, Nickel, Jade, Gold, Eisen- und Stahlwerke, Buntmetallhüten, Maschinenbau, für alles gab es farbige Symbole, die Fischkonserven in Neufundland, die Textil-, die Chemie- und die Holzindustrie im Ferganabecken südöstlich von Taschkent, es hatten, so dachte ich damals, die Sowjetrepubliken Usbekistan, Kirgisien und Tadschikistan, die hier zusammentrafen, offenbar auch so einiges zu bieten, und natürlich war die UdSSR intakt, jetzt und für alle Zeiten, egal, was weitere Auflagen des Diercke-Weltatlas eines Tages einmal behaupten würden, während etwa die Rub al-Khali, das Leere Viertel, die größte Sandwüste der Welt auf der Arabischen Halbinsel zwischen Saudi-Arabien und dem Jemen, sogar so leer war, dass sie auf den Karten noch nicht einmal existierte, obwohl dort eine Familie ihre Heimat hatte, deren berühmtester Sohn Osama hieß, was nichts anderes bedeutete als Löwe, auch wenn in dieser Wüste ebenso wenige Löwen zu finden waren wie Straßen und Gesetze, Islamisten dafür umso mehr.

Ansonsten gab es in der Ausgabe von 1973 Reichtum und Vielfalt fast auf jeder Seite, Sprachen wurden gesprochen, Schafe wurden gezüchtet, es regnete wenig oder viel, und dort, wo die Menschen wohnten, war auf den Karten alles rot, und neben Indoeuropäern waren allerlei interessante Völkerschaften verzeichnet, unter anderem lediglich imaginierte Ethnien wie Hottentotten, Buschmänner, Sudan-N-Wort sowie Bantu-N-Wort, oder hieß es vielleicht sogar Sudan-N-Wörter und Bantu-N-Wörter, schließlich handelte es sich jeweils um den Plural, wobei auf den Karten natürlich ein ganz anderer, inzwischen völlig unaussprechlicher Plural stand, denn 1973 hatte sich das Ende des Kolonialismus noch nicht bis nach Braunschweig und bis zum Diercke-Atlas herumgesprochen, und auch Rassismus war damals nichts als ein Wort, aber inzwischen vermied, wer Wert auf den Erhalt seiner Reputation legte, tunlichst, die Braunschweiger Bezeichnungen von 1973 auch nur zu zitieren.

Doch auch wenn der Diercke-Atlas sich bemüht hatte, sogar Völkerschaften zu verorten, die es nie gegeben hatte außer in gewissen Phantasien, so fehlten auf den Karten Komödien, Dramen oder gar der Tod, ebenso wie die Überwältigungen, mit denen die Natur die Menschen gleichzeitig strafte und verführte, denn dafür, von alldem zu berichten, war man bei Diercke in Braunschweig nicht zuständig, zuständig waren viel mehr wir und natürlich auch soundso viele andere, die dieses erforschten und jenes und dann mit Geschichten und mit Berichten durchaus nicht geizten, aber jedes Mal, wenn der Chefredakteur oder sein Stellvertreter auf Erden anrief, um mich loszuschicken, zu den Überwältigungen und den Dramen in fernen Jademinen oder in abgelegenen Sümpfen, zog ich sogleich diesen Atlas von 1973 zu Rate mit seiner abgelaufenen Weltordnung und einer Sowjetunion, die noch intakt war, vielleicht war sie sogar nie so intakt wie auf diesem hübschen bunten Papier, und intakt waren auch die Ergebnisse eines Krieges mit unfassbar vielen Toten und den anschließenden Verhandlungen von Mitspielern aus verschiedensten Teilen der Welt, namentlich der Sowjetunion, der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und Frankreichs, die, nachdem das Deutsche Reich kläglich dabei gescheitert war, die Karten nach eigenem Geschmack neu zu schreiben, dafür gesorgt hatten, dass alles so wurde, wie 1973 in meinem Atlas dargestellt. Unter anderem erschien deshalb mitten in dem sozialistischen Ozean, der sich Ostblock nannte, der Ort, an dem ich seit langer Zeit lebte und immer wieder saß und saß und saß, diese eine Insel namens Berlin (West) als Schaufenster des Kapitalismus, die glücklich war und hochsubventioniert, auch wenn von diesem Glück und dem investierten Geld auf den Karten nichts zu sehen war, obwohl der Diercke-Atlas an der entsprechenden Stelle problemlos Hundertmarkscheine in Form von kleinen blauen Rechtecken hätte verteilen können.

