Ricking / Castello | Schulabsentismus pädagogisch verstehen | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 164 Seiten

Ricking / Castello Schulabsentismus pädagogisch verstehen

E-Book, Deutsch, 164 Seiten

ISBN: 978-3-17-038478-1
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Kern des Buches bildet die pädagogische Auseinandersetzung mit Schülerinnen und Schülern, die grundlegende Probleme mit einem regelmäßigen Schulbesuch aufweisen. Dabei geht es im fachlichen Umgang mit illegitimen Schulversäumnissen zunächst um präventive Ansätze: Schulen müssen Bedingungen schaffen, damit sich Kinder und Jugendliche in der Schule sicher und wohl fühlen, entspannt lernen können und gerne zur Schule gehen. Schulabsentismus kann im Einzelfall unterschiedliche Ursachen und Motive aufweisen. Vor Interventionen ist daher eine gründliche individuelle Fallklärung geboten, die Motive und Problemlagen abklärt, um Zugänge und Maßnahmen darauf abzustimmen. Der Band zeigt, dass planvolles und theoriegeleitetes Handeln, um Anwesenheit und Teilhabe zu fördern, auf die Analyse des Einzelfalls angewiesen ist.
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1 Einleitung
Der Fall Lara
Lara ist 13 Jahre alt und besucht die 7. Klasse einer Oberschule. Sie lebt mit ihrer alleinerziehenden Mutter in ländlicher Gegend unweit der Kreisstadt. Zum Vater hat sie sporadisch Kontakt. Mehrfach kam bereits die Frage auf, ob nicht eine Beschulung am Gymnasium für sie möglich und angemessen sei. Denn sie verfügt über eine mindestens durchschnittliche Intelligenz und kann in den sprachlichen Fächern gute bis sehr gute Leistungen erzielen, ohne sich besonders anstrengen zu müssen. Diese Potenziale bilden sich in den Noten auf dem Zeugnis jedoch nur eingeschränkt ab, denn dort ist auch zu lesen, dass sie im letzten Halbjahr 31 Tage gefehlt hat (da dieses Schulhalbjahr 100 Schultage umfasst, ist 31 auch ihre prozentuale Fehlquote). Ihre beträchtlichen Versäumnisse hinterlassen tiefe Spuren in ihrem Leistungsprofil und sorgen dafür, dass sie immer wieder Schwierigkeiten hat, in der Klasse sozial Anschluss zu finden. Die Versäumnisse umfassen (häufig entsprechend ihrer Stimmungslage) Blöcke von ein bis zwei Wochen, teilweise entschuldigt, teilweise nicht entschuldigt. Zwischenzeitlich gelang es Lara, sich vormittags in ihrem Zimmer zu verstecken, da die Mutter im Schichtdienst arbeitete. Mittlerweile wurde eine Attestpflicht durch die Schulleitung erlassen. Die Klassenlehrerin Frau Sonthofer kennt Lara nun schon zwei Jahre lang und verfügt über weitreichende Kenntnisse in Bezug auf die Hintergründe, die immer wieder ihre einschneidenden Fehlzeiten bedingen. Sie hat den Eindruck, es gibt wiederkehrende Phasen in Laras Leben, in denen ihr alles zu viel ist. Schon das morgendliche Aufstehen stellt eine Herausforderung dar, dann das Ankleiden, das Entscheidungen fordert, der Weg zur Schule scheint unendlich und schließlich ist die Zeit in der Schule, in der Klasse mit all den anderen Kindern für sie kaum zu ertragen. Die Pausen verbrachte sie bis vor kurzem allein an die Wand der Pausenhalle gelehnt oder auf der Toilette. In letzter Zeit öffnet sie sich leicht und spricht mit Kindern, die sie aus der Tagesgruppe kennt. Im Unterricht verhält sie sich in der Regel teilnahmslos, zeigt Meidungsverhalten, wenn sie exponiert wird und vor den anderen sprechen soll. Ein Toilettengang während des Unterrichts dauert oft