Buch, Deutsch, Band 58, 380 Seiten, Format (B × H): 218 mm x 151 mm, Gewicht: 618 g
Reihe: Campus Historische Studien
Bilder und Vorstellungen vom Lebensende im 19. Jahrhundert
Buch, Deutsch, Band 58, 380 Seiten, Format (B × H): 218 mm x 151 mm, Gewicht: 618 g
Reihe: Campus Historische Studien
ISBN: 978-3-593-39424-4
Verlag: Campus
Eine Geschichte des Todes zu schreiben scheint unmöglich, denn es gibt keine Zeugnisse von Sterbenden oder Toten. Aber es gibt Vorstellungen vom Lebensende, die zum Beispiel in Tagebüchern festgehalten wurden. Überliefert sind außerdem Symbole und Inszenierungen, so im 19. Jahrhundert der Trauerschmuck (Armbänder oder Ketten, geflochten aus dem Haar von Toten), Totenmasken und die Post-mortem-Fotografie (Bilder von frisch Verstorbenen). Anhand dieser Quellen schreibt Isabel Richter eine Kulturgeschichte des Todes. Sie vermittelt uns den kulturellen Umgang mit Trauer und dem Wissen um die Endlichkeit des Lebens, mit der wir uns trotz aller medizinischen Fortschritte stets werden arrangieren müssen.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtliche Themen Mentalitäts- und Sozialgeschichte
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtliche Themen Kultur- und Ideengeschichte
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Soziale Gruppen/Soziale Themen Tod, Sterbehilfe: Soziale und Ethische Themen
Weitere Infos & Material
Inhalt
Einleitung 9
Kapitel I
Sich schreiben: Tagebücher im 18. und 19. Jahrhundert 37
1. Das Ende des Lebens im Fokus der Schrift 37
2. Todeserfahrungen in Tagebüchern 43
3. Rituale - Entwürfe - Phantasien 62
3.1 Lebenszyklische Rituale 62
3.2 Der Blick nach innen 70
3.3 Geschichte als Traum: Sterbevisionen und Träume 111
4. Erfahrungen und Entwürfe des Selbst
in schriftlichen Selbstzeugnissen 137
Kapitel II
Zum Sterben schön: Letzte Dinge 141
1. Interpretationen materieller Kultur 141
1.1 Die Rekonstruktion kultureller Bedeutungen 143
1.2 Die Sprache des Materials 144
1.3 Medialität der Selbstreflexion 146
1.4 Objekte als Selbstrepräsentanzen 147
1.5 Materielle Kultur der Trauer und des Todes 148
2. Körperschmuck aus Haaren in der bürgerlichen Trauerkultur
im 18. und 19. Jahrhundert 150
2.1 Haar: Kultureller Stoff der Passage und des Übergangs 150
2.2 Kulturelle Spuren 158
2.3 Trauer tragen 178
3. Totenmasken 195
3.1 Unheimliche Körperschalen 195
3.2 Dimensionen einer Trauerkultur 218
3.3 Aneignungen, Sehnsüchte, Imaginationen 235
4. Materielle Kultur als eine Geschichte des Todes 243
Kapitel III
Reanimationen: Postmortem-Photographien
im 19. Jahrhundert 249
1. Die Geburt eines neuen Mediums:
Photographie als Spektakel 249
2. Postmortem-Porträts im 19. Jahrhundert:
Zwischen ewigem Schlaf und ewigem Leben 257
2.1 Das photographische Material 257
2.2 Familienphotographien und Totenporträts
aus der Perspektive der visuellen Anthropologie 269
2.3 Akteure und Herstellungskontexte 271
2.4 Der Anschein des Lebens: Verlebendigungen 279
2.5 Die "Leichentoilette" 282
2.6 Kinderporträts 285
2.7 Aufbewahrung und Bildgebrauch 289
2.8 Verbot und Bedeutungsverlust
der Postmortem-Photographie 291
3. Photographie und Tod 292
3.1 Mediale Affinitäten 292
3.2 Das Subjekt als Prozess 296
4. Vom materiellen Überleben im Bild 299
4.1 Photographien als neues Medium der Trauer
und Erinnerung 299
4.2 Trauer: Prozesse der Privatisierung 301
4.3 Die Suche nach der Seele im technischen Bild 302
5. Beiträge visueller Kultur zur Geschichte des Todes
im 19. Jahrhundert 304
5.1 Die Phantasie der authentischen Spur der Toten 304
5.2 Photographische Inszenierungen der Toten 306
5.3 Versuche der Zivilisierung und Ritualisierung des Todes
in der photographischen Praxis 306
Schluss 309
Quellen und Literatur 339
Sachregister 375
Dank 379
Einleitung
1. Einführung
