E-Book, Deutsch, 384 Seiten
Richman Abschied in Prag
Erscheinungsjahr 2017
ISBN: 978-3-641-21288-9
Verlag: Diana
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 384 Seiten
ISBN: 978-3-641-21288-9
Verlag: Diana
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Alyson Richman ist amerikanische Bestsellerautorin und hat bereits mehrere Romane verfasst, die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern auf Long Island, New York.
Weitere Infos & Material
2
New York
2000
Sie hatte das Gemälde am Abend zuvor aus der Verpackungsröhre genommen und es wie eine alte Landkarte glatt gestrichen. Seit über sechzig Jahren nahm sie es überall mit hin. Zuerst hatte sie es in einem alten Koffer versteckt, dann aufgerollt in einem metallenen Zylinder unter Bodendielen und schließlich hinter allen möglichen Kartons in einem vollgestopften Wandschrank.
Das Gemälde bestand aus dünnen schwarzen und roten Pinselstrichen. Jede Linie strahlte Bewegung und Dynamik aus, als hätte der Künstler die Szene so schnell wie möglich einfangen wollen.
Das Bild war ihr heilig, und sie hatte es nie aufgehängt, so als könnte es Schaden nehmen, wenn man es der Luft und dem Licht, oder, schlimmer noch, den Blicken von Besuchern aussetzte. Und so war es immer in einem abgeschlossenen Behältnis geblieben, weggesperrt wie Lenkas Gedanken. Doch als sie vor einigen Wochen im Bett lag, hatte sie sich entschlossen, das Bild ihrer Enkeltochter zur Hochzeit zu schenken.
Lenka
Wenn die Moldau zufriert, nimmt sie die Farbe einer Auster an. Als Kind habe ich gesehen, wie Männer mit Eispickeln Schwäne retteten, deren Füße im Eis festgefroren waren.
Ich wurde als Lenka Josefina Maizel in Prag geboren, als älteste Tochter eines Glashändlers. Wir wohnten am Smetana-Ufer in einer weitläufigen Wohnung mit Blick auf den Fluss und die Brücke. Die Wände waren mit rotem Samt bespannt, es gab Spiegel mit vergoldeten Rahmen, im Salon standen mit aufwendigen Schnitzereien verzierte Möbel, und meine Mutter duftete das ganze Jahr über nach Maiglöckchen. Ich erinnere mich an meine Kindheit wie an einen Traum. Palatschinken mit Aprikosenmarmelade, heiße Schokolade, Schlittschuhlaufen auf der Moldau. Mein Haar unter eine Fuchspelzmütze gestopft, wenn es schneite.
Überall sahen wir unser Spiegelbild: in den vergoldeten Spiegeln, in den Fenstern, unten im Fluss und in den Rundungen von Vaters Glaswaren. Mutter hatte eine spezielle Vitrine mit Gläsern für jede Gelegenheit. Es gab Sektflöten mit eingeätzten zarten Blüten, Weingläser mit Goldrand und mattiertem Stiel und rubinrote Wassergläser, die das Licht rosafarben reflektierten, wenn man sie in die Sonne hielt.
Mein Vater liebte die Schönheit und schöne Dinge, und er glaubte, dass ein Glasfabrikant mithilfe der richtigen Elemente beides erzeugen konnte. Man brauchte mehr als nur Sand und Quarz, um Glas herzustellen. Auch Feuer und Atem wurden dafür benötigt. »Ein Glasbläser ist ein Liebhaber und ein Lebensspender«, sagte er einmal in einer Rede vor Gästen, die er zum Abendessen geladen hatte. Er nahm ein Wasserglas vom Tisch und hob es hoch. »Wenn Sie das nächste Mal aus einem solchen Glas trinken, denken Sie an die Lippen, die dieses zarte, elegante Gebilde geformt haben, und wie viele fehlerhafte Gläser wieder eingeschmolzen werden mussten, bis ein Satz aus zwölf perfekten Gläsern entstehen konnte.«
Alle Gäste schauten fasziniert zu, als er das Glas ins Licht hielt. Dabei ging es ihm nicht darum, seine Ware anzupreisen. Er war einfach nur begeistert davon, wie ein Handwerker ein Objekt erschaffen konnte, das zugleich stabil und zerbrechlich war, transparent und doch in der Lage, Farbe zu reflektieren. Er sah Schönheit sowohl in spiegelglatten Oberflächen als auch in Glas, das sich in sanften Wellen kräuselte.
