E-Book, Deutsch, 448 Seiten
Richman Das Zimmer aus Samt
Erscheinungsjahr 2020
ISBN: 978-3-641-25454-4
Verlag: Diana
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 448 Seiten
ISBN: 978-3-641-25454-4
Verlag: Diana
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Alyson Richman ist amerikanische Bestsellerautorin und hat bereits mehrere Romane verfasst, die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern auf Long Island, New York.
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1
Marthe
Paris 1888
Als er an jenem Nachmittag die Tür öffnete, nahm sie als Erstes den berauschenden Blumenduft wahr, der sie in die Wohnung hineinzog.
Er nahm seinen Hut ab und legte ihn auf einen kleinen Tisch neben der Tür.
»Veilchen«, sagte sie und strahlte ihn an.
Es freute ihn, dass seine Geste ihr nicht entgangen war. Er spürte ihren Körper an seinem, ließ seine Finger über ihren Rücken wandern und umfasste ihre schmale Taille. »Ich habe sie heute Morgen bestellt. Sie haben mich ein kleines Vermögen gekostet. Aus Parma importierte Veilchen, man sagte mir, es sind die besten.«
Ihr vergnügtes Quieken erfüllte ihn mit warmen Glücksgefühlen.
Er hatte sich bei der Einrichtung des Appartements in der eleganten Straße Square La Bruyère große Mühe gegeben. Rechts neben der Eingangstür hing ein großer Spiegel mit vergoldetem Rahmen über einem kleinen Tisch mit Marmorplatte. In der Mitte des Raums standen zwei bauchige chinesische Porzellanvasen mit Pfirsichblütenglasur sowie eine hohe, schlanke Cloisonné-Vase. Eine doppelflügelige Tür führte in einen kleinen Salon, dessen Wände mit puderblauer Seide bespannt waren. Es gab ein zweisitziges Sofa mit geschwungenen Beinen und zwei Sessel mit Kissen, die aussahen wie Tauben in einem Nest. Auf dem marmornen Kaminsims standen kunstvolle Gestecke aus Orchideen, Efeu und Moos. Alles war in blassen Farben gehalten, eine Palette, von der sich die geröteten Wangen einer Frau abheben konnten. Es war ein Kleinod, eingerichtet für Geflüster und Zärtlichkeiten.
»Ich wollte, dass es dich an Venedig erinnert«, sagte er. Sie schaute sich um und betrachtete die schweren, in Silber, Rosa und Nilgrün gemusterten Vorhänge, die die hohen Fenster einrahmten.
»Die Stadt, in der ich wiedergeboren wurde«, flüsterte sie ihm ins Ohr. Ihre gemeinsame Reise nach Venedig war ihre erste Auslandsreise gewesen, und die Erinnerung daran bewegte sie immer noch.
»Ja, sagte er und ließ seine Hand über ihren nackten Arm gleiten.
Er hatte für sie beide ein Hotelzimmer in der Nähe der Accademia ausgesucht, wo der Duft von Glyzinien die Luft erfüllt und das Wasser jadegrün geglitzert hatte. Sie waren Arm in Arm über die hölzerne Brücke und über Dutzende steinerne geschlendert.
Am Abend hatte er die rote Seidendecke auf dem geschnitzten Vierpfostenbett zurückgeschlagen und ihre Schönheit bewundert. Sie hatte die Augen geschlossen und ihr früheres Leben hinter sich gelassen.
Am nächsten Nachmittag hatte er sie ins Caffè Florian an der Piazza San Marco geführt, eines der ältesten und berühmtesten Cafés Europas, wo die Schönsten und Mondänsten verkehrten.
»Mathilde Beaugiron.« Er sprach ihren Namen aus, als handelte es sich um ein Dessert, das ihm nicht mundete. »Der Name … ist nicht gut. Er wird dir nicht gerecht.«
Sie hob das Kinn und sah ihm in die Augen.