mehr als 15 Minuten. Schriftliche Aufgaben in Einzelarbeit erledigt sie allerdings problemlos. Um diese beunruhigenden Vorgänge abzuklären, wurde sie vor einem Jahr in der ambulanten Diagnostik einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie vorstellig. Der Befund lautete: Kombinierte Angststörung und Depression. Nun gab es eine Erklärung für die antriebslosen Zeiten, ihr Verhalten und die Versäumnisse in der Schule. Laras Mutter eröffnete in einem Gespräch mit der Klassenlehrerin, dass sie an einer ähnlichen Symptomatik leide und die Probleme des Kindes gut nachvollziehen könne. Frau Sonthofer erreichte in der Folge eine Intensivierung der Beziehung zur Mutter und zu Lara. Um dem Meidungsverhalten entgegenzuwirken, konfrontiert sie die Schülerin in regelmäßigen Abständen und in moderater Form mit den Reizen, die üblicherweise gemieden werden, z.?B. sich im Unterricht zu melden und etwas zu sagen oder ein kurzes, zweiminütiges Referat zu halten. Probleme bespricht sie mit Lara in Ruhe nach dem Unterricht. Der Aufbau einer tragfähigen Beziehung zur Mutter und das Treffen von Vereinbarungen haben erheblich dazu beigetragen, die Fehlzeiten zu senken. Das Beispiel Lara zeigt, dass eine spezifische Problematik zu häufigen Schulversäumnissen führen kann. Dabei ist sie nur eines von vielen Kindern und Jugendlichen, deren Schulbesuch nur unregelmäßig stattfindet. Jedes von ihnen lebt und handelt – wie Lara – in einem spezifischen Gefüge von Bedingungen und Rahmungen, die einmalig und individuell sind. Sehr unterschiedliche Lern- und Lebensbedingungen können zu problematischen Fehlzeiten in der Schule führen. Dieser Fall macht sowohl die Notwendigkeit deutlich, aus pädagogischer Perspektive genau hinzusehen, als auch die Bedeutung einer professionellen Haltung, der Klärung des Falles und des Einsatzes hilfreicher Maßnahmen offenkundig. So besteht der Gegenstand des vorliegenden Werkes in der pädagogischen Auseinandersetzung mit Schülerinnen und Schülern wie Lara, die deutliche Schwierigkeiten mit einem regelmäßigen Schulbesuch aufweisen. Der Fachbegriff Schulabsentismus kennzeichnet dabei Verhaltensmuster nicht autorisierter Fehlzeiten unabhängig vom Umfang und dem Grund der Versäumnisse. Dieses Thema stellt ein bedeutendes Themenfeld im Bildungsalltag dar, das eine erhebliche Gefährdung für den noch jungen Menschen in sich trägt und auch eine erstrangige schulische wie auch bildungspolitische Herausforderung verkörpert. Unerlaubte Fehlzeiten implizieren nicht nur einen Verstoß gegen die in allen Bundesländern geltende Schulpflicht, sondern zeichnen für die Betroffenen auch einen Weg in die Zukunft vor, der mit vielen Belastungen gepflastert ist. Versäumen Schülerinnen und Schüler in gewohnheitsmäßiger oder chronischer Form Unterricht oder verlassen ein für alle Mal die Schule vorzeitig, besteht eine beträchtliche Gefahr für soziale Devianz, schwere persönliche Probleme und Armut (Beekhoven & Dekkers, 2005; Epstein et al., 2020). Dauerhaftes Fernbleiben von der Schule ist eine komplexe Angelegenheit und entsteht erst durch vielschichtige Wechselwirkungen zwischen den Verhaltensdispositionen eines Schülers oder einer Schülerin und dessen bzw. deren Umweltbedingungen (Ricking & Hagen, 2016). Es kann somit als multikausal bedingtes Verhalten eingeordnet werden, auf das v.?a. familiale, schulische und individuelle Risiken Einfluss nehmen. Insbesondere die dadurch entstehende