E-Book, Deutsch, 205 Seiten
Richard / Müller / Reischach Interaktion - Emotion - Desinfektion
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-593-45013-1
Verlag: Campus Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kunst und Museum in Zeiten von Corona
E-Book, Deutsch, 205 Seiten
ISBN: 978-3-593-45013-1
Verlag: Campus Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Birgit Richard ist Professorin für Neue Medien in Theorie und Praxis am Institut für Kunstpädagogik der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Jana Müller ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Neue Medien am Institut für Kunstpädagogik der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Niklas von Reischach ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Neue Medien am Institut für Kunstpädagogik der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Autoren/Hrsg.
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Plüschviren – Zur Konstruktion von Nähe in Zeiten der Pandemie
Eine Pandemie wird nicht nur subjektiv anders erlebt als eher unpandemische Zeiten, sie schafft auch andere politische und gesellschaftliche Voraussetzungen wie eingreifende präventive Maßnahmen, staatliche Unterstützungsprogramme oder die Regulierung des Zugangs zum öffentlichen Raum. Neben der medizinischen und virologischen Debatte haben Soziolog*innen und Philosoph*innen die Diskussion um die sogenannte »Corona-Gesellschaft« maßgeblich geprägt.96 In Zeiten einer Pandemie wird aber auch die Frage nach der Bedeutung des Kleinen, Randständigen, leicht Verspielten mit noch größerem Ernst gestellt als zuvor.
Die seit gut 15 Jahren anhaltende akademische Debatte um den Stellenwert der »kleineren« ästhetischen Zuschreibungen, die Sianne Ngai 2012 in mit den Phänomenen und charakterisierte, hat die Bedeutung der oftmals trivialisierten, keineswegs trivialen ästhetischen Eigenschaften hervorgehoben und in den akademischen Diskurs überführt.97 Die 2020/2021 im NRW-Forum Düsseldorf gezeigte Ausstellung (nachfolgend: ) hat dem Phänomen eine weitere Präsenz und Sichtbarkeit gegeben. Das Nachdenken und Arbeiten zum Feld des Niedlichen/ hat unter dem Eindruck der Corona-Pandemie eine neue Komplexität erfahren. Es ist naheliegend, einen genaueren Blick auf den konsumistisch-kulturellen Umgang mit Corona zu werfen und dort die Reichweite des Niedlichen in der Bewältigungsdebatte zu betrachten. Der Versuch, als Gesellschaft mit Corona umzugehen, spiegelt sich auch in der Welt von Spielzeugen.
Objekte aus dem Umfeld haben in Gestalt von Puppen und Spielzeugen eine längere Geschichte, wobei sie traditionell positiv besetzt und als freundliche Begleiter des Menschen gedacht waren. Das erste Plüschtier hatte 1879 Margarete Steiff mit einem Plüschelefanten erfunden, der berühmte Teddybär verdankte sich zunächst einem Export in die USA. Ngai konstatiert, dass Spielzeuge in den Vereinigten Staaten lange robust waren, um der möglichen Zerstörungswut von Kindern zu entgehen. Selbst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Produktion weicher zeitlich hinausgezögert.98 Diese Tendenz scheint sich in jüngerer Zeit umgekehrt zu haben. Neben Puppen und anderen Spielzeugen werden vor allem harte oder abstrakte Dinge in eine weiche, handhabbare Form überführt. So existiert die Eisenkonstruktion des Eiffelturms als Mitbringsel in einer Plüschvariante,99 2001 war ein abstrakter Preis der Handelskette PLUS zu einer Plüschfigur mit Augen geworden, die sich inzwischen im Berliner Museum der Dinge wiederfindet.100 Es verwundert daher nicht, wenn 2002 auch das erste Virus aus Plüsch in die Öffentlichkeit tritt und dann folgerichtig kurz nach Beginn der Corona-Pandemie in der Variante Corona-Virus COVID-19 (SARS-CoV-2) Aufmerksamkeit erfährt.
Abb. 1: Corona Virus COVID-19 (SARS-CoV-2)
Quelle: Mit freundlicher Genehmigung von giantmicrobes.com
Die »Verplüschung« des Viralen
Im Jahr 2002 produzierte die US-amerikanische Firma GIANTmicrobes®, die in Deutschland durch die Tochterfirma RIESENmikroben vertreten wird, die ersten vier Viren aus Plüsch: einen Erkältungsvirus, Halsschmerzen, Grippe und Magenschmerzen.101 Später folgten Cholera, Pest, AIDS und Ebola, und auch die »guten« Körperzellen wie Blutkörperchen oder Antikörper wurden 2006 bzw. 2013 in Plüschkörper transformiert.102 Die Produkte werden als humorvolle Geschenke mit erzieherischem Wert eingeführt, als »humorously educational toys«: »GIANTmicrobes® are innovative, creative collectibles and gifts, and are also used by parents, teachers, and medical professionals as educational tools.«103
Es handelt sich somit um einen Geschenkartikel, der eine emotionale und tröstende Wirkung entfalten soll. Berichterstattungen über die Plüschviren mit Titeln wie 104 nehmen diese Funktionalisierung des Niedlichen treffend auf. Darüber hinaus erfolgt eine inhaltliche Anbindung an die Wissenschaft, da die Nähe des Plüschvirus zur wissenschaftlichen Visualisierung seines realen Pendants den Hersteller*innen wichtig ist. Jedem Plüschvirus wird ein Bildkärtchen mit dem mikroskopischen Bild des Virus beigefügt. Diese Verknüpfung eines populären Unterhaltungsprodukts mit der Wissenschaft lebt allerdings von einer naiven Vorstellung des Bilds, welche die Abstraktionsprozesse in der Visualisierung mikroskopischer Vorlagen leicht übersieht. Denn auch hier liegen trotz der entsprechenden bildgebenden Verfahren häufig Interpretationen des Gesehenen vor.105
In der Ausrichtung auf ein gewisses Maß an Naturtreue orientieren sich die Plüschviren, trotz ihrer völlig überdimensionierten Größe, an den Vorgaben klassischer Plüschtier-Hersteller, die ihre Designer*innen wie die Firma Kösen in den Zoo schicken, um dann »naturnahe Plüschtiere lebensecht in ihrer natürlichen Haltung«106 zu entwerfen. Die Unsichtbarkeit und mikroskopische Größe des viralen Originals wird dann allerdings ähnlich dem Blow-up-Effekt einer Claes-Oldenburg-Skulptur zu einem gigantischen Objekt, zumindest in Relation zum mikroskopischen Virus. Das »larger-than-life statement«107 sowie die »Versoftung« des viralen Originals erinnern an die künstlerische Strategie des Pop-Art-Künstlers Oldenburg.
Die weichen Virenkörper sind waschbar, also kein Tummelplatz für reale Viren, und in verschiedenen Größen verfügbar. Als »richtiges« Spielzeug taugen die Plüschviren eigentlich nicht, weil man sie mangels Extremitäten kaum bewegen kann. Sie können lediglich sitzen oder gedrückt werden, mehr Interaktionen sind nicht möglich. Insofern lassen sich die Plüschviren in das Feld des Niedlichen im Sinne Ngais einordnen. In ihrer einführenden Beobachtung zum Phänomen spricht Ngai davon, Hannah Arendt zitierend, dass niedliche Objekte über einen »infectious charm«108 verfügen. Sie betont ebenfalls die übersteigerte Passivität der Objekte, die sich durch detailarme Formen auszeichnen, was der Gestalt des echten Virus entspricht.109 Als Plüschfigur fehlen dem Virus Extremitäten, was den imaginären Aktionsradius des Objekts weiter einschränkt und zu einer gewissen Hilflosigkeit führt, »cuteness is not just an aestheticization but an eroticization of powerlessness, evoking tenderness for ›small things‹ but also, sometimes, a desire to belittle or diminish them further.«110
In Aufsätzen zu den GIANTmicrobes wird genau diese Eigenschaft des Hilflosen, die Weichheit und Quetschbarkeit des Plüschs, als »soft and squishy«111 gelobt. Die beabsichtigte Passivität der Objekte wird im Feld der künstlerischen weichen Skulptur wiederum von Claes Oldenburg hervorgehoben, wenn er sagt, dass man weiche Objekte besser hin und her schieben und so ihre Mobilität kontrollieren könne: »If you’re going to make sculpture out of real things around you, then why not try to make them soft so that you can push them around, and they’ll change shape?«112
Die in der Cute-Debatte hervorgehobene Bedeutung einer Ästhetik des Kleinen und eher Unbedeutenden zeigt sich auch in der anthropologischen Deutung der alltäglichen Dinge von Daniel Miller in
»[things] work by being invisible and unremarked upon, a state they usually achieve by being familiar and taken for granted. Such a perspective seems properly described as material culture since it implies that much of what makes us what we are exists, not through our consciousness or body, but as an exterior environment that habituates and prompts us.« (Miller 2010, S. 50 f.)
Etwas später betont Miller den enormen kulturellen Einfluss, den diese bescheidenen Dinge auf unsere Kultur ausüben. Sie sind...