Sterben und Tod scheinen im frühen 21. Jahrhundert in aller Munde zu sein. Ein Hinweis darauf, was Menschen umtreibt, wenn es um Lebensende und Tod geht, mag die Wahl zum Wort des Jahres 2007 sein: "Sterbetourismus" wurde in der deutschsprachigen Schweiz aus über 2.000 Vorschlägen aus der Bevölkerung ausgewählt und setzte sich damit als Wort des Jahres durch. "Sterbetourismus" beherrsche als Thema Stammtische und mache in den Medien Schlagzeilen, führte die Jury in ihrer Begründung aus. Diese Auszeichnung rückt nicht nur die beim Thema Sterbehilfe im Vergleich mit anderen europäischen Ländern liberalere Gesetzgebung der Schweiz in den öffentlichen Blick. Sie macht auch die Frage der Kommerzialisierung des Todes zum Politikum. In anderen Medien ist davon die Rede, dass zwar niemand etwas mit dem Sterben zu tun haben wolle, der Tod allerdings als Thema en vogue sei. Der Tod, stellt der Soziologe und Psychoanalytiker Christian Schneider fest, ist "die beherrschende Phantasie, das zentrale Faszinosum unserer Kultur". Gunther von Hagens präparierte Leichen sind seit Jahren ein Publikumsrenner, und der Tod ist - folgt man aktuellen Printmedien - endlich kein Tabu mehr. Diese Auszeichnungen, Ausstellungen und Texte stehen zweifellos für eine Strömung in der Gegenwart, die sich für eine stärkere Reflexion und Auseinandersetzung mit Lebensende und Tod in der Öffentlichkeit starkmacht. Ob mit dem 21. Jahrhundert tatsächlich die Epoche eines tabulosen Umgangs mit Sterben und Tod beginnt, muss sich erst noch erweisen.
In diesem Buch geht es um die Kulturgeschichte des Todes im späten 18. und im 19. Jahrhundert, das heißt hier werden Geschichte und Entwicklung der Einstellung von Menschen zu Sterben und Tod untersucht. Im Mittelpunkt stehen zwei Aspekte: zum einen die Frage nach Formen der Auseinandersetzung individueller Menschen mit dem vorweggenommenen eigenen Tod. Zum anderen interessieren mich historische Entwürfe des Selbst, die angesichts dieser Auseinandersetzung und Konfrontation mit Vergänglichkeit, Lebensende und Tod zum Ausdruck kommen. Beginn und Ende meines Untersuchungszeitraumes sind nicht an spezifische historische Ereignisse geknüpft, sondern greifen Strömungen, Prozesse und Entwicklungen auf, die in der Selbstzeugnisforschung als Zäsur begriffen werden und innerhalb der Geschichte des Todes für einen Mentalitätswandel stehen. Für einen Untersuchungsbeginn der Studie im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts sprechen seit dem 18. Jahrhundert festgestellte Dechristianisierungsprozesse und Säkularisierungstendenzen und die von der Selbstzeugnisforschung konstatierte zunehmende Psychologisierung des Selbst. Hinweise auf diese Psychologisierung des Selbst lassen sich vor allem in autobiographischen Texten seit dem späten 18. Jahrhundert finden, aber auch in neuen Publikationen, etwa in dem von Karl Philipp Moritz herausgegebenen Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, das zwischen 1783 und 1793 angeregte Debatten auslöste. Die Jahrhundertwende um 1900 markiert aus unterschiedlichen Gründen einen Einschnitt in der Geschichte des Todes: durch den Prozess der Verwissenschaftlichung des Lebens im Zuge der Etablierung der Biologie und Psychologie als akademische Fächer im 19. Jahrhundert, aber auch durch die im späten 19. Jahrhundert einsetzende Verjüngungsmedizin, mit der sich Altern zu einem pathologischen Zustand entwickelt. Darüber hinaus ist eine Zäsur an bevölkerungsstatistischen Entwicklungen erkennbar, da die Durchschnittssterblichkeit im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts signifikant fiel. Am Fallbeispiel Preußen lässt sich auf der Grundlage statistischer Auswertungen belegen, dass die Durchschnittssterblichkeit zwischen 1876 und 1910 um über 33 Prozent sank. Damit verbunden war eine deutliche Abnahme der Sterblichkeit an Infektionskrankheiten, der Säuglingssterblichkeit sowie der Tuberkulosesterblichkeit. Um 1900 setzt ferner die folgenreiche Neuinterpretation des Seelenlebens durch die Psychoanalyse ein, die als medizinische, therapeutische und kulturelle Strömung das 20. Jahrhundert nachhaltig prägt. Nicht zuletzt gilt das 20. Jahrhundert als Epoche, die sich durch die Verdrängung des Todes auszeichnet und in der Zeitgeschichte neue Phantasmen der Unsterblichkeit mit sich bringt.
