E-Book, Deutsch, 480 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Rhodes In tödlicher Stille
18001. Auflage 2018
ISBN: 978-3-8437-1695-6
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kriminalroman
E-Book, Deutsch, 480 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-1695-6
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kate Rhodes wurde 1964 in London geboren. Sie ist promovierte Literaturwissenschaftlerin und lehrte jahrelang an amerikanischen und britischen Universitäten. Für ihre Lyrik wird sie von der Presse hoch gelobt und erhält regelmäßig Preise. Sie lebt in Cambridge, am Ufer des Flusses, für dessen Erkundung sie sich extra ein Kanu zugelegt hat. Ihre Serie um die Kriminalpsychologin Alice Quentin ist eine der größten Entdeckungen im englischen Kriminalroman.
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2
Montag, 13. Oktober
In der Stadt roch es nach Lagerfeuern und faulendem Laub. Um acht Uhr früh Mitte Oktober war die Luft kalt genug, dass mein Atem Wölkchen vor meinem Mund bildete, als ich die Carlton Street entlangging, auf der die anderen Fußgänger stramm marschierten, um sich warm zu halten. Mir war mulmig bei der Vorstellung, mein erstes Teammeeting in der Rechtspsychologie zu leiten. Vor anderen zu sprechen war für mich immer mit an Panik grenzender Aufregung verbunden. Obwohl ich eine jahrelange psychologische Ausbildung hinter mir hatte, rechnete ich immer noch damit, dass meine ganze Professionalität wie weggeblasen war, sobald ich einer Menschenansammlung gegenüberstand.
Ich hatte mein Outfit mit ungewöhnlicher Sorgfalt ausgesucht: ein dunkelgraues Kleid von Jigsaw, schlichte hochhackige Stiefel, hochgesteckte Haare. Das Ensemble entsprach eher der strengen Version von schick, doch ich hatte es mit einem unverschämt teuren Hermès-Schal aufgelockert. Auftritte im Karrierelook waren ein Trick, den ich schon seit Jahren anwandte. Mit einer Körpergröße von einem Meter fünfzig, blonden Haaren und fünfundvierzig Kilo war ich leicht zu übersehen. Obwohl ich vierunddreißig war, behandelten mich Fremde nicht selten wie ein Kind.
Als ich auf der Dacre Street ankam, zog ich meinen iPod aus der Tasche, aus dem Scott Matthews’ sanfte Stimme mich beruhigte. Der große Brownstone, in dem sich die Rechtspsychologie der Metropolitan Police befand, war so unauffällig, dass man ihn kaum wahrnahm. Er sah aus wie jedes andere schicke Wohnhaus in St James’s Park. Nichts wies darauf hin, dass dort zwölf Psychologen damit beschäftigt waren, die schlimmsten Morde, Vergewaltigungen und Fälle organisierten Verbrechens des Landes zu lösen.
Die Frau am Empfang schenkte mir ein mitfühlendes Lächeln. Es war kein Geheimnis, dass einige der älteren Kollegen gegen meine Ernennung gewesen waren. Jahrzehntelang war die Leitung der Rechtspsychologie mit Christine Jenkins an der Spitze unverändert geblieben. Christine hatte einen Weltklasseruf, folgte jedoch ihren eigenen mysteriösen Regeln. In so einem geschlossenen System war jeder Neuling eine potenzielle Bedrohung des Status quo.
Als ich die Treppe erklomm, schlug mir der eigentümliche Geruch des Gebäudes entgegen: Möbelpolitur, Staub und Geheimnisse. Der Teppich auf den Gängen war abgewetzt, und an den Wänden hingen Fotografien der Pioniere aus den glücklichen Zeiten der Psychoanalyse: Carl Jung, Freud, Melanie Klein. Am liebsten hätte ich das gesamte Gebäude entkernt und jedes einzelne Fenster vergrößert, damit mehr Licht hereinfiel, aber diese Möglichkeit hatte ich nicht. Mein Büro war ein kleines, an das Großraumbüro der anderen Mitarbeiter angrenzendes Vorzimmer, doch ich war stolz auf meinen neuen Titel an der Tür: »Stellvertretende Leiterin«. Für die meisten forensischen Psychologen war die Rechtspsychologie der Met so etwas wie der Heilige Gral. Hier tat man an führender Stelle der Kriminalpsychologie Dienst, und das mit der neuesten Software des Innenministeriums.