Seine Geschäftsreisen führten ihn durch ganz Europa, und wenn er nach Hause kam, in einem weißen, gestärkten Hemd, mit seinem nach Zedern und Nelken duftenden Rasierwasser, legte er seine großen Hände um die Taille meiner Mutter und sagte auf Tschechisch: »Milácku.« Meine Liebste.
Und wenn sich ihre Lippen berührten, antwortete sie: »Lásko moje.« Mein Liebster.
Selbst nach zehn Jahren Ehe war Vater immer noch hingerissen von ihr. Häufig brachte er ihr von seinen Reisen Geschenke mit, die er nur gekauft hatte, weil sie ihn an sie erinnerten. Mal lag ein winziger Cloisonné-Vogel mit kunstvoll emaillierten Federn neben ihrem Weinglas, oder sie fand ein samtenes Schächtelchen mit einem mit Saatperlen verzierten Medaillon auf ihrem Kopfkissen. Ganz besonders faszinierte mich ein hölzernes Radio mit einem in der Mitte angebrachten strahlenförmigen Drehkranz für die Sendersuche, mit dem er Mutter nach einer Reise nach Wien überraschte.
Wenn ich die Augen schließe und an meine ersten fünf Lebensjahre denke, sehe ich die Hand meines Vaters an dem Drehknopf dieses Radios, die winzigen schwarzen Haarbüschel an seinen Fingern, mit denen er einen der wenigen Sender sucht, die Jazz spielten, eine exotische und belebende Musik, die seit Anfang der Zwanzigerjahre in unseren Radios lief.
Ich sehe, wie er sich umdreht und mich anlächelt, wie er den Arm nach meiner Mutter und mir ausstreckt. Ich fühle die Wärme seiner Wange, als er mich hochhebt und auf seine Hüfte setzt, während er mit der anderen Hand meine Mutter in eine Drehung führt.
Ich rieche den Duft von Glühwein, der an einem kalten Januarabend in zierlichen Tässchen serviert wird. An den hohen Fenstern unserer Wohnung haben sich Eisblumen gebildet, während es drinnen gemütlich warm ist. Kerzenlicht verleiht den Gesichtern der Männer und Frauen, die gekommen sind, um einem Streichquartett zu lauschen, einen goldenen Schimmer. Ein Bild von meiner Mutter taucht auf, die mit ihren langen, weißen Fingern nach einem Kanapee greift, an ihrem Handgelenk ein neues Armband. Wie eine Voyeurin beobachte ich von meinem Zimmer aus durch einen Türspalt, wie mein Vater sie küsst.
Es gibt auch stille Abende. Wir drei sitzen um einen kleinen Kartentisch. Chopin auf dem Plattenteller. Mutter hält ihre Karten dicht am Körper, damit ich sie nicht sehen kann. Ein Lächeln umspielt ihre Lippen. Vater lässt Mutter gewinnen und tut so, als wurme es ihn.
Abends bringt Mutter mich ins Bett und sagt mir, ich soll die Augen schließen. »Stell dir vor, welche Farbe das Wasser hat«, flüstert sie mir ins Ohr. An anderen Abenden soll ich mir vorstellen, welche Farbe das Eis hat. Oder der Schnee. Ich schlafe mit dem Gedanken daran ein, wie sich die Schattierungen dieser Farben im Licht verändern. Ich übe mich darin, mir die unterschiedlichsten Blautöne vorzustellen, die zarten Abstufungen von Lavendel, das blasseste Weiß. Und so tauche ich in meinen Träumen in das Geheimnis der Verwandlung ein.
Lenka
Eines Morgens klopfte Lucie an unsere Tür, in der Hand einen Brief. Sie gab ihn Vater, und der las ihn Mutter vor. Lucie hat keine Erfahrung als Kindermädchen, hatte sein Kollege geschrieben. Aber sie ist ein Naturtalent im Umgang mit Kindern, und sie ist absolut vertrauenswürdig.
Meine erste Erinnerung an Lucie ist, dass sie viel jünger aussah als achtzehn. Sie wirkte beinahe kindlich und schien in ihrem Kleid und dem langen Mantel regelrecht zu versinken. Aber als sie sich vor mich hinkniete, um mich zu begrüßen, spürte ich sofort die Wärme ihrer ausgestreckten Hand. Wenn sie morgens zu uns kam, brachte sie den Duft von Zimt und Muskat mit, so als wäre sie gerade frisch gebacken und noch warm geliefert worden.
Lucie war keine große Schönheit. Sie war lang und kantig wie ein Lineal. Ihre ausgeprägten Wangenknochen sahen aus wie gemeißelt, ihre Augen waren groß und schwarz, ihre Lippen dünn. Aber wie ein dunkler Waldgeist aus einem Märchenbuch besaß Lucie ihre ganz eigene Magie. Schon nach wenigen Tagen waren wir alle von ihr bezaubert. Wenn sie eine Geschichte erzählte, bearbeiteten ihre Finger die Luft, als zupften sie die Saiten einer imaginären Harfe. Bei der Arbeit summte sie Lieder vor sich hin, die ihre Mutter früher gesungen hatte.
Meine Eltern behandelten Lucie nicht wie ein Dienstmädchen, sondern wie ein Familienmitglied. Bei den Mahlzeiten saß sie mit uns an dem großen Esstisch, der sich stets unter der Last der Speisen bog. In ihrer ersten Woche bei uns servierte mir Lucie zum Rindergulasch ein Glas Milch, obwohl wir, wenn wir auch sonst nicht koscher aßen, zu Fleischgerichten grundsätzlich keine Milch tranken. Mutter muss sie später auf ihren Fehler hingewiesen haben, denn es kam nicht wieder vor.
Seit Lucie bei uns war, lebte ich in einer weniger behüteten und viel aufregenderen Welt. Sie brachte mir bei, wie man Laubfrösche fing und wie man von einer Brücke aus in der Moldau angelte. Sie war eine meisterhafte Geschichtenerzählerin, die aus all den Menschen, denen wir im Laufe des Tages begegneten, Märchenfiguren machte. Der Mann, der uns am Rathausplatz ein Eis verkauft hatte, tauchte beim Zubettgehen als Zauberer wieder auf. Eine Frau, bei der wir auf dem Markt Äpfel gekauft hatten, kehrte als alternde Prinzessin wieder, der man als junger Frau das Herz gebrochen hatte.
Ich habe mich schon oft gefragt, ob es Lucie oder Mutter war, die als Erste mein Zeichentalent entdeckte. In meiner Erinnerung ist es meine Mutter, die mir meine ersten Buntstifte kaufte, und Lucie, die mir später meine ersten Ölfarben schenkte.
Auf jeden Fall war es Lucie, die mit mir in den Park ging und darauf bestand, dass ich meinen Zeichenblock und die Buntstifte mitnahm. An einem kleinen Weiher, wo die Jungs ihre Papierschiffchen schwimmen ließen, breitete sie eine Decke aus, legte sich auf den Rücken und betrachtete die Wolken, während ich Seite um Seite meines Blocks mit Zeichnungen füllte.
Anfangs zeichnete ich kleine Tiere. Kaninchen, Eichhörnchen. Doch schon bald begann ich, Lucie zu zeichnen, dann den Mann, der auf einer Bank Zeitung las. Später nahm ich mir schwierigere Aufgaben vor, wie zum Beispiel eine Mutter mit einem Kinderwagen. Die Ergebnisse...