Bei der Frage nach Formen der Auseinandersetzung individueller Menschen mit dem vorweggenommenen eigenen Tod war mein Ausgangspunkt: Der Tod an sich erlaubt keine hermeneutische Annäherung. Insofern können Sinnbildungsprozesse niemals vollendet werden. Ich bin daher davon ausgegangen, dass das Wissen um eine Wirklichkeit, die nicht mitteilbar ist, in Narrationen, Symbolen und als Geschichte erfunden werden muss, um erzählbar zu sein. Denn die eigene Abwesenheit kann nur phantasiert werden. Nicht der Tod, sondern die Unvorstellbarkeit des Todes wird in unterschiedlichen Kontexten erfahren ? Erfahrungen, die zentral für die Entstehung und Entwicklung von Kultur sind. Was sich Menschen wünschen, wie sie sich Dinge und Phänomene vorstellen, was sie träumen und erhoffen, steht nicht nur für eine Geschichte der Möglichkeiten, sondern zeigt auch, welche Bedeutung Phantasien und Imaginationen für Entwürfe des Selbst haben und sagt viel über Kultur/en aus. Die Geschichte des Todes erweist sich damit als Kulturgenerator und historischer Prozess, an dem vor allem auch die Bedeutung von kulturellen Phantasien erkennbar wird.
Die Frage nach Erfahrungen als Sinnbildungsprozessen oder Sinnbildungsversuchen im Kontext von Vergänglichkeit, Lebensende und Tod hatte die Recherche von Quellen mit einer selbstreflexiven Dimension zur Folge. Sie hat mich zunächst zu Tagebüchern geführt, die zwei zentrale Kriterien erfüllen: Sie sind zum einen aussagekräftige Quellen im Hinblick auf die Fragestellung. Zum anderen sind diese Selbstzeugnisse über den gesamten Zeitraum der Untersuchung überliefert. Zugleich aber müssen Einstellungen zu Sterben und Tod sowie Entwürfe des Selbst auch anhand der Verwendungsweisen von Objekten, verwendeten Materialien und dem Verhältnis der Verwender/innen zu Objekten zu untersucht werden. Materielle Kultur im Paradigma von Kultur als Zeichensystem unterstreicht damit die Bedeutung nicht-verbaler Kommunikation und nicht-verbaler Ausdrucksformen sozialer Beziehungen. In diesem Buch wird gezeigt, dass Entwürfe des Selbst nicht nur in der Schriftkultur, sondern auch in der materiellen und visuellen Kultur des Todes zum Ausdruck kommen. Da die Medialität der Selbstreflexion die Erfahrungskonstruktion prägt, konzentriere ich mich auf drei mediale Bereiche bzw. in der Darstellungsweise des Materials auf drei Fallstudien: schriftliche Selbstzeugnisse, und zwar gedruckte Tagebücher aus dem deutschen Sprachraum, Trauerschmuck aus menschlichem Haar und Totenmasken, also auf Objekte aus der materiellen Kultur, sowie Postmortem-Photographien. Denn Einblicke in die Historisierung von Erfahrung als Sinnbildungsprozess gewähren nicht nur Diskurse und intellektuelle Debatten, sondern auch Praktiken, Gesten, rituelle Darstellungsformen und der Umgang mit Objekten und Abbildungen. Im Mittelpunkt steht also einerseits die Frage nach Formen der Auseinandersetzung individueller Menschen mit menschlicher Vergänglichkeit, dem eigenen Sterben und dem Lebensende Anderer. Andererseits geht es insbesondere um die in diesem Kontext spezifische mediale Formung von Narrativen des Selbst sowie materiellen und visuellen Entwürfen des Selbst.