Komplexität der Risikogefüge, wie auch die hoch variablen Ausdrucksformen im Alltag, bereiten den schulischen Akteuren erhebliche Probleme und bilden oft schwierige pädagogische Aufgaben. Das erweist sich auch in Bezug auf die Häufigkeit als richtig. Melfsen, Beyer und Walitza (2015, 357) differenzieren zwischen »Gelegentlich«: Stunden oder einzelne Tage werden vermieden; »Mittlere Häufigkeit«: Die Schule wird regelmäßig wiederkehrend vermieden; »Massiv«: Die Schule wird sehr häufig oder gewohnheitsmäßig vermieden. Im Feld des fachlichen Umgangs mit illegitimen Schulversäumnissen sind hilfreiche Aktivitäten zunächst einem präventiven Ansatz zuzuordnen (Kearney, 2016; Ricking & Albers, 2019). Schulen sollten demgemäß ihre Energie darauf verwenden, Bedingungen zu schaffen, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen und dafür sorgen, dass sich Kinder und Jugendliche in der Schule sicher und wohl fühlen, zufrieden und erfolgreich lernen können und in der Konsequenz zumeist gerne zur Schule gehen (Alexander, Entwisle & Kabbani, 2001). Erziehungsberechtigte haben in diesem Kontext die Aufgabe, ein angemessenes Umfeld zu schaffen, in dem die unterrichtlichen Lernprozesse unterstützt und eine zielführende Kooperation mit der Schule umgesetzt werden. Wirksame Prävention senkt das Absentismusaufkommen in einer Schule (Sälzer, 2010; Ricking & Hagen, 2016). Doch es ist nicht unwahrscheinlich, dass es auch unter wirksamen präventiven Vorzeichen in der Praxis zu nicht autorisierten Fehlzeiten kommt. Auf diese Problemlagen müssen die professionellen Akteure einer Schule und das erweiterte Umfeld angemessene Antworten finden. Da die Motive und Problemlagen, die zum Schulabsentismus führen, nicht zu vereinheitlichen sind, ist eine gründliche Fallklärung vor der Intervention angezeigt – die Einzelfallperspektive rückt dabei in den Mittelpunkt. Fehlzeiten, die schulischen Frustrationen in Verbindung mit aversiver Meidung zuzurechnen sind, erfordern andere Zugänge und Maßnahmen als Problematiken, in denen Angst oder Depression im Kontext einer emotionalen Störung eine große Rolle spielen. Insofern ist der Spezifik des Einzelfalls Rechnung zu tragen und eine subjektorientierte Blickrichtung einzunehmen. In der schulischen Gesamtbetrachtung des Umgangs mit der Problematik Schulabsentismus sind prioritär vorbeugende Bedingungen und Vorkehrungen ins Auge zu fassen, darauf aufbauend ein Konzept für pädagogisches Handeln, wenn Fehlzeiten aufgetreten sind. Dabei spielen auch Ansätze eine Rolle, die »distanzierte« Schülerinnen und Schüler wieder an die Schule heranführen. Bleiben schulische Maßnahmen ohne ausreichenden Erfolg, sind unterstützende Dienste (z.?B. Hilfen zur Erziehung, Psychotherapie) kooperativ einzubeziehen. Im Prozess können rechtliche Sanktionen dahingehend geprüft werden, ob sie Sinn ergeben, geeignet und zielführend sind. Abb. 1:Handlungsschema Schließlich verfolgt ein rehabilitativer Prozess die schulische Reintegration von entkoppelten Jugendlichen, die oft monatelang oder mehr als ein Jahr nicht mehr in der Schule waren. So ergibt sich ein abgestuftes System von Handlungsoptionen, die durch Schulbehörden und Schulen konzeptionell verankert das Management von Schulabsentismus leiten sollten (? Abb. 1). Planvolles und theoriegeleitetes Handeln im...


Prof. Dr. Heinrich Ricking forscht und lehrt an der Universität Leipzig.


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