In einem anderen Atlas, der mir im Januar 1990 aus der Erbmasse der untergehenden DDR zugefallen war, gab es zwar Berlin, Hauptstadt der DDR – der Ort, wo ich lebte, schien jedoch einfach nicht zu existieren, und an den Stellen, an denen er hätte dargestellt werden sollen, war auf den verschiedenen Karten nur ein weißer Fleck zu sehen, der ebenso leer war wie das Leere Viertel auf der Arabischen Halbinsel, nur dass auf diesem weißen Fleck das Kürzel WB verzeichnet war für die Selbständige politische Einheit Westberlin, die identisch, aber nicht zu verwechseln war mit Berlin (West). Ersteres war sozialistischer Realismus, Letzteres eine Frage der Selbstbehauptung der sogenannten Freien Welt, und unbemerkt von den sozialistischen Realisten gab es dort, wo der weiße Fleck war, auf historisch und geographisch unsicherem Terrain eine Goethestraße in einem Stadtteil namens Charlottenburg, mit Hundehaufen, Ampeln, Bäckereien, Apotheken und einem Postgebäude, von dem aus, wer wusste wann, einmal die Rohrpost unter den Häusern und unter den Füßen der Bewohner durch die Stadt gesaust war, wobei ich nicht sagen konnte, auf welchen Karten das nun wieder verzeichnet respektive verschwiegen worden war, und kaum zweihundert Meter weiter querte die, im Gegensatz zur recht langen Goethestraße, sehr kurze Herderstraße, die schon dem Namen nach offenbar zu wilden Natursöhnen führte und in die fernsten Fernen in Zeit und Raum, und es wohnten dort höchstwahrscheinlich lauter Übersetzer, die seit zweihundert Jahren Tag und Nacht über die Urpoesie der Völker sowie über deren Gleichwertigkeit & Mannigfaltigkeit nachdachten, und gewiss grübelten sie auch immer wieder über die Mächte der Geschichte. Überdies gab es natürlich auch noch den Hegelplatz, nicht in Berlin-Charlottenburg, sondern drüben in Berlin, Hauptstadt der DDR, wo eine Bronzebüste von Hegel als jugendlicher romantischer Held mit ungekämmtem Haar und nacktem Schlüsselbein auf einem Sockel aus Muschelkalk stand und wo sich die vornehmsten Gebäude der Humboldt-Universität befanden, während der Hegelplatz in Hegels und meiner Heimatstadt Stuttgart seit 1911 die Adresse des Linden-Museums für Völkerkunde war, ehemals Handelsgeographisches Museum der Kolonialgesellschaft zur Förderung deutscher Interessen im Ausland, und an diesen Hegelplätzen ging es nicht wie in der Herderstraße nur um die Mächte der Geschichte im Allgemeinen, sondern um nichts weniger als um den Fortschritt der Vernunft und um das Walten des Weltgoischts, wie Hegel, beziehungsweise Hägel, in breitester schwäbischer Diktion zu sagen pflegte, weshalb man ihn leider fast nirgendwo richtig verstand, und dennoch setzte sich der Weltgeist als eine Art metaphysischer Entwicklungshelfer gnadenlos immer weiter durch und durch und durch und durch.

Physisch recht fern von Charlottenburg war wiederum auch die Karl-May-Straße, denn diese befand sich in Radebeul, also in einem Ort mitten im Ozean des Sozialismus, wobei die Karl-May-Straße auf den Karten dieses Atlas aus der Erbmasse der DDR natürlich Karl-Marx-Straße hieß, aber wen interessierten schon solche Kleinigkeiten, denn sowohl die Karl-May- als auch die Karl-Marx-Straße führte bis in die Schluchten des Balkans und ins wilde Kurdistan, und es wohnten dort neben einigen versprengten Titoisten, die nicht zu verwechseln waren mit Touristen, sowie zahlreichen weiblichen Peschmerga unter anderem die Herren Kara Ben Nemsi sowie Winnetou 1, und die Geschichte des Letzteren begann bekanntlich damit, dass ihrem Verfasser, immer wenn er an den Indianer dachte, der Türke einfiel, womit dann auch in Radebeul Zeit und Raum die interessantesten Konstellationen eingingen, und da schon im allerersten Satz der Einleitung zu Winnetou 1 der Türke der kranke und der Indianer der sterbende Mann war, hätten Karl May oder von mir aus Karl Marx sich hinsichtlich der Mächte der Geschichte auch mit den Leuten aus der Herderstraße bestens verstanden.

Ich selbst wohnte Jahr um Jahr in der Charlottenburger Goethestraße unter dem Dach und mit Blick auf die Post, den...


Gabriele Riedle ist 1958 in Stuttgart geboren und lebt in Berlin. Sie veröffentlichte vielfach ausgezeichnete Reportagen von allen Kontinenten, vor allem aus Krisen- und Konfliktgebieten zwischen Afghanistan und Libyen, Darfur und Tschetschenien. 1986 und 2001 war sie unter anderem Kulturredakteurin bei der taz und bei der Woche, 2001 bis 2016 Redakteurin und Reporterin bei GEO. 2017 gewann sie den Bayrischen Fernsehpreis und den Juliane-Barthel-Medienpreis für die Dokumentation Die heimliche Revolution.Frauen in Saudi-Arabien. 2018 war sie Gastprofessorin an der University of Virginia in Charlottesville, USA, und lehrte zur Geschichte der Kriegsberichterstattung. 1998 erschien Fluss, ein Roman, der gemeinsam mit Viktor Jerofejew entstand. Über ihren Roman Versuch über das wüste Leben (2004, AB-Band 238) schrieb Hans Magnus Enzensberger: »Riedles Prosa ist mit allen Wassern der Reflexion gewaschen und voller übermütiger Kapriolen, ihr Tempo ist furios und ihre Ambition vermessen.« Ihr Roman Überflüssige Menschen (2012, AB-Band 327) machte »mit rhetorischer Verve und nicht ohne Selbstironie einem westdeutschen Bildungsroman den Prozess« (Der Spiegel).



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