E-Book, Deutsch, 143 Seiten
Richter / Groth Zwischen Inszenierung und Invisibilisierung
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-8497-8522-2
Verlag: Carl-Auer Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Systemisches Paradoxiemanagement in Organisationen
E-Book, Deutsch, 143 Seiten
Reihe: Management und Organisationsberatung
ISBN: 978-3-8497-8522-2
Verlag: Carl-Auer Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Hinschauen oder verschleiern?
Die Welt der Organisationen ist voller Paradoxien: Wir wollen höchste Qualität, aber niedrige Preise; Kreativität ist uns wichtig, aber Regelbefolgung auch. Wer erst einmal die Paradoxiebrille aufgesetzt hat, blickt grundlegend anders auf den Organisationsalltag und auf die Bemu¨hungen um Planbarkeit, Klarheit und Widerspruchsfreiheit.
Timm Richter und Torsten Groth verstehen Paradoxien als erkenntnisfördende Phänomene, die Organisationen helfen, ihr Überleben zu sichern. Die erfahrenen Organisationsberater stellen ein breites Repertoire an Modellen, Techniken und Werkzeugen vor, mit denen typische Paradoxien des Fu¨hrens und Organisierens identifiziert, aktiv genutzt oder auch kreativ bearbeitet werden können.
Das Buch liefert neben klaren Begrifflichkeiten und einem soliden theoretischen Fundament auch handfeste Impulse fu¨r die Fu¨hrung und die Beratung. Zusammenfassende Gebote laden zu einem spielerisch-kreativen Umgang mit Paradoxien ein, der Fu¨hrungskräfte und Teams (wieder) handlungsfähig macht und ihre Organisation u¨berlebensfähig hält.
Die Autoren:
Timm Richter, Diplom-Mathematiker, MBA an der MIT Sloan School of Management; geschäftsführender Gesellschafter Simon Weber Friends (gemeinsam mit Torsten Groth) und NEO Culture; vormals Vorstand der XING SE und Geschäftsführer bzw. leitende Führungskraft in verschiedenen Unternehmen.
Torsten Groth, Dipl.-Soz.-Wiss., selbstständiger Organisationsberater, Referent und Trainer; Gastgeber des Club-Systemtheorie; geschäftsführender Gesellschafter von Simon Weber Friends (gemeinsam mit Timm Richter).
Beratungsschwerpunkte: Strategie und Führung von Familienunternehmen und Unternehmerfamilien, Begleitung von Veränderungsprozessen. Veröffentlichungen u. a. "Mehr-Generationen-Familienunternehmen. Erfolgsgeheimnisse von Oetker, Merck, Haniel u. a." (3. Aufl. 2017, zus. mit F. B. Simon und R. Wimmer), "66 Gebote systemischen Denkens und Handelns in Management und Beratung" (4. Aufl. 2022).
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1 Das kann doch nicht wahr sein! – Begriffsklärung Paradoxie
»Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners.« Heinz von Foerster Der Näherungsversuch an den Begriff der Paradoxie gestaltet sich paradox. Je genauer man hinschaut, um Klarheit zu gewinnen, desto verworrener wird es: Warum Paradoxie und nicht Widerspruch, warum pragmatische Paradoxie und nicht logische …? Mindestens seit der Antike – als Epimenides der Kreter sagte: »Alle Kreter sind Lügner« – beschäftigt sich die Philosophie mit Paradoxien und Fragestellungen, in denen die Logik nicht nur nicht hilft, sondern einen immer weiter verstrickt. Wenn die Aussage richtig ist, dann ist Epimenides ein Lügner, was bedeutet, dass seine Aussage doch nicht stimmt, also sagt er die Wahrheit … Dieses wertvolle Wissen und auch der Begriff der Paradoxie wurden über Jahrhunderte vergessen oder von dem berühmten Mathematiker Russell in seiner Typenlehre verboten (Russell 1903). Erst seit wenigen Jahrzehnten erfährt der Begriff eine (kleine) Renaissance, zunächst in der Familientherapie in Form eines »Doublebind« (Bateson et al. 1956) oder als »paradoxe Intervention« (Selvini-Palazzoli et al. 1977) und vor allem mit Luhmanns Arbeiten zur Organisationstheorie. Das schillernde Phänomen der Paradoxie hat eine Vielzahl von unterschiedlichen Interpretationen in unterschiedlichen Disziplinen hervorgebracht. In diesem ersten Kapitel wollen wir zunächst einen Begriffsrahmen schaffen, der uns brauchbar für die Arbeit mit Paradoxien im Organisationskontext erscheint. Dazu unterscheiden wir – kurz und knapp – logische und pragmatische Paradoxien. 1.1 Die logische Paradoxie
