E-Book, Deutsch, 290 Seiten
Riecke, Jörg
E-Book, Deutsch, 290 Seiten
Reihe: Reclams Studienbuch Germanistik
ISBN: 978-3-15-960874-7
Verlag: Reclam Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jörg Riecke ist Professor für Germanistische Sprachwissenschaft an der Universität Heidelberg, Direktor des Europäischen Zentrums für Sprachwissenschaften und Mitglied im Vorstand der Gesellschaft für germanistische Sprachgeschichte.
Autoren/Hrsg.
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[11]2. Wie alles anfing:
Die althochdeutsche Zeit (ca. 750–1050)
2.1 Einige notwendige Vorbemerkungen
Die Geschichte der deutschen Sprache beginnt mit dem Einsetzen der ältesten Überlieferung. Sie markiert den Beginn eines langsamen, Jahrhunderte dauernden Prozesses der Ablösung des Lateinischen als erste Schriftsprache in Europa. Dabei werden nach und nach in den verschiedenen Regionen verschiedene Volkssprachen sichtbar, die fast alle gewisse Ähnlichkeiten im Bestand der Laute, Wörter und ihrer Grammatik aufweisen. Die Beschreibung solcher Gemeinsamkeiten, aber auch der Unterschiede, ermöglicht die Einteilung in Sprachgruppen, sogenannte Sprachfamilien, um die Nähe der Verwandtschaft darzustellen. Das Deutsche zählt in dieser Einteilung zu den germanischen Sprachen, daneben kristallisieren sich in seiner Nachbarschaft Gruppen von romanischen, keltischen, slavischen und baltischen Sprachen heraus. Wie es scheint, sind es in Europa nur die Sprachen Ungarisch, Finnisch und Estnisch, Maltesisch sowie Türkisch, Baskisch und Georgisch, die ganz anders konstruiert und daher mit den übrigen Sprachfamilien nicht verwandt sind. Diese grundsätzlichen Unterschiede lassen sich noch sehr gut an den heutigen Ausprägungen dieser Sprachen beobachten. Geht es aber um die historische Entwicklung der Sprachen, haben wir es erwartungsgemäß mit der Auswertung schriftlicher Texte zu tun; über die gesprochene Sprache wissen wir fast nichts, allenfalls einige Reflexe des mündlichen Sprachgebrauchs lassen sich in vielfältig gebrochener Form aus den Texten herauslesen. Wichtiger als das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit ist für uns daher die Frage, welche Merkmale ein im Frühmittelalter verfasstes Schriftdenkmal – denn bis in diese Zeit reicht die Überlieferung der meisten heutigen mitteleuropäischen Einzelsprachen zurück – zu einem »deutschsprachigen« Text machen. Zwei Voraussetzungen müssen dafür gegeben sein: 1. das lateinische Alphabet, in dem wir noch heute schreiben, und 2. das Vorhandensein bestimmter »neuer« Konsonanten, die so weder im Lateinischen noch in den übrigen altgermanischen Einzelsprachen wie Altenglisch, Altnordisch, Altfriesisch oder Altsächsisch vorhanden waren. Zur Verdeutlichung begeben wir uns auf die Ebene der Wörter und betrachten einige Beispiele: Wir stehen dabei zwar wieder vor der Schwierigkeit, dass wir einen Wandel in der gesprochenen Sprache anhand des Schriftbildes nur ungefähr ablesen können. Solange wir uns darüber im Klaren sind, dass wir einen Lautwandel und nicht einen nur oberflächlichen »Buchstabenwandel« vor uns haben, lässt sich mit dem Problem jedoch leben. Als eng verwandte Vergleichssprachen, [12]die diese Veränderungen der Konsonanten nicht mitgemacht haben, wählen wir das Altenglische und das benachbarte Altsächsische, die Vorstufe des sog. Niederdeutschen: ahd. apful ›Apfel‹ gegenüber as. appul, aengl. æppel; vgl. neuengl. apple; ahd. skif ›Schiff‹ gegenüber as. skip, aengl. scip; vgl. neuengl. ship; ahd. sitzen ›sitzen‹ gegenüber as. sittian, aengl. sittan; vgl. neuengl. to sit; ahd. wazzar ›Wasser‹ gegenüber as. watar, aengl. wæter; vgl. neuengl. water; ahd. daz ›das‹ gegenüber as. that, aengl. þæt; vgl. neuengl. that; ahd. mahhôn ›machen‹ gegenüber as. makon, aengl. macian; vgl. neuengl. to make. Die Zusammenstellung zeigt zunächst, dass sich die altgermanischen Einzelsprachen in vielen Bereichen sehr ähnlich sind. Da sich die Beispiele hundertfach vermehren ließen, dürfen wir davon ausgehen, dass diese Sprachen auf einen gemeinsamen, aber nicht erhaltenen Ausgangspunkt zurückgehen. Das Althochdeutsche hat sich von diesem Ausgangspunkt recht weit entfernt und unterscheidet sich von den übrigen altgermanischen Sprachen durch einen Lautwandel, der neue Konsonanten hervorbringt. Wann immer in den Wörtern bzw. in den Texten, in denen die Wörter auftreten, diese neuen Konsonanten im Schriftbild des lateinischen Alphabets erscheinen, können wir nun davon ausgehen, dass es sich um frühe deutsche Texte handelt. Demnach sind Konsonanten und Konsonantenverbindungen wie pf, f, tz, zz (stimmlos wie ss in Wasser), z (stimmhaft wie s in Rose) oder hh (Reibelaut wie ch in machen) die prägenden lautlichen Merkmale des frühen Deutsch. Stimmhafte und stimmlose Laute gab und gibt es in anderen Positionen auch in anderen europäischen Sprachen, die Affrikaten pf und tz sind dagegen typische Erscheinungen des deutschen Lautsystems. Wenn es um die bedeutungsunterscheidenden Laute der deutschen Sprache geht – wir nennen sie Phoneme –, notieren wir sie im Folgenden so: /pf/. Sind die Buchstaben selbst, also die sogenannten Grapheme gemeint, schreiben wir