Ich sah gerade ein letztes Mal die Tagesordnung durch, als es an meine Tür klopfte. Ohne meine Antwort abzuwarten, kam meine Chefin herein. Christine sah dünner als sonst, als wäre sie zu oft im Fitnessstudio gewesen. Ihre akkurate Bobfrisur passte zu ihrem nüchtern eleganten Outfit: schwarze Hose, weiße Seidenbluse, dezente Perlenohrringe.
»Bereit für den Ring, Alice?«
»Mehr oder weniger.«
»Lassen Sie uns nachher bei Enzo einen Kaffee trinken, dann feiern wir Ihren neuen Posten. Ich muss auch noch etwas mit Ihnen besprechen.«
Diese Art von kryptischer Ankündigung war typisch für Christine, bei der jeder Satz ein zweischneidiges Schwert sein konnte. Wir kannten uns seit einem Jahr, und ich war mittlerweile davon überzeugt, dass sie ihre Berufung verfehlt hatte – mit ihrer geheimnisvollen Aura hätte sie die perfekte Spionin abgegeben.
Zwanzig Kollegen saßen im Besprechungsraum um den großen Tisch versammelt. Mein Mund war wie ausgetrocknet; der Großteil der Psychologen hier war international anerkannt, und im Schnitt waren sie fünfzehn Jahre älter als ich. Einzig Mike Donnelly, der mit seinen weißen Haaren, dem Rauschebart und der stämmigen Statur aussah wie der Weihnachtsmann, bedachte mich mit einem Lächeln. Außer Christine war der unerschütterliche Ire auch der einzige Kollege gewesen, der mir zu meiner neuen Stelle gratuliert hatte.
Mein erster Tagesordnungspunkt wurde schweigend aufgenommen, doch trotz der steifen Atmosphäre trugen die meisten etwas zur Diskussion bei. Ich bemühte mich um eine ungezwungene Stimmung und versuchte sogar einen Witz über die Launen der Psychologie. Am Ende sahen die meisten meiner Kollegen erleichtert aus, doch als sie den Raum verließen, entdeckte ich mehr lächelnde Gesichter, als ich erwartet hätte. Nur eine Kollegin verweilte noch einen Augenblick. Joy Anderson hatte seit meiner Ernennung kaum ein Wort mit mir gewechselt. Sie trug eine üppig verzierte hochgeschlossene Bluse, ihre Miene war eine Mischung aus Trübsal und Feindseligkeit, und sie hatte sich die langen grauen Haare streng aus dem Gesicht gebunden.
»Ich war nicht da, als man Sie ernannt hat, Dr. Quentin. Ich hoffe, es wird Ihnen bei uns gefallen. Leider weiß ich gar nichts über Ihren beruflichen Hintergrund.«
»Vielen Dank für den Empfang«, sagte ich mit einem Lächeln. »Meine letzte Stelle war am Guy’s Hospital. Ich habe zu gewalttätigen Persönlichkeitsstörungen und Psychopathologie in der Kindheit geforscht.«
»Und Sie haben an einigen Fällen von großem öffentlichen Interesse mitgearbeitet?«
»Vier erfolgreiche Morduntersuchungen. Warum kommen Sie nicht mal nachmittags bei mir im Büro vorbei, dann können wir uns ein wenig unterhalten. Ich würde gern mehr über Ihr Forschungsgebiet erfahren.«
Dr. Anderson wich meinem Blick nicht aus. »Verzeihen Sie, dass ich es so sage, aber Sie scheinen mir noch recht unerfahren, um eine so komplexe Einrichtung zu leiten.«
»Die Leiterin ist immer noch Christine. Als ihre Stellvertreterin kümmere ich mich um die Zuweisung von Fällen und Mitteln. Jetzt sollte ich Sie aber zurück an Ihre Arbeit gehen lassen. Und vereinbaren Sie gern einen Termin für ein längeres Gespräch, wenn Sie die Zeit dafür haben.«
Sie nickte knapp und verließ den Raum. Auf dem Flur standen die Mitarbeiter noch in Grüppchen zusammen und plauderten. Sie wirkten wie eine über die Zeit zu einer Einheit verschmolzene Gruppe. Es könnte Monate dauern, bis ich ihre Abwehr durchbrochen hatte. Ich kehrte in mein Büro zurück, doch niemand klopfte an die Tür, während ich mich mit meinem neuen Computer anzufreunden versuchte.
Bei Enzo war es menschenleer, als ich um elf dort eintraf. Schon von Weitem konnte ich Christines Anspannung daran erkennen, wie sie die Schultern hochzog, während sie in einen Bericht vertieft dasaß. Als ich bei ihr war, schlug sie die Mappe abrupt zu, und ihr Lächeln war professionell kühl. Ich war immer noch nicht sicher, ob unter all dem sang-froid auch ein Mensch steckte.
»Dr. Anderson ist nicht gerade ein Fan von mir, oder?«
»Joy mag einfach keine Veränderungen, das ist alles. Das wird schon.«
»Hoffentlich lässt sie sich nicht zu lange Zeit damit. Sie machen doch sonst nie Pause, Christine, es geht wohl um etwas Wichtiges.«
»Hier können wir ungestört reden. Bestellen wir, dann erkläre ich es Ihnen.«
Informelle Gespräche verunsicherten sie offensichtlich. Unsere Unterhaltungen blieben immer im strikt professionellen Rahmen, sodass ich keine Ahnung hatte, ob Christine allein oder mit jemandem zusammenlebte. Tiefes Schweigen hatte sich zwischen uns ausgebreitet, als endlich unsere Getränke kamen. Christine nippte an ihrem Espresso, während ich darauf wartete, dass sie mir verkündete, sie habe einen Verdienstorden bekommen oder sei ins Innenministerium befördert worden. Stattdessen schob sie mir einen Schnellhefter über den Tisch zu.
»Ich will, dass Sie diesen Fall übernehmen, Alice.«
Ich überflog die erste Seite. »Die Angelegenheit ist doch landesweit in den Nachrichten. Die Frau ist am Wochenende mit ihrem Sohn laufen gegangen und nicht nach Hause gekommen.«
»Wer auch immer sie entführt hat, hat eine Blutprobe von ihr vor ein Bürogebäude gelegt. Das Blut war in einem Plasmabeutel aus dem Krankenhaus und mit ihrem Namen beschriftet.«
»Wo ist der Junge?«
»Ein psychiatrischer Krankenpfleger kümmert sich um ihn in einem sicheren Versteck. Sie sollen in dem Fall beraten und die Betreuung des Jungen beaufsichtigen. Er hat noch kein Wort gesagt, seitdem die Polizei ihn vor zwei Tagen aufgelesen hat.«
»Das überrascht mich nicht. Es verschlüge den meisten Kindern die Sprache, wenn sie sähen, wie ihre Mutter entführt wird.« Ich sah zu Christine auf. »Habe ich eine Wahl?«
Sie zog die Augenbrauen hoch. »Es war schon ein anderer Therapeut bei ihm, aber der Junge ist auf ihn losgegangen.«
»Schlimm?«
»Nur ein paar blaue Flecken. Wahrscheinlich hat er um sich geschlagen, um zu zeigen, dass er noch nicht bereit ist zu reden.«
»Mike Donnelly hat doch viel mehr Erfahrung mit verhaltensgestörten Kindern. Warum fragen Sie nicht ihn?«
»Es muss eine weibliche Therapeutin sein; der Junge steht seiner Mutter sehr nahe. Er hat keine männlichen Verwandten, und Sie haben Erfahrung mit traumatisierten Kindern. Wir brauchen die Fakten, bevor er sie vergisst. Sie könnten mit im Versteck wohnen,...