Eine logische Paradoxie zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass man durch logisches Schließen keine abschließende Lösung findet, denn es gibt keine richtige Lösung. Schauen wir uns hierzu zwei oft zitierte logische Paradoxien an: a) Dieser Satz ist nicht wahr. b) Der Barbier rasiert alle Männer, die sich nicht selbst rasieren. Wer rasiert den Barbier? Wenn Satz a) wahr ist, dann besagt er selbst, dass er falsch ist. Ist der Satz aber falsch, dann folgt aus der Behauptung »Dieser Satz ist nicht wahr« gerade, dass der Satz wahr ist. Die Behauptung lässt durch den Selbstbezug nur den logischen Schluss zu, dass sie zugleich wahr und falsch sein muss. Paradox! Ähnlich beim Barbier: Wenn er sich nicht selbst rasiert, dann gehört er zu den Menschen, die von ihm rasiert werden. Aber wenn er sich deswegen selbst rasiert, dann gehört er gerade nicht zu den Menschen, die er rasiert?! In beiden Beispielen führt ein selbsterzeugter Widerspruch – nämlich dass sowohl A als auch nicht-A gelten soll (der Satz scheint wahr und nicht wahr zu sein; der Barbier rasiert sich und er rasiert sich nicht) – zu der nicht endenden Oszillation: Weil die Position A gilt, folgt daraus logisch nicht-A … und umgekehrt. Und in der Logik muss eben entweder A oder aber nicht-A gelten, etwas anderes gibt es nicht. Logische Paradoxien stören Logiker, da die Paradoxien durch logisches Schließen sich selbst erzeugen und sie stören Praktiker, da sie keine anwendbare Lösung finden; wie so oft versteht es Luhmann, alles kurz und knapp auf den Punkt zu bringen: »Unter Paradoxie verstehen wir einen Gegenstand einer Beobachtung, die den Beobachter zum endlosen Oszillieren zwischen zwei Positionen zwingt.« (Luhmann 2017, S. 34) Verknüpft mit dieser Idee des dauerhaften Oszillierens, auf die wir immer wieder zu sprechen kommen werden, steckt in den zitierten Beispielen mehr drin als ein nettes, aber eigentlich für die Praxis irrelevantes Gedankenspiel. Denn Anlässe zum endlosen Oszillieren tauchen im (Organisations-)Alltag immer auf – oft sichtbar, zuweilen auch verdeckt. Auch dazu einige Beispiele, die sicherlich vertraut wirken: In einem offenen Konflikt, z. B. bei internen Auseinandersetzungen oder in einem Preiswettbewerb, kommt es zu einer Oszillation zwischen Symmetrie und Asymmetrie. Typischerweise folgt der Streit dem Muster, der jeweils andere habe angefangen, man selbst hingegen reagiere nur, um diese Ungleichheit zu beenden … und der Konflikt setzt sich fort. Beide Parteien folgen der Logik »Auge um Auge, Zahn um Zahn«, meinen also, Symmetrie anzustreben. Weil sie aber der jeweils anderen Seite einen asymmetrischen »Vorsprung« unterstellen (die andere Partei hat angefangen), ergreifen sie selbst eine asymmetrische Maßnahme (sie reagieren), was eine ähnliche Reaktion der anderen Partei (mit derselben Begründung: »wir reagieren nur«) zur Folge hat. Über diese abwechselnde Asymmetrie ergibt sich in Summe eine dynamisch erzeugte, stabile Symmetrie des sich fortsetzenden Konflikts. Eine paradoxe Situation. Aktuell wollen viele Organisationen hierarchiefreies Arbeiten einführen. Doch wie kann eine Geschäftsführung hierarchiefreies Arbeiten nicht-hierarchisch einführen bzw. sicherstellen? Wenn sie hierarchiefreies Arbeiten hierarchisch verordnet, ist es nicht hierarchiefrei. Und wenn manche Mitarbeitende sich (untereinander und der Geschäftsführung gegenüber) hierarchisch verhalten, kann sie dies nicht nicht-hierarchisch unterbinden. Mit Logik ist auch diese Situation nicht zu klären und nicht zufällig dreht sich in der oft problematischen Praxis vieles um die Gleichzeitigkeit von Hierarchie und Hierarchiefreiheit. Agile Methoden arbeiten mit der Idee einer fest programmierten Flexibilität. Die Verfasser des agilen Manifestes haben (zu Recht) bemängelt, dass die Entwicklung von Software mit der Wasserfallmethode (in manchen Kontexten) zu unflexibel ist. Deswegen haben sie Empfehlungen gegeben, mit welchen anderen Methoden man Flexibilität erreichen kann. Streng logisch ist das paradox: Wenn man (volle) Flexibilität möchte, kann man nicht (fixiert) vorschreiben, wie gearbeitet werden soll. Soll hingegen verlässlich Flexibilität entstehen, muss man das Vorgehen – in unserem Fall durch agile Methoden – programmieren. Man bekommt schon bei diesen Beispielen eine Idee davon, dass sich der Blick auf beobachtete Phänomene ändert, sobald man sie mit einer Paradoxie erklärt. Wie genau das geht und wie man Paradoxien nutzen kann, werden wir in den folgenden Kapiteln ausführen. 1.2 Die pragmatische Paradoxie
Bei allen bisherigen Beispielen zu logischen Paradoxien wurden Sachverhalte betrachtet, zu denen es zwei widersprüchliche Positionen gibt, zwischen denen man durch logische Schlussfolgerungen oszilliert. Etwas ist wahr, weil es falsch ist, begrenzt weil unbegrenzt, symmetrisch weil asymmetrisch, usw. Es drehte sich um Aussagen über die Welt. Bei pragmatischen Paradoxien kommt der Aspekt der Handlungsaufforderung hinzu. Ein Beispiel findet sich in Abbildung 1. Schilder im Straßenverkehr fordern uns auf, beachtet zu werden, aber wenn man dieses Schild beachtet, erfährt man, dass man es nicht beachten soll. Diese beiden Handlungsaufforderungen passen offensichtlich nicht zusammen. Weitere Beispiele für paradoxe Handlungsaufforderungen dieser Art sind: Sei spontan! Mache etwas freiwillig! Wolle, was du sollst z. B. bei Kindern das Zimmer aufräumen, in Liebesbeziehungen interessiert sein, …)! Abb. 1: Eine paradoxe Handlungsaufforderung Diesen drei Aufforderungen liegt die logische Paradoxie zugrunde, dass willentlich etwas Unwillentliches getan bzw. dass unfreiwillig (= nach Aufforderung) freiwillig (= aus eigenem Antrieb) gehandelt werden soll. Doch das ist unmöglich, denn will man etwas, ist es nicht mehr unwillentlich bzw. freiwillig. Nach solch einer Handlungsaufforderung kann man nicht mehr unterscheiden, ob man es »einfach so« macht oder wegen der Aufforderung. Gregory Bateson und Paul Watzlawick haben sich viel mit dieser und ähnlichen Formen von Paradoxien beschäftigt und in ihnen eine Ursache für psychische Probleme und Krankheiten gesehen. Eine pragmatische Paradoxie – so wollen wir dieses Phänomen nennen – definiert sich durch folgende Umstände: Ein Beobachter1 wird zu zwei unterschiedlichen Handlungen, A und B, aufgefordert, die er als nicht miteinander vereinbar ansieht. Der Beobachter kann sich dieser für ihn nicht erfüllbaren, weil widersprüchlichen Aufgabe nicht entziehen. Sowohl die Ansprache der Unmöglichkeit, also das Wechseln auf eine Metaebene, als auch die Nichtbeachtung erscheinen ihm als Umgang unzulässig. Die pragmatische Paradoxie ist ein durch den Beobachter selbsterzeugter Doublebind, in dem er sich oszillierend verfängt zwischen den beiden Handlungsoptionen, die als unvereinbar wahrgenommen werden und doch beide gewählt werden sollen. Die beiden Handlungsaufforderungen können – wie in den bisherigen Beispielen – logisch paradox sein, müssen es aber nicht. Entscheidend ist die Tatsache, dass der Beobachter die Handlungsoptionen als paradox konstruiert, sodass für ihn das...