E-Book, Deutsch, 272 Seiten, Format (B × H): 115 mm x 185 mm
Reihe: Gatsby
E-Book, Deutsch, 272 Seiten, Format (B × H): 115 mm x 185 mm
Reihe: Gatsby
ISBN: 978-3-311-70245-0
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Weitere Infos & Material
Erster Teil
›Ganz wie in alten Zeiten‹, sagt das Zimmer. ›Ja? Nein?‹ Da sind zwei Betten, ein großes für Madame und gegenüber ein kleineres für Monsieur. Das Waschbecken ist durch einen Vorhang verdeckt. Es ist ein großes Zimmer, und es riecht nur schwach, fast unmerklich, nach billigem Hotel. Die Straße draußen ist schmal, mit Kopfsteinen gepflastert, sie führt steil bergauf und endet in einer Treppe. Sie nennen das impasse. Fünf Tage bin ich jetzt hier. Ich habe mir ein Lokal fürs Mittagessen ausgesucht, ein anderes fürs Abendessen, ein drittes für den Drink nach dem Abendessen. Ich habe mir mein kleines Leben eingerichtet. Das Lokal, in dem ich meinen Drink nach dem Essen nehme … Halt, da muss ich vorsichtig sein. Diese Dinge sind sehr wichtig. Gestern Abend zum Beispiel. Gestern Abend war eine Katastrophe … Die Frau am Nebentisch fing ein Gespräch mit mir an – eine dunkle, magere Frau von etwa vierzig Jahren, sehr gut zurechtgemacht. Sie hatte die Noten eines Liedes bei sich, und sie hatte es leise vor sich hin gesummt, während sie mit den Fingern den Takt klopfte. »Ein hübsches Lied.« »Ah, ja, aber es ist ein trauriges Lied. Gloomy Sunday.« Sie lachte leise. »Ein bisschen traurig.« Sie warte auf ihren Freund, sagte sie mir. Der Freund kam – ein Amerikaner. Er bestellte mir noch einen Brandy mit Soda, und während ich ihn trank, fing ich an zu weinen. Ich sagte: »Ich musste an etwas denken.« Die Dunkle setzte sich sehr gerade hin und drückte die Brust heraus. »Ich verstehe«, sagte sie, »ich verstehe. Trotzdem … Ich bin manchmal genauso unglücklich wie Sie. Aber das heißt nicht, dass ich es alle Leute merken lasse.« Da ich nicht aufhören konnte zu weinen, ging ich hinunter in die Damentoilette. Eine Toilette wie so viele, und zum Glück ganz leer. Die Toilettenfrau saß draußen neben dem Telefon und unterhielt sich mit einem Mädchen. Da stand ich nun und starrte mein Spiegelbild an. Habe ich denn Grund zum Weinen? … Ganz im Gegenteil, gerade wenn ich ganz vernünftig bin wie jetzt, wenn ich ein paar Glas mehr getrunken habe und ganz vernünftig bin, dann wird mir klar, was ich für ein Glück hatte. Gerettet, geborgen, halb ertrunken herausgefischt aus dem tiefen, dunklen Fluss, trockene Kleider, das Haar gewaschen und frisiert. Niemand käme auf den Gedanken, dass ich je darin war. Nur, dass natürlich immer etwas bleibt. Ja, es bleibt immer etwas … Trotzdem, hier bin ich, gesund und trocken, ich habe mein Zimmer zum Verstecken. Was will ich mehr? … Ein wenig bin ich wie ein Automat, aber durchaus bei Verstand – trocken, kalt und bei Verstand. Die dunklen Straßen und die dunklen Flüsse, den Schmerz, den Kampf und das Ertrinken habe ich vergessen. Wohlgemerkt, ich spreche nicht von dem Kampf, den man besteht, wenn man stark ist und ein guter Schwimmer, wenn Freunde hilfsbereit und eifrig am Ufer darauf warten, dich beim ersten Anzeichen von Erschöpfung herauszuziehen. Ich spreche vom Ernstfall. Du springst hinein, ohne dass hilfsbereite und eifrige Freunde in der Nähe sind, und wenn du untergehst, hörst du die anderen laut lachen. Damentoiletten … Wie wär’s mit einer Abhandlung über Damentoiletten – Toiletten – Damen? … Eine Londoner Toilette in schwarzem und weißem Marmor, fünfzehn Frauen stehen Schlange, jede hält ihren Penny fest in der Hand, und keine bringt den Mut auf auszuscheren und an der streng blickenden Wärterin vorbeizustürzen. Das nenne ich Disziplin … Die Toilette in Florenz und das bildhübsche, phantastisch gekleidete Mädchen, das hereinstürmte, die Toilettenfrau zärtlich küsste und umarmte und sie mit Gebäck aus einer Tüte fütterte. Die Tochter Tänzerin? … Die gemütliche kleine Damentoilette in Paris, wo man bei der Aufwärterin Rauschgift bekommen konnte – Pflaster auf wunde Herzen. Als ich wieder nach oben kam, waren der Amerikaner und seine Freundin gegangen. »Ich musste an etwas denken«, sagte ich zu dem Kellner, und er sah mich verständnislos an, machte sich nicht einmal die Mühe, über mich zu lachen. Sein Gesicht war reglos, ohne jeden Ausdruck. Das war gestern Abend. Ich liege wach, denke an gestern und an das Geld, das Sidonie mir geliehen hat, und wie sie sagte: »Ich kann’s nicht ertragen, dich so zu sehen.« Mit halb geschlossenen Augen und jenem Lächeln, das bedeutet: Sie fängt an, alt auszusehen. Sie trinkt. »Wir beide kennen uns schon so lange, Sasha«, sagte sie. »Wir brauchen uns doch nichts vorzumachen.