»Du brauchst ein Pseudonym.«
Sie erwiderte nichts. Sie würde ihm das Vergnügen lassen, ihr einen neuen Namen zu geben. Schweigend hob sie die Tasse mit der heißen Schokolade an die Lippen.
Er sah sich im Café um, ließ seinen Blick über die kunstvoll bemalten Wände, die Spiegel, die bronzenen Lampen wandern, dann schaute er sie wieder an.
»Marthe de Florian …« Vorsichtig hob er mit einer Fingerspitze ihr Kinn an, während er den Namen aussprach. »Der Name ist perfekt für dich …«
Sie lächelte. Das Café war opulent und elegant. Es freute sie, dass Charles ihr den gleichen Namen gab.
»Gefällt er dir?«, fragte er.
»Sehr«, antwortete sie. »Wer hätte gedacht, dass es so einfach sein würde, meinen Namen abzulegen und mit einem neuen noch einmal von vorne anzufangen?«
Er lehnte sich in das weiche Polster des Sofas zurück und nahm seine Pfeife heraus, deren kunstvoll geschnitzter Kopf eine ein Ei umklammernde Adlerklaue darstellte. Sie schaute ihm zu, wie er sich das Mundstück zwischen die Lippen schob, ein Streichholz anzündete und an den Pfeifenkopf hielt. Seine Bewegungen waren geschmeidig und selbstsicher. Sie beobachtete ihn wie eine Schülerin, die eine stumme Erziehung erhielt. Er schloss kurz die Augen und stieß eine Rauchwolke aus. Sie sah ihm an, dass ihr neuer Name und der Tabak ihn mit tiefer Befriedigung erfüllten.
Nachdem sie jetzt ihren alten Namen Mathilde abgelegt hatte, fühlte sie sich herrlich leicht. »Marthe de Florian« klang nach Schönheit und unendlichen Möglichkeiten. Sie fühlte sich frei.
In Venedig gaben sie sich allen Sinnesfreuden hin. Sie badeten in einer Wanne, die so tief war wie ein römisches Grab. Sie schwelgten in Speisen, die nach Meer schmeckten, und tranken Wein aus dunkelroten Gläsern mit Goldrand.
Sie genoss ihren neuen Namen und die Verheißung eines neuen Lebens. Wie glücklich sie sich doch schätzen konnte, ihre Vergangenheit und die Erinnerungen an die dunklen, überfüllten Räume ihrer Kindheit auszulöschen. Wie eine Künstlerin würde sie ihren Pinsel in Gesso tauchen und die Leinwand ihres bisherigen Lebens mit einer neuen Grundierung übermalen. Ihre Mutter mit dem müden Gesicht und den tränenden Augen. Die Körbe voller Wäsche anderer Leute, die darauf wartete, gewaschen zu werden. Die dunkle Gasse vor dem einzigen Fenster, wo sich kaputte Möbel und Abfall türmten.
Von jetzt an würde es keine kalten Zimmer mehr für sie geben, keine leeren Vorratskammern und keine Vermieter, die ihr drohten, sie aus dem Haus zu werfen. Nie wieder würde sie geflickte Kleider tragen müssen oder Schuhe mit Löchern in den Sohlen. Sie würde sich nur noch dem Vergnügen widmen und anderen Vergnügen bereiten. Sie würde von Pracht umgeben sein, genau wie andere Frauen, die sich von reichen Wohltätern aushalten ließen, Frauen, die jeden Luxus genossen und im Verborgenen gehalten wurden wie kostbare Juwelen.
Sie wandte sich Charles zu, schaute ihn an und streichelte leicht seine Wange. Durch den Schleier des Pfeifenrauchs sah sie seine Augen bei der Berührung aufleuchten. Sie würden ein Arrangement haben. Er würde sie aushalten. Sein Gesichtsausdruck sprach Bände, und sein Lächeln sagte ihr, dass die Sache besiegelt war.
Sie waren gemeinsam im Zug von Venedig zurück nach Paris gefahren, in einem mit Mahagoni getäfelten Privatabteil. Tagsüber schaute sie aus dem Fenster und betrachtete die Dörfer mit ihren roten Ziegeldächern und die gelben Rapsfelder und die zum Trocknen aufgestellten Weizengarben. Zum Abendessen machten sie sich fein und tranken Champagner aus schmalen Gläsern, während die Räder des Waggons sich unter ihren mit Samt bezogenen Sitzen drehten.
Sie bemerkte, wie er ihr Spiegelbild im von roten Samtvorhängen eingerahmten Fenster des Speisewagens betrachtete. Jetzt in der Dunkelheit lenkte keine Landschaft von ihrem Antlitz ab. Anmutig umfasste sie mit ihren schlanken Fingern den Stiel des Glases und trank einen Schluck Champagner. Als ihre Lippen den Rand des Glases berührten, sah sie sein Lächeln im Spiegelbild.
Ihre Bewegungen waren einstudiert. Erst kürzlich hatte sie gelernt, Messer und Gabel korrekt zu halten und darauf zu achten, dass kein Geräusch entstand, wenn das Besteck das Porzellan berührte.
Noch davor hatte sie die Kunst erlernt, sich für jede Gelegenheit passend zurechtzumachen. Jetzt saß sie in eleganter Abendrobe vor ihm, bis er sie später in ihrem Abteil ganz für sich allein haben würde.
Um ihre Schultern lag die schwarze, mit rosafarbener Seide gefütterte Samtstola, die er ihr in Venedig gekauft hatte. Sie wusste jetzt schon, wie es vor sich gehen würde. Sie würde ihr Haar erst lösen, nachdem der Schaffner ihr Bett gemacht hatte. Dann würde sie vor ihm stehen und sich Schicht um Schicht entblättern. Zuerst das Kleid aus Seidentaft. Dann das seidene Unterhemd. Das Mieder. Der Unterrock. Der Strumpfhalter mit der zarten Spitze und den seidenen Schleifchen. Sie würde sich die silbernen Kämme aus dem Haar nehmen, die er ihr geschenkt hatte, nachdem sie sich kennengelernt hatten, sodass ihre roten Locken ihr über die Schultern fielen wie bei Tizians Flora. Dann würde sie sich zu ihm umdrehen und ihm gestatten, alle Knöpfe und Bänder an ihren Kleidern zu lösen, bis sie völlig entkleidet war.
Sie würde ihn ihre blassen Gliedmaßen sehen lassen. Ihre Brustwarzen, die sie mit einem zarten Rouge gepudert hatte. Sie würde es geschehen lassen, dass er seine Hände an ihre Brüste legte, ihre schmale Taille umfasste. Sie würde seine Blume sein, die sich unter der Berührung seiner Hände öffnete und feucht wurde.
Sie war vierundzwanzig Jahre alt, und sie lernte alles über die Liebe und die Sinnlichkeit. Er lehrte sie, was Schönheit war, brachte ihr die Poesie des Raums nahe und lehrte sie die Labsal schätzen, die Stunden der Einsamkeit spenden konnten. Von ihm lernte sie, wie wichtig Farben waren, nach Phasen der Dunkelheit, wie wichtig der Kontrast von weißem Porzellan und weißen Laken war, wenn man ein Festmahl anrichten wollte.
Er war der Einzige gewesen, der ihr Orchideen geschickt hatte, als sie im Theater aufgetreten war. Fünf perfekte Exemplare. Auf der beiliegenden Karte stand:
Ihre Schönheit ist anders als die der anderen. In Ihren Augen leuchten die Sterne, unter Ihrer Haut schimmert der Mond.
Charles
PS: Ich werde nach dem Theater mit der sechsten Orchidee warten für den Fall, dass Sie mit mir ein Glas Champagner trinken...