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E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Richter Im Dickicht

Aus den letzten Monaten des Stückeschreibers. Vier Nachtstücke

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

ISBN: 978-3-8353-8739-3
Verlag: Wallstein Erfolgstitel - Belletristik und Sachbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Brecht und wir? Brecht heute? Kritische Nachfragen in literarischen Phantasien

»Ändere die Welt: sie braucht es!« Schlagender hat kein deutschsprachiger Autor den revolutionären Appell formuliert als Bertolt Brecht. Die Welt umzukrempeln und die kommunistische Utopie zu verwirklichen – daran hielt er bis zu seinem Tod eisern fest. In sein Inneres aber konnte niemand blicken, vielleicht noch nicht einmal er selbst. Christa Wolf war irritiert über »diese konstante Weigerung, über sich zu reflektieren«. Und Max Frisch stellt in seinen Erinnerungen an Brecht fest: »Wir kannten ihn nicht«.
Das ist der Ausgangspunkt für die literarischen Phantasien dieser vier Nachtstücke aus den letzten Monaten des Stückeschreibers Frühjahr und Sommer 1956: als ihm in der Berliner Charité klar wird, dass sein Herz nicht mehr lange mitmachen wird und seine politische Weltsicht vielleicht genauso wackelig ist; als der Besuch seines Verlegers dazu führt, dass er in maßlosem Hass auf Thomas Mann versinkt; als die junge, hübsche, kluge Praktikantin seine meisterhaften Gedichte widerborstig vom Kopf auf die Füße stellt; als schließlich ein Interview für das Time Magazine im Desaster endet.
In der Figur des Stückeschreibers steckt einiges, das von Bertolt Brecht geborgt ist. Trotzdem ist der Stückeschreiber eine Phantasiegestalt. »Im Dickicht« ist eine Fiktion. Sie dreht sich um eine Frage: Warum eigentlich konnte Brecht seinem Dämon nicht mit der gleichen Energie widerstehen, mit der er Gegner bekämpfte? Warum versteckte er sich und schwieg hartnäckig, um sich mehr und mehr in die Rolle des linkisch-listigen Freundlichen, gleichwohl immer Überlegenen zurückzuziehen?
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1 Charité. Mitte Mai
Wieder eine schlechte Nacht. Unruhe, kalter Schweiß, schwarze Gedanken, trübe Ahnungen in der Wolfsstunde. Er war aufgestanden, als es eben hell zu werden schien. Das weiße Krankenzimmer in der Charité war noch in Grau getaucht. Er holte sich ein Glas Wasser und trank langsam, in kleinen Schlucken – wie gut das tat?! Es gefiel ihm, dass es das allereinfachste aller Getränke war (Labsal der Unteren, formulierte es in ihm). Noch einmal drehte er den schweren gusseisernen Hahn auf – der war offensichtlich auch noch aus der Vorkriegszeit, wie das ganze Klinikgebäude. Er lauschte dem Strahl und sah zu, wie das abfließende Wasser kleine Strudel im Ausguss bildete, sich stetig verändernde, unberechenbare (schon dies Winzige also unberechenbar??). Er sah in den Spiegel, in dem nur wenig Genaueres als die dunklen Umrisse seines Kopfes zu sehen waren. Einen Augenblick verharrte er, gab sich einen Ruck und drehte am schwarzen Bakelitschalter: Die Lampe über dem Spiegel ging an. Trübes Zwielicht der schwachen Birne. Weißlich fahl blickte ihn ein alter Mann an. Gewohnheitsmäßig drehte er den Kopf ein wenig nach rechts, dann wieder nach links; immer wollte er den Fotografen die vorteilhaftere Seite zeigen (nicht nur den Fotografen). Er lächelte darüber und drehte den Kopf wieder zurück, um der Wahrheit ins Gesicht zu sehen (heikles Wort, hatte er es vorsichtig genug benutzt?? Nicht immer, ganz bestimmt nicht).   Er ging mit tappenden kleinen Schritten eines alten Mannes ans Fenster und sah hinaus. Noch alles farblos. Lange vor Hahnenschrei, Dämmerung füllte den Garten, erinnerte er sich. Schönes Gedicht?! War das schon in Schweden oder noch in Dänemark?? Doch wohl Svendborg, 1937 oder 38. Der junge Mann, der die Kirschen in seinem Garten stahl, jetzt fiel ihm auch der Titel wieder ein, »Der Kirschdieb«. Der stopfte sich einfach die Kirschen in die Taschen (wurden die da nicht zerdrückt??) und pfiff ungeniert ein Lied dazu, und als er den Stückeschreiber sah, hörte der Bursche nicht etwa auf, sondern winkte ihm fröhlich zu. Natürlich hatte er nicht die Polizei geholt; die Kirschen denen, die sie nutzen; außerdem mochte er keine – die Maden, und wenn man auf den Kern biss … Er hatte sich wieder ins Bett gelegt, aus dem im Gedicht eine ›Bettstatt‹ wurde. Was ein einziges Wort ausmacht?! Eine Verfremdung ins Zeitlose. Aber darum ging?’s nicht. Nein, da hatte sich etwas Beunruhigendes verborgen. Noch lange hatte der Stückeschreiber den jungen Mann sein lustiges kleines Lied pfeifen hören … (übrigens hatte der die geflickten Hosen nur im Gedicht an, in der Dämmerung konnte er das damals gar nicht genau sehen); der Stückeschreiber machte das wie der Bettlerkönig Jonathan Jeremiah Peachum: gab seinem Bettler jenes Aussehen, das zu den immer verstockteren Herzen sprach. Der Kirschdieb pfiff ein lustiges kleines Lied, während er selbst sich schlaflos im Bett wälzte – das machte dem Stückeschreiber zu schaffen, damals. Und morgens, wenn er sich erhob?? Musste er mit dem Finger auf diejenigen deuten, die einen Krieg vorbereiteten, der alles vertilgen würde, im Frühling 1938. Wie hatte er den Kirschdieb beneidet?! Nicht um die Freiheit, einfach die Kirschen zu klauen (der klaute Kirschen, er selbst klaute Verse, also??), sondern weil er dieses lustige kleine Lied pfiff. Wie konnte er nur?! Lebten sie nicht alle in finsteren Zeiten?? Hatte der lustig Pfeifende die furchtbare Nachricht nur noch nicht empfangen?? Pfeif weiter, bitte, wie schön, dass du so unbesorgt wirkst – durfte man das sagen?? Er seufzte. Natürlich hatte er recht, natürlich war sein Gedicht an die Nachgeborenen ein Jahrhundertgedicht, und natürlich konnte es gar nicht anders gemacht werden. Schwere Worte in finsteren Zeiten, alle zutiefst berechtigt und richtig. Aber es hatte ihm sehr gefallen, das Pfeifen des lustigen kleinen Liedes. Und wohlgetan. Hatte er eigentlich ›lustig‹ oft benutzt oder waren seine Sachen ›lustig‹?? Scharfer Spott, böser Spott, provozierendes Verlachen der Gegner, ätzende Häme, das ja, das bergeweise, und es verschaffte ihm tiefe Lust – immer nur her mit euch, hirntote Tuis, impotente Dichter, Ausbeutergeschmeiß, Sozialfaschisten, Hitler-Idioten, jedem seine Watsche rechts, Watsche links. Aber lustig?? Auch?! Sei nicht so griesgrämig?! Natürlich lachte er gern, am meisten, wenn er in seinem Theater war, bei den Proben, besonders wenn der Cas dabei war, Salut Caspar Neher, größter Bühnenbildner des Jahrhunderts?! Auch wenn du dich wieder nach Österreich verdrückt und deinen ältesten Freund hier im kalten Osten gelassen hast. Er verscheuchte die Erinnerungen und blickte wieder nach draußen. Nein, kein Garten, aber die schönen alten Backsteingebäude der Charité – müsste man nicht alle Gebäude der neuen, besseren, sozialistischen Zeit so bauen wie diese Häuser aus früherer kapitalistischer Umgebung?? Mit großen, hohen Räumen, so hell dank der großen Fenster, vielgegliedert die Fassade, schöne Zierrate alter Maurerkunst – die dem Gebäude das elende Einerlei der modernen Zweckbauten ersparten und den Menschen das Gefühl erlaubten, hier nicht nur winziges Teil eines gleichgültig rotierenden Apparates zu sein. Und so viel Grün mit alten Bäumen und Büschen drumherum, kein Garten, aber fast ein Park.   Wieder in der Charité?! Wann war er das erste Mal hier?? 1923?? 24?? Nein, nein, 22 schon, im Winter, Februar, auch damals schon drei endlose Wochen?! Grad war er nach Berlin gekommen, um die Welt aus den Angeln zu heben und seinen künftigen Weltruhm zu organisieren. Vierzig Jahre und sein Werk wäre der Abgesang des Jahrtausends?! Er musste lächeln. Ganz schön frech?! Nein: schön frech; groß und respektlos und gut. Und so wahr?! Er erinnerte sich, dass ihm nicht ganz klar war, was Abgesang genau bedeutete, aber es klang gut. Ach, Berlin?! Immer unterwegs, rasieren, frieren, mittagessen, Telefon, Geschwätz. Visite. Straßen. Kein Tag ohne Theater, andauernd neue Leute, Fäden ziehen, Kontakte knüpfen, in einem Loch hausen, ungern ohne eine Frau im Bett. (Wenn die doch bloß nicht andauernd schwanger wurden, natürlich auch noch gleichzeitig, die Bi und die M und die H und dann die Helli. Stachlige Erinnerung, bloß weg damit.) Kein Wunder, dass er zusammengeklappt war. Auch damals war was mit der Niere und der Blase, auf einmal Blut geschifft und dann haben sie ihn hierher geschleppt, halbverhungert, der Bronnen und der Warschauer und die H und die M. Die Niere, die Blase waren immer schon angegriffen. Auch jetzt wieder. Dabei hatte er erst vor kurzem bei Dr. Herfurth diese entsetzlich (entsetzlich?!) schmerzhafte Blasenspülung gemacht. Immer war er ein Strich in der Landschaft gewesen, appetitlos, viel zu mager, das Herz nicht in Ordnung, diese Panikattacken in Augsburg. Einmal wurde er halb ohnmächtig, als er die Matthäuspassion hörte. Seitdem hatte er sich Abhärtung verschrieben, kalte Bäder – ein kühler Kopf und vor allem ein kaltes Herz?! Aber dieser Satz über Delacroix, der ihn damals so beeindruckt hatte, der ging doch anders?? Ein heißes Herz in einem kalten Menschen, richtig, so herum. Warum hatte ihn das so fasziniert?? War er das?? Nun ja, es ging immer (nur?? Nur?? Hoffentlich nicht?!) um das Werk. Um sein Werk. Dafür schlug sein heißes Herz. Und alles andere – und alle anderen – war das etwa egal?? Er wusste es nicht. Immerhin wusste er, welcher Diät er sich unbedingt unterwerfen musste – das hatte er 35 sogar mal in einer der extrem seltenen persönlichen Notizen festgehalten: Er musste sich gegen eine Beeinflussung von der emotionellen Seite her stark immunisieren?! Kalt werden. (Kalte Bäder halfen dabei, nicht lachen, bitte.) Ihm wäre das Wort Panzerung nie eingefallen, und er hätte es wohl auch zurückgewiesen. Aber traf es nicht ziemlich gut?? Wieder so ein Erinnerungsfunken: Er lag mit G im Bett, vielleicht so Helsinki, 1940??, und die fand das da noch ganz lustig, als er sagte, er habe das Gewissen eines Eisklumpens. (Was kümmerten ihn denn die versteinerte Miene der Helli, wenn er aus den Betten der anderen zu ihr zurückkehrte, oder die Tränen der RB??)   Ja, Berlin, damals. Ein Vierteljahrhundert war das her. Tausend Jahre und so viele untergegangene Reiche und Städte. Diese hier zum Beispiel, steinernes Meer aus Ruinen. Wie konnte einer mit 58 Jahren so alt sein?! Ein künstliches Gebiss hatte er schon seit Jahren, seit er sich die verfaulten Zähne alle auf einmal ziehen ließ. (Scheußlich. Sprach nie darüber.) Andersherum: Eigentlich war es fast ein Wunder, dass er so lange durchgehalten hatte, mit dem Körper und bei den Strapazen?! Die Berliner Jahre, das war ja ein einziger Wirbel. »Trommeln in der Nacht« in München, gleich der Kleist-Preis, der »Baal« gedruckt, der Kurs seiner Marke stieg wie eine Rakete bis zum grandiosen Feuerwerk der »Dreigroschenoper«. Er war schon da schlau genug, einen Teil der Tantieme ins Ausland zu schaffen. Er war...


Richter, Matthias
Matthias Richter, geboren 1957 in Potsdam, lebt in Celle. Er arbeitete als Literaturwissenschaftler, freier Mitarbeiter des NDR, Museumsdirektor, Lehrer, Fachleiter, Berater des Niedersächsischen Kultusministeriums, Fachdidaktiker, Autor und Buchliebhaber.
Veröffentlichungen u.a.: Gespräche mit Peter Weiss (Mithg., 1985); ; Goeckings »Lieder zweier Liebenden« (Hg., 1988); Die Sprache jüdischer Figuren in der deutschen Literatur (1995); Literaturdidaktik (mit Martin Leubner und Anja Saupe, 3. Aufl. 2016); Heinrich von Kleist: Die Marquise von O…. / Das Erdbeben in Chili. Klausurtraining (2009).


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