« Ich war gerade heimgekommen von meinem kleinen Verdauungsspaziergang rund um den Mecklenburgh Square und durch die Gray’s Inn Road. Ich hatte nur dies angeschaut, ich hatte nur jenes angeschaut, ich hatte die Leute auf der Straße angeschaut und ein Schaufenster voller künstlicher Gliedmaßen. Nun kam ich heim zu jemandem, der sagte: »Ich kann’s nicht ertragen, dich so zu sehen.« »Wie denn?«, sagte ich. »Ich glaube, du brauchst eine Veränderung. Warum gehst du nicht wieder mal ein Weilchen nach Paris? … Du könntest dir ein paar neue Kleider kaufen – die brauchst du wirklich … Ich werde dir das Geld borgen«, sagte sie. »Nächste Woche bin ich dort, ich könnte dir ein Zimmer besorgen, wenn’s dir recht ist.« Et cetera, et cetera … Ich hatte diese Frau seit Monaten nicht gesehen, und nun fiel sie plötzlich über mich her … Hier bin ich also. Wenn man kalt und sehr vernünftig geworden ist, wird man auch sehr willenlos. (Warum sich den Kopf zerbrechen, warum?) Ich kann nicht schlafen. Wälze mich hin und her … War es 1923 oder 1924, als wir hier um die Ecke in der Rue Victor Cousin wohnten und Enno mir die Kosakenmütze und den Mantel aus falschem Astrachan kaufte? Damals fing ich an, mich Sasha zu nennen. Ich dachte, es brächte mir vielleicht Glück, wenn ich meinen Namen änderte. Hat es mir Glück gebracht, frage ich mich – dass ich mich Sasha nenne? War es 1926 oder 1927? Ich mache das Licht an. Die Flasche Evian auf dem Nachttisch, das Röhrchen Luminal, die zwei Bücher, die Uhr, die auf dem Sims tickt, die roten Vorhänge … Ich sehe Sidonie vor mir, wie sie mit Bedacht gerade ein solches Hotel aussucht. Sie stellt sich vor, das sei meine Atmosphäre. Lieber Gott, wenn man sich’s recht überlegt, ist es eine Beleidigung. Wieder dunkle Zimmer, wieder rote Vorhänge … Aber man darf nicht alles auf die gleiche Stufe stellen. Das sagt sie doch immer. Und man darf auch nicht alle Menschen auf die gleiche Stufe stellen. Natürlich nicht. Und das hier ist eben meine Stufe … Quatrième à gauche, und passen Sie auf, dass Sie nicht über das Loch im Teppich stolpern. Das bin ich. Es sind ein paar schwarze Flecke auf der Wand. Ich starre sie an und bin überzeugt, dass sie sich bewegen. Nun, ich sollte doch inzwischen über ein paar Wanzen hinwegsehen können. ›Il ne faut pas mettre tout sur le même plan …‹ Ich stehe auf und sehe nach. Nur Schmutzspritzer. Es ist ja auch gar nicht die Jahreszeit für Wanzen. Ich nehme noch etwas Luminal, mache das Licht aus und schlafe sofort ein. Ich bin im Durchgang einer U-Bahn-Station in London; vor mir sind viele Leute, hinter mir sind viele Leute. Überall hängen Plakate, auf denen in roten Buchstaben gedruckt steht: Zur Ausstellung – geradeaus. Zur Ausstellung – geradeaus. Aber ich suche nicht den Weg zur Ausstellung – ich suche den Weg hinaus. Ich sehe Gänge nach rechts und Gänge nach links, aber nirgends steht ›Ausgang‹. Überall zeigen die Finger und verkünden die Plakate: Zur Ausstellung – geradeaus … Ich berühre den Mann, der vor mir geht, an der Schulter, ich sage: ›Ich suche den Ausgang.‹ Aber er deutet auf die Plakate, und seine Hand ist aus Stahl. Ich gehe mit gesenktem Kopf weiter, sehr beschämt, und denke: ›Das sieht mir wieder ähnlich – immer will ich anders sein als andere Leute.‹ Der Stahlfinger zeigt auf einen langen steinernen Gang. Geradeaus – Geradeaus – Geradeaus – Zur Ausstellung … Jetzt redet ein kleiner bärtiger Mann mit Stupsnase in einem langen weißen Nachthemd ernsthaft auf mich ein. ›Ich bin dein Vater‹, sagt er. ›Denk daran, dass ich dein Vater bin.‹ Aber aus einer Wunde in seiner Stirn fließt Blut. ›Mord‹, schreit er, ›Mord, Mord.‹ Hilflos sehe ich zu, wie das Blut fließt. Schließlich befreit sich meine Stimme aus meiner Brust. Auch ich schreie: ›Mord, Mord, Hilfe, Hilfe‹, und die Schreie erfüllen das Zimmer. Ich wache auf, und draußen auf der Straße singt ein Mann den Walzer aus Les Saltimbanques. »C’est l’amour, qui flotte dans l’air à la ronde«, singt er. Ich glaube, es ist schön draußen, aber es ist so schummrig in diesem Zimmer, dass man es nicht genau wissen kann. Draußen auf dem Flur sieht man überhaupt nichts, wenn das elektrische Licht nicht brennt. Es ist ein geräumiger Flur, der von morgens bis abends voller Besen und Eimer, Haufen schmutziger Bettwäsche und so weiter ist – Strandgut der pompösen unteren Stockwerke. Der Mann, der das Zimmer neben mir hat, spreizt sich wie üblich in seinem weißen Morgenrock. Lungert da herum. Er ist wie der Geist dieses Flurs. Immer laufe ich ihm in die Arme. Er ist dürr wie ein Gerippe